EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)

Robert Döpp
Jenaplan-PĂ€dagogik im Nationalsozialismus
Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit
MĂŒnster, Hamburg, London: LIT Verlag 2003
(746 Seiten; ISBN 3-8258-6496-0; 49,90 EUR)
Jenaplan-PĂ€dagogik im Nationalsozialismus Das VerhĂ€ltnis von ReformpĂ€dagogik und Nationalsozialismus wird in der historischen Bildungsforschung seit einiger Zeit wieder intensiver diskutiert. Unbestritten ist inzwischen die Tatsache, dass es ReformpĂ€dagogik im Nationalsozialismus gab. Weiterhin offen ist dagegen noch die Frage, welche rezeptionsgeschichtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben. WĂ€hrend die Ă€ltere Forschung zur ReformpĂ€dagogik gerne mit griffigen Formeln arbeitete und das VerhĂ€ltnis von ReformpĂ€dagogik und Nationalsozialismus entweder als unvereinbar oder als ideologisch bzw. ideengeschichtlich zusammengehörig bestimmte, haben seit Anfang der 1990er Jahre wiederholt regional- oder lokalgeschichtliche, biographische oder schulhistorische Arbeiten zum pĂ€dagogisch wie politisch heterogenen PhĂ€nomen ReformpĂ€dagogik gezeigt, dass sich die realhistorische Gemengelage weit komplexer darstellt, sobald man sich von der Ebene der pĂ€dagogischen Programmatik ab- und der Ebene des pĂ€dagogischen Alltags zuwendet. Den Ansatz einer – spezifisch verstandenen – Alltagsgeschichte verfolgt auch Robert Döpp in seiner Hannoveraner Dissertation zur Jenaplan-PĂ€dagogik im Nationalsozialismus. Die Ambivalenzen des Themas und seine eigenen frĂŒheren Irritationen aufgreifend, versteht er seine Arbeit als Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit.

Ist aber nicht Peter Petersens VerhĂ€ltnis zum Nationalsozialismus inzwischen hinlĂ€nglich geklĂ€rt? Können ĂŒberhaupt noch neue Sachverhalte recherchiert werden? Und ist es letztlich nicht nur eine Frage des Standpunktes des Interpreten, welche NĂ€he oder welche Distanz man der PĂ€dagogik Petersens zum Nationalsozialismus unterstellt? Verfolgt man die seit nunmehr beinahe zwanzig Jahren anhaltende Petersen-Debatte, so könnte man meinen, dass es mĂŒĂŸig sei, der Diskussion ein weiteres Buch ĂŒber die Jenaplan-PĂ€dagogik im Nationalsozialismus hinzuzufĂŒgen, offenbart doch bereits die 1996 von Hein Retter vorgelegte Quellenedition[1] das ambivalente VerhĂ€ltnis Petersens und des Jenaplans zum Nationalsozialismus. Doch genau diese Debatten sind es, die Döpp zum Anlass seiner Untersuchung nimmt. Der Forschungsgegenstand sei durch eine "zunehmende Partikularisierung" (20) gekennzeichnet, was sich – mit Ausnahme der Veröffentlichungen von Retter – in den einseitig werkimmanenten oder einseitig biographischen Arbeiten zu Petersen spiegele. Insofern will Döpp nicht neu erschlossene Quellen oder weitere biographische Details in die Debatte einbringen – obwohl er z.B. mit dem Nachlass seines Großvaters, des Petersen-SchĂŒlers Heinrich Döpp-Vorwald auch dies tut –, sondern nichts weniger als eine "schlĂŒssige Gesamtinterpretation von Petersens ‚erziehungswissenschaftlichem’ Ansatz" (27) vorlegen. Herausgekommen ist dabei eine 764 Seiten umfassende, solide recherchierte, differenziert und quellenorientiert argumentierende, gesellschaftlich verankerte Analyse des Werkes, des pĂ€dagogischen Diskurses sowie z.T. der pĂ€dagogischen Biographie Petersens und seiner Mitstreiter.

Ausgehend von der bisherigen Forschungslage und der Quellenproblematik untersucht Döpp die Jenaplan-PĂ€dagogik im Nationalsozialismus in fĂŒnf chronologisch angelegten Kapiteln: Der Jenaplan bis 1930: ‚Erziehungswissenschaft’ als politisch-pĂ€dagogisches Programm (2), Der Jenaplan nach 1930: der Weg in den Nationalsozialismus (3), Der Jenaplan nach 1933: Petersens Konzept im ‚totalitĂ€ren Pluralismus’ der nationalsozialistischen Gesellschaft (4), Der Jenaplan zwischen 1938 und 1945: ‚Kulturkritik’ und ‚Erziehungswissenschaft’ als Angebot ‚professioneller Problemlösung’ (5) und schließlich fragt er im letzten Hauptkapitel: Der Jenaplan nach 1945: Verarbeitungsformen der NS-Erfahrung (6) nach den theoretischen Konsequenzen der zuvor entfalteten Geschichte des Jenaplans in der NS-Zeit fĂŒr Petersens PĂ€dagogik. Eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse und ein Quellenverzeichnis schließen die Arbeit ab, der angesichts des Umfangs ein erschließendes Register durchaus gut getan hĂ€tte. Nutzerfreundlich sind dagegen die immer wieder zusammengefassten Zwischenergebnisse.

Döpp versteht seine Untersuchung als "LehrstĂŒck fĂŒr die Auseinandersetzung (reform-)pĂ€dagogischer Theoriebildung mit dem PhĂ€nomen Nationalsozialismus" (17). Dabei gehe es ihm in erster Linie nicht um die Person Peter Petersen, sondern um eine reformpĂ€dagogische Gesamtkonzeption, den Jenaplan nĂ€mlich. Döpp will zeigen, wie Petersen auf dieser Basis "theoretisch und praktisch, zeitgenössisch und nachtrĂ€glich die Herausforderungen des Nationalsozialismus umsetzte" (17). Eine moralische Urteilsfindung schließt er dabei ausdrĂŒcklich aus (18). Vielmehr solle der mikrohistorische Ansatz der Arbeit zeigen, "wie sich die nationalsozialistische Herrschaft aus der (biographischen) ‚Binnenperspektive’ darstellte" (19). Damit lehnt sich Döpp mit seinem Fallbeispiel methodisch an die bekannte Perspektive der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus an und deutet den Nationalsozialismus folgerichtig als polykratisches Herrschaftssystem mit einem gewissen totalitĂ€ren Pluralismus bzw. autoritĂ€rer Anarchie (384). Hat sich diese Perspektive in der bildungshistorischen Forschung zum Nationalsozialismus inzwischen zunehmend durchgesetzt, so scheint – laut Döpp – die Petersen-Forschung immer noch maßgeblich geprĂ€gt zu sein von totalitarismus-theoretischen Interpretationsmustern. So nachvollziehbar und ĂŒberzeugend seine methodischen AusfĂŒhrungen auch sind, so verwunderlich ist es, dass der Leser erst zu Beginn des vierten Kapitels mit ihnen konfrontiert wird (376ff).

Wenn Döpp im zweiten Kapitel detailreich nachweist, dass Petersens theoretische Konzeption des Jenaplans bzw. seiner Erziehungswissenschaft sich aus irrationaler Kulturkritik bzw. -philosophie, Metaphysik und einer ‚naiv-harmonistischen‘, Synthese und nicht Differenz erwartenden Weltsicht speiste, die einzig und allein im Begriff der Gemeinschaft resp. – politisch gewendet – der Volksgemeinschaft gipfelte und damit ihren totalitĂ€ren Charakter enthĂŒllte (169), so verifiziert dies durchaus frĂŒhere Werkinterpretationen. Nun geht Döpp jedoch einen Schritt weiter und behauptet, dass sich dieser totalitĂ€re Charakter des Gemeinschaftsbegriffes nicht nur in der zugrundeliegenden Theorie, sondern auch in der Praxis des Jenaplans finden lasse. Diesen Beweis – um es bereits vorweg zu nehmen – bleibt Döpp indes schuldig.

Ebenso kenntnis- wie detailreich werden im dritten Kapitel die BemĂŒhungen Petersens und seiner Mitstreiter um die Verbreitung des Jenaplans bzw. ihrer bildungspolitischen ReformbemĂŒhungen im Übergang zur NS-Zeit diskutiert und vor allem auch die Schulumstellungen nach dem Jenaplan in der Provinz Brandenburg sowie in Westfalen – und damit auch im Kontext der zeitgenössischen Landschulreformdebatte – analysiert. Bereits hier zeigt sich der ambivalente Charakter dieser BemĂŒhungen: WĂ€hrend in der Provinz Brandenburg die Versuche mit dem Jenaplan bereits 1933 aufgrund der (sozial-)demokratischen Orientierung der örtlichen Hauptvertreter der Reform wieder eingestellt wurden, erfuhr die Reform in Westfalen bis 1935 weiterhin eine große Verbreitung (45 Schulen im April 1935), die bei Petersen und seinen Mitstreitern die Hoffnung nĂ€hrte, mit dem Jenaplan ein Konzept fĂŒr eine umfassende Reform der Volksschulen im Nationalsozialismus bereit zu halten – "ein kohĂ€rentes Reformkonzept mit weitgestecktem politisch-pĂ€dagogischem Gestaltungsanspruch" (375).

In diesem Zusammenhang fragt Döpp auch nach "Einfallstoren fĂŒr NS-Ideologeme" (264ff) in der pĂ€dagogischen Theorie Petersens und kommt durch begriffs-, ideologie- und ideengeschichtliche Analysen zu dem Ergebnis, dass sich im Zusammenhang mit dem Realismus-Begriff und auch durch den zunehmenden Bezug auf die Blut-und-Boden-Ideologie "eine völkische Radikalisierung seiner GrundĂŒberzeugungen" nachweisen lasse (372), was dazu fĂŒhrte, dass Petersen und seine AnhĂ€nger "den Nationalsozialismus als Verwirklichung der eigenen Ideale" interpretierten (373). Das ist fĂŒr das kulturkritische und konservativ orientierte Spektrum der ReformpĂ€dagogik weder neu noch ĂŒberraschend, lassen sich diese ZusammenhĂ€nge doch ebenso u.a. im Kreise der zeitgenössischen Landschulreformer nachweisen. Genau wie diese interpretierten Petersen und seine SchĂŒler den Nationalsozialismus eklektisch und "eigensinnig" (373), wodurch ihnen unterschiedliche Koalitionen zur Verfolgung ihrer eigenen Ziele ermöglicht wurden, da auf diese Weise ein hinreichender gemeinsamer Grundkonsens geschaffen worden war.

An dieser Stelle sind die Diskursanalysen Döpps sehr konstruktiv, zeigen sie doch ein wesentliches Element nationalsozialistischer Herrschaft, das nicht selten ausgeblendet wird. Das Überzeugende an diesem Teil der Untersuchung sind nĂ€mlich weniger der erneute Nachweis der Verbreitung des Jenaplans zu Beginn der NS-Zeit oder die ausfĂŒhrlichen Analysen zu den pĂ€dagogischen und ideologischen Grundlagen der Jenaplan-PĂ€dagogik als vielmehr die Tatsache, dass Döpp die HandlungsspielrĂ€ume des Petersen-Zirkels im NS-System auslotet, differenziert darstellt und dabei die Diskurs- und Argumentationsstrukturen ĂŒberzeugend analysiert und interpretiert. Im Ergebnis eröffnet sich eine, zwar nicht gĂ€nzlich neue, aber bildungshistorisch dennoch interessante und diskussionswĂŒrdige Perspektive: "Aus der Untersuchung der NS-internen ‚erziehungswissenschaftlichen’ Auseinandersetzungen, an denen Petersen und die Verfechter seiner Ideen beteiligt waren, [ergeben sich] AnsĂ€tze einer ‚ideologischen kumulativen Radikalisierungsdynamik’ als wesentliches Strukturmerkmal nationalsozialistischer Herrschaft: Konkurrierende Interpreten dessen, was als ‚nationalsozialistische Erziehung’ zu gelten habe, legten in ihrem BemĂŒhen, die eigenen Interessen durch ‚eindeutige’ Belege ihrer SystemloyalitĂ€t unangreifbar und möglichst konsensfĂ€hig zu halten, die NS-internen Kontroversen zunehmend auf die radikalsten VersatzstĂŒcke der NS Ideologie [...] fest und halfen so, die Voraussetzungen fĂŒr deren realgeschichtliche Verwirklichung zu schaffen." (467)

Das verdeutlicht zum einen die vorhandenen HandlungsspielrĂ€ume fĂŒr die Eigeninteressen der historischen Akteure, die eben nicht ausschließlich unter SystemzwĂ€ngen, sondern mit "missionarische[m] Eifer" (502) handelten, und verdeutlicht zum anderen darĂŒber hinaus die Mechanismen der Radikalisierung, die mit der Nutzung dieser HandlungsspielrĂ€ume gleichzeitig verbunden waren. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Petersen-Zirkel auch nach der ministeriellen Unterbindung der Ausbreitung des Jenaplans nach 1936 sich systematisch neue, alternative Handlungsfelder fĂŒr selbst gesetzte Ziele und Interessen erschloss und sich nicht – wie apologetisch gerne behauptet – in eine innere Emigration zurĂŒckzog (Kap. 5): u.a. Vortragsreisen im Ausland, Vorschul- und BerufspĂ€dagogik, positive Stellungnahmen zu den Reichsrichtlinien fĂŒr die Volks- und die höhere Schule, die reformpĂ€dagogische AnsĂ€tze – und diese Meinung teilten auch die zeitgenössischen Landschulreformer – aufzugreifen schienen, ja deren Kernstellen in Petersens Sicht sogar den Ergebnissen seiner PĂ€dagogischen Tatsachenforschung entsprechen wĂŒrden (532ff).

Trotz dieser im sachlichen Ergebnis ĂŒberzeugenden Diskursanalysen – die mitunter an zu vielen Details leiden und durch weitere Diskursexkurse den roten Faden des Erkenntnisinteresses zeitweise vermissen lassen – und trotz des methodischen Vorsatzes, nicht moralisch urteilen zu wollen, tappt Döpp angesichts dieser Ergebnisse dennoch wiederholt in die moralische Falle nachgĂ€ngiger Beurteilungen, spricht von der "fatale[n] Rolle" der Verfechter des Jenaplanes in den "pervertierten ‚erziehungswissenschaftlichen’ Kontroversen" (28, 695, auch 696, 698 und 699) bzw. den "pervertierten" nationalsozialistischen Diskursen (440) oder dem "erschreckendste[n] Beispiel dafĂŒr, wie sich Grundgedanken seiner [Petersens, JWL] Erziehungskonzeption mit den gefĂ€hrlichsten und abstoßendsten NS-Ideologemen vermengen ließen" (605).

Wird durch die Analysen der Jenaplan-PĂ€dagogik im Nationalsozialismus eindeutig die KontinuitĂ€tsthese in Bezug auf die ReformpĂ€dagogik Petersenscher PrĂ€gung belegt, so stellt sich rĂŒckblickend natĂŒrlich unweigerlich die Frage nach den daraus folgenden Konsequenzen und Verarbeitungsformen nach 1945 (Kap. 6). Auch hier belegen Döpps Untersuchungen KontinuitĂ€t statt Bruch. Biographisch ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch bei Petersen wie bei vielen seiner Zeitgenossen eine ‚VerdrĂ€ngungsstrategie‘ einsetzte. Dass er jedoch den Jenaplan bald auch in der SBZ/DDR als Modell praktischer Schulreform glaubte anbieten zu können, hĂ€ngt indes mit seiner grundsĂ€tzlichen Weigerung zusammen, theoretische Konsequenzen aus der Geschichte des Jenaplans wĂ€hrend der NS-Zeit zu ziehen. Vielmehr hielt er an der BegrĂŒndung des "alles entscheidenden SchlĂŒsselbegriff[s]" (697) seiner Theorie, der Gemeinschaft, unverrĂŒckbar fest. In seinen rĂŒckblickenden Interpretationen des Nationalsozialismus charakterisierte Petersen dieses System nunmehr – wider besseren Wissens – durchgĂ€ngig als totalitĂ€res, das seine eigenen HandlungsspielrĂ€ume eingeschrĂ€nkt und zudem als Teil der gegen die Gemeinschaft gerichteten Moderne seinen Gemeinschaftsbegriff kategorisch ausgeschlossen habe. Mit dieser Setzung war dann natĂŒrlich eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der eigenen Rolle in diesem System wie auch mit den theoretischen Grundlagen seiner PĂ€dagogik per definitionem obsolet geworden. VerdrĂ€ngung und Offenbarungsgewissheit ist zu konstatieren, nicht ein politisch-pĂ€dagogischer Lernprozess. Dabei wĂ€re eine konstruktive Debatte ĂŒber den Gemeinschaftsbegriff nicht nur notwendig, sondern pĂ€dagogisch auch sinnvoll gewesen, ist doch die Frage nach Gemeinschaftsformen pĂ€dagogisch-praktisch durchaus keine unwesentliche.

So ĂŒberzeugend die von Döpp vorgelegten Ergebnisse sind und so unbestritten die analysierten Diskurse auch zum Alltag im Nationalsozialismus gehörten, so wenig plausibel ist es, dass er gerade bei seinem Thema eine Analyseebene vernachlĂ€ssigt, die unzweifelhaft den Alltag des Jenaplans im Nationalsozialismus wesentlich bestimmte: den Schulalltag der Jenaplanschulen nĂ€mlich. Döpp argumentiert weitgehend auf der Ebene von pĂ€dagogischen Grundlagen, BildungsplĂ€nen, Diskursen, AbsichterklĂ€rungen und Vorstellungen und macht sich nur selten die MĂŒhe, in die Niederungen des pĂ€dagogischen Alltags hinabzusteigen, wo sich das VerhĂ€ltnis von ReformpĂ€dagogik und Nationalsozialismus gerade in seinen pĂ€dagogischen BezĂŒgen, in Form von Kompetenzen und Qualifikationen oder in Form der Verschiebung pĂ€dagogischer MaßstĂ€be und Inhalte diskutieren ließe. Welche Kompetenzen und Qualifikationen vermittelte eine nach dem Jenaplan umgestaltete Schule ihren SchĂŒlern im Vergleich zur Regelschule? Wie nationalsozialistisch und wie reformpĂ€dagogisch war der Unterrichtsalltag der Jenaplanschulen im Nationalsozialismus? Welche Konsequenzen lassen sich aus dieser reformpĂ€dagogischen Praxis fĂŒr die weitere schulpĂ€dagogische Rezeption der Jenaplan-PĂ€dagogik ableiten? Antworten auf diese Fragen bleibt auch die Arbeit von Döpp schuldig. Die verfĂŒgbaren Quellen, allein schon die in Retters Quellensammlung zum Jenaplan veröffentlichten, hĂ€tten indes einen genaueren Blick in die schulische Praxis des Jenaplans im Nationalsozialismus ermöglicht. Diese Quellen bezieht Döpp jedoch nur am Rande in die Analyse ein, etwa zur Feiergestaltung in der UniversitĂ€ts-Übungsschule (420ff) oder zu deren Stoffproblematik (425ff).

Insgesamt erschöpft sich die Analyse der Praxis der Jenaplanschulen weitgehend in der Nennung und Darstellung von pĂ€dagogischen Elementen des Jenaplans wie Schulgemeinde, Gruppensystem, gruppenunterrichtliches Verfahren, Stoffproblem, Schulwohnstube, Schulfeiern (Kap. 2.2.3), Wochenplanarbeit, Niveaugruppen etc. Bis zu den Arbeiten der Lehrer und SchĂŒler – und damit auch zur konkreten Umsetzung der Unterrichtsinhalte – dringt Döpp nicht vor. Mitunter bleibt er auch an Ă€ußeren Formen haften, etwa wenn er auf die in der UniversitĂ€tsĂŒbungsschule selbstverstĂ€ndlich hĂ€ngenden Bilder von Horst Wessel und Adolf Hitler oder das Absingen des Horst-Wessel-Liedes oder Fahnenappelle oder einen Vortrag Petersens in der Schulgemeinde hinweist und daraus folgert, dass formale Elemente nationalsozialistischer Formationserziehung auch in die Jenaer Übungsschule Eingang gefunden hĂ€tten (425). Gleichwohl könne man damit aber nicht eine "grundsĂ€tzliche Nazifizierung der UniversitĂ€tsschule" (429) belegen, mĂŒsse sie aber dennoch als nicht unbeeinflusst von ihrer nazifizierten Umwelt interpretieren. Selbstredend, denn auch die UniversitĂ€tsĂŒbungsschule existierte nicht in einer kontextfreien Nische. Aber allein aus diesen Formen kann man nicht schlĂŒssig folgern, dass sich der "totalitĂ€re Charakter des Gemeinschaftsbegriffes [...] in der Praxis des ‚Jena-Planes‘ fortsetzte" (169). Erst auf der Ebene des realisierten komplexen Unterrichtsgeschehens und der Reflexion der Praktiker lĂ€sst sich eruieren, wie nationalsozialistisch diese praktisch angewendete ReformpĂ€dagogik war.

Es ist durchaus irritierend, dass Döpp von der Konzeption des Jenaplans relativ unmittelbar auf die Schulpraxis schließt, etwa indem er nach Petersen der ‚Erziehung durch die Gemeinschaft‘ den ‚Unterricht‘ entgegenstellt und daraus eine "Ausblendung inhaltlichen Lernens" (143) schließt. Die Heranziehung anderer Quellengattungen hĂ€tte dieses Ergebnis differenzieren und korrigieren können, verwechselt Döpp doch hier die Rationalismus- und Vernunft-Debatte der ReformpĂ€dagogen mit der Inhaltsebene des tĂ€glichen Unterrichts. Doppelt irritierend ist es schließlich, wenn er wenig spĂ€ter selbst in Anlehnung an Blankertz zu bedenken gibt, dass sich zahlreiche didaktische Sachfragen gegenĂŒber obersten Sinnnormen durchaus indifferent verhalten (171). Das ist wohl unbestritten. Schließlich weist er dann im Kontext der Schulumstellungen in der Provinz Brandenburg sogar nach, dass "eher praktische als ideologische GrĂŒnde" (233) fĂŒr die Umstellung Ausschlag gebend gewesen seien. Insgesamt scheint dem ein verkĂŒrztes schulpĂ€dagogisches VerstĂ€ndnis zugrunde zu liegen, was sich auch in dem etwas schiefen Vergleich der Beurteilungspraxis in den Jenaplanschulen (Berichte statt Ziffernnoten) mit der totalen Erfassung der Personen in den Adolf-Hitler-Schulen zeigt (160). Dahinter stecken ganz andere schulpĂ€dagogische Überlegungen.

Döpps Untersuchung erbringt den erneuten Beweis, dass es ReformpĂ€dagogik im Nationalsozialismus gab. Den Anspruch einer schlĂŒssigen Gesamtinterpretation von Petersens ‚erziehungswissenschaftlichem’ Ansatz hat er auf der Ebene der gesellschaftlich verankerten Diskursanalysen ĂŒberzeugend eingelöst. Ein Desiderat bleibt jedoch weiterhin eine bildungshistorische Analyse des Schulalltages der Jenaplanschulen im NS-System. Erst in diesem Kontext lassen sich die Ambivalenzen der Jenaplan-PĂ€dagogik – und damit der ReformpĂ€dagogik – im Nationalsozialismus interpretieren. Insofern bleibt zu hoffen, dass auch die von Döpp vorgelegte Arbeit nicht die letzte war und sich noch Anschlussarbeiten ergeben, die vor dem Hintergrund der Döppschen Analysen die Unterrichtspraxis der Jenaplanschulen im Nationalsozialismus in den Blick nehmen. Denn der praktische "Erfolg", den Jenaplan-Schulen bis heute trotz der ideologischen Grundlagen dieser PĂ€dagogik haben, lĂ€sst sich auf der Ebene einer theoretisch orientierten Diskursanalyse kaum klĂ€ren und analysieren. Offen bleibt – vielleicht sogar deshalb – auch bei Döpp die Frage nach der Grenzziehung zur nationalsozialistischen Erziehungswissenschaft bzw. PĂ€dagogik – wie sie jĂŒngst Tenorth in einer Sammelbesprechung[2] wieder aufgeworfen hat. Döpp konstatiert Ambivalenz und Uneindeutigkeit. Die Ergebnisse seiner Arbeit zeigen nicht zuletzt sehr ĂŒberzeugend, dass es keineswegs ausreichend ist, die Verweise auf den nationalsozialistischen Rassismus zum Maßstab fĂŒr NĂ€he und Distanz zu machen (vgl. 375). Denn die ideologischen ParallelitĂ€ten und BĂŒndnisse mit dem Nationalsozialismus bzw. die ‚einseitigen AdaptionsbemĂŒhungen‘ (ebd.) der Petersen-PĂ€dagogik sind in anderen Bereichen deutlich genug. Also kann man auch hier durchaus von nationalsozialistischer ReformpĂ€dagogik sprechen und muss rezeptionsgeschichtlich wohl weiterhin mit den damit verbunden pĂ€dagogischen Ambivalenzen leben.

[1] Hein Retter (Hrsg.): Peter Petersen und der Jenaplan: Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Berichte – Briefe – Dokumente. Weinheim 1996.
[2] Heinz-Elmar Tenorth: Gefangen in der eigenen Tradition – Erziehungswissenschaft angesichts des Nationalsozialismus. Eine Sammelbesprechung neuerer Veröffentlichungen. In: Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik 49 (2003), 734-755.
Jörg-W. Link (Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg-W. Link: Rezension von: Döpp, Robert: Jenaplan-PĂ€dagogik im Nationalsozialismus, Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit, MĂŒnster, Hamburg, London: LIT Verlag 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/82586496.html