EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Michael Knoll
Beyond Rhetoric
New Perspectives on John Dewey’s Pedagogy
Bern et al.: Peter Lang 2022
(409 S.; ISBN 978-3-0343-4142-4; 81,95 EUR)
Beyond Rhetoric Das vorliegende Buch ist eine Art Summa der jahrelangen Forschung, welche Michael Knoll zu John Dewey und seinen reformpädagogischen Aktivitäten durchgeführt hat. Schon im einleitenden Zitat wird deutlich, dass Dewey nicht als der ultimative Reformer und als Jahrhundert-Erdbeben für Schule und Bildung(-spolitik) gesehen wird, sondern eher als Vulkanologe, der quasi die Stimmungen der Zeit richtig zu deuten wusste und dementsprechend ethische und bildungsreformbezogene Anliegen auch umzusetzen trachtete. Das zentrale Anliegen des Autors ist es, sich nicht durch die Reformrhetorik blenden zu lassen und statt unangebrachter Verklärung und Heroisierung, wie sie in der Dewey-Rezeption der deutsch- und englischsprachigen Erziehungswissenschaft vorherrsche, eine „neue Perspektive“ und Kritik gegenüber Dewey zu entwickeln.

Die in englischer Sprache edierte Publikation umfasst neun Kapitel, basierend auf Artikeln, die überwiegend aus früheren und nun überarbeiteten Veröffentlichungen entstanden sind. Lediglich Kapitel 3 „Theory versus Practice: The Laboratory School on Trial“ wurde speziell für diese Publikation verfasst. Auch Kapitel 1 („Deschooling the School”) und 2 („The Child and the Community”) , ebenso Kapitel 8 zum abrupten Ende des Reformprojekts wie Kapitel 9 zum pädagogischen Erbe der Deweys, John Deweys inklusive seiner Frau Alice und Tochter Evelyn, kreisen um die reformpädagogisch geprägte Laboratory School, die den Ausgangspunkt für die pädagogische Theoriebildung John Deweys bildete. Kapitel 4 zum Thema „Learning by Doing”, Kapitel 5 zur „sozialen Effizienz“ und Kapitel 7 im Zusammenhang mit Deweys Blick auf Maria Montessori umfassen weitere Themen, die Michael Knoll in diesem Band behandelt. Kapitel 6 wiederum ist das einzige, das auf eine schon etwas länger zurückliegende Veröffentlichung zurückgeht, nämlich auf die transatlantische Dewey-Kerschensteiner-Kontroverse im Hinblick auf den Aufbau eines beruflichen Bildungswesens in den USA. Dieser ursprünglich 1993 in der Pädagogischen Rundschau veröffentlichte Beitrag wurde erweitert und neu übersetzt. Michael Knoll stützt sich in allen Beiträgen in erster Linie auf eigene Archivarbeiten, lässt aber ebenso immer wieder zeitgenössische Kritiker und heutige amerikanische Bildungsforscher zu Wort kommen.

Das ausführliche dritte Kapitel stellt die Laboratory School als eine von mehreren US-amerikanischen progressiven Experimentalschulen vor. Vor Gericht („on trial”) halten nicht alle Versprechen und die ihr zugesprochenen Qualitäten den von Dewey selbst gesetzten Ansprüchen stand. Es bestand eine Diskrepanz zwischen hehrer pädagogisch-pragmatischer Zielsetzung und den praktischen Umsetzungen, die von den Lehrpersonen zu leisten waren. Dies lässt die Schule insgesamt als weit gewöhnlicher erscheinen, als erwartet, so das Fazit. Eine ähnliche Folgerung ergibt sich auch aus den beiden abschließenden Beiträgen: Kapitel 8, untertitelt mit „The Inglorious End of the Laboratory School”, geht auf alle Höhen und Tiefen während der kurzen Geschichte (1896-1904) dieser Experimentalschule ein. Das Experiment endete abrupt mit der Kündigung von John und Alice Dewey. Knoll bescheinigt dem Ehepaar autokratische Züge und fehlendes Fingerspitzengefühl im Umgang mit Vorgesetzten, Kolleginnen und Kollegen sowie Untergebenen. So sei die Übernahme neuer Tätigkeiten in New York (er als Philosophieprofessor und sie als in der Lehrpersonenbildung Engagierte) nach einem schnellen Abgang (bezeichnet als „hasty flight“, 307 ff.) nur folgerichtig gewesen. Dieser Befund relativiert auch, so weiter ausgeführt im letzten neunten Kapitel, den 1936 erschienen Bericht von Katherine C. Mayhew und Anna C. Edwards „The Dewey School”, welcher die Sicht auf dieses Unterfangen für zeitgenössische und nachfolgende Wahrnehmungen vorspurte und vieles beschönigt habe. Deren Hauptaussage, dass diese Schule die reformpädagogische Theorie John Deweys bestätigt und diese damit den praktischen Test bestanden habe, sei zwar als bildungspolitisches Signal bedeutsam gewesen, beruhe aber auf unbestätigten Fakten und verkürzten Darstellungen.

Neben dem dominanten Fokus auf die Laboratory School finden sich ebenso andere bedeutsame Thematiken in der vorliegenden Publikation. So widmet sich ein weiteres Kapitel dem John Dewey zugesprochenen Leitsatz „Learning by Doing”. Der Begriff taucht zwar in seinen Schriften gelegentlich auf, so etwa auch in seinem Hauptwerk „Democracy and Education“ (1916), sei aber für ihn nicht zentral gewesen. Eigentlich habe seine ebenso als Schulreformerin engagierte Tochter Evelyn den Begriff in die gemeinsame äußerst erfolgreiche Veröffentlichung „Schools for Tomorrow“ eingebracht. Erst als Kritik an seiner Vorstellung von Erziehung und Lernen aufkam, habe er versucht, dieses Konzept zu klären, allerdings mit wenig Erfolg. Auch hier bescheinigt Knoll der Erziehungswissenschaft mangelnde Sorgfalt und fehlendes Bemühen, die Entstehung des Konzepts (lange vor John Dewey) wie auch die globale Wirkungsgeschichte einer solchen Perspektive zu rekonstruieren. Ein kleineres Kapitel über die Begegnungen und Auseinandersetzung mit Maria Montessori von Seiten Johns, seiner Ehefrau Alice und Tochter Evelyn zeigt auf, dass John Dewey ursprünglich sehr positiv auf deren Pädagogik einging, ehe er sich unter dem Einfluss seines Kollegen und Schülers William H. Killpatrick im Verlauf der Zeit kritischer über Montessori äußerte; umgekehrt brachte Dewey Killpatrick dazu, Montessoris Position weniger harsch abzulehnen. Das in der Mitte der Publikation positionierte 6. Kapitel zeichnet eine in der damaligen Zeit virulente und bis heute bestehende Kontroverse nach, nämlich jene zwischen John Dewey und Georg Kerschensteiner. Während Dewey dafür einstand, berufliche Bildung vollständig den allgemeinbildenden Schulen anzuvertrauen, begründete Kerschensteiner berufliche Bildung in München erfolgreich als zur praktischen Ausbildung komplementäre Institution, das heißt als beruflich orientierte Fortbildungsschule. Die Reise Kerschensteiners in die USA im Jahre 1910, die mit einer Reihe von Vorträgen verknüpft war, verlief für ihn ebenso zufriedenstellend wie die herzliche Begegnung mit John Dewey in New York, wie Knoll darlegt. Aber das Idyll war trügerisch, denn im Kern vertraten sie konträre Positionen. Dewey befürchtete eine Stigmatisierung der Arbeiterschaft, sollte diese beruflich orientierten Spezialschulen zugewiesen werden. Dies würde dem Ziel der Demokratisierung der Gesellschaft entgegenstehen. Kerschensteiner wiederum baute auf ein Engagement der Industrie und des Handels. Das Münchner Modell fand in Amerika Anklang, was sich nicht zuletzt auch in den vielen Besuchen amerikanischer Bildungsreformer in Deutschland zeigte. Im Verlauf der Jahre und im Besonderen während des Ersten Weltkrieges kühlte das Interesse jedoch merklich ab, und es war John Dewey, der die Opposition gegen solcherlei Fortbildungsschulen anführte.

Die von Knoll nachgezeichnete Debatte wäre noch weiter zu explorieren gewesen; vor allem hinsichtlich des Aktualitätsbezugs bleibt diese etwas sehr summarisch.

Insgesamt gibt die Publikation einen sehr anregenden Einblick in die schulpraktische Schaffensphase und das pädagogische Umfeld eines Klassikers, der, wie viele vor und nach ihm, mit der Umsetzung theoretischer Erkenntnisse rang. Insgesamt besticht der Band durch die akribische Aufarbeitung der Quellenlage und den Anspruch kritischer Reflexion. Zu fragen wäre allenfalls, ob nicht eine etwas nüchternere Distanz gegenüber dem Anliegen, einen Klassiker vom hohen Sockel zu stürzen, hilfreich gewesen wäre. Immerhin wird John Dewey bis heute – im Unterschied zu vielen anderen pädagogischen Klassikern – auch tatsächlich gelesen und für die pädagogische Theorie und Praxis als relevant erachtet.
Philipp Gonon (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Gonon: Rezension von: Knoll, Michael: Beyond Rhetoric – New Perspectives on John Dewey’s Pedagogy. Bern et al.: Peter Lang 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978303434142.html