EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)

Verena Limper
Flaschenkinder
Säuglingsernährung und Familienbeziehungen in Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert
Kölner historische Abhandlungen
Köln: Böhlau Verlag GmbH & Cie 2021
(532 S.; ISBN 978-3-412-51975-9; 70,00 EUR)
Flaschenkinder In ihrer Studie „Flaschenkinder“ untersucht Verena Limper die Geschichte der Säuglingsernährung als speziellen Aspekt der Säuglingspflege in vergleichender Perspektive (Deutschland, Schweden) über einen Zeitraum von rund 100 Jahren. Damit leistet Limper einen innovativen Beitrag zur Erziehungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in welcher das Leben von Säuglingen (und deren Familien) bisher eine marginale Rolle spielte, und zwar obwohl diese gerade während des Untersuchungszeitraums von großen gesellschaftlichen und demographische Veränderungen mitbetroffen waren. Erschlossen wird die Geschichte des neuen Säuglingskonzepts des „Flaschenkindes“ – in der Untersuchung verstanden als analytischer Begriff, „der das Verhältnis von Flaschennahrung und Vorstellungen über den Säugling und seinen Körper greifbar machen soll“ (14) – über den Zugang der Wissensgeschichte. Gefragt wird, wie Wissen um die Flaschennahrung und den Säuglingskörper produziert, verbreitet und angewandt wurde und wie diese Prozesse miteinander verschränkt waren. Dabei dient der Vergleich zwischen Deutschland und Schweden einerseits der „produktiven Verfremdung“ (21) der eigenen (deutschen) Sichtweise, andererseits sollen auf diese Weise Lücken in der Familiengeschichtsforschung, insbesondere zu Familienpraktiken, in beiden Ländern geschlossen werden.

Das Buch gliedert sich in drei Hauptkapitel, die sich je der Wissensproduktion, der Wissensverbreitung und der Wissensanwendung rund um das Thema Säuglingsernährung und das Konzept des Flaschenkindes widmen. Entsprechend geht es im ersten Teil um die Produktion und Materialisierung von Wissen, chronologisch dargestellt und an diese Stelle zurückreichend bis Mitte des 18. (Schweden) bzw. des 19. Jahrhunderts (Deutschland). Im Zentrum steht die Frage, welche Akteure, wie beispielsweise Kinderärzt*innen, Psycholog*innen, Lebensmittelkonzerne, auf welche Weise als Expert*innen für die Ernährung von Säuglingen hervortraten und handelten. Dabei differenziert Limper Wissen und Ernährungspraktiken nach familialer Schichtzugehörigkeit, da Säuglingsernährung Teil sozialer und kultureller Normen war, öffentlich diskutiert und als Problem von bevölkerungspolitischem Ausmaß gesehen wurde (9).

Durch den Einbezug von Quellen unterschiedlicher (fachlich-disziplinärer) Herkunft (Medizin, Psychologie/Psychotherapie, Hygieneforschung und Werbematerialien) gelingt es der Autorin, Konfliktlinien, insbesondere jene um die angemessenen Produkte für Säuglinge zwischen der wissenschaftlichen Pädiatrie und der Nahrungsmittelindustrie, in den Debatten um die Säuglingsernährung nachzuzeichnen.

Im zweiten Kapitel, „Vermittlung und Verbreitung von Wissen“, konzentriert sich Limper auf die Art und Weise der Vermittlung des Wissens mittels der populären Medienform der Ratgeberliteratur für Eltern in Buchform. Das ebenfalls chronologisch aufgebaute Kapitel widmet sich im Gegensatz zum ersten der Frage, wie dieses Wissen an Eltern weitergegeben wurde, über welche Wissensbestände Eltern bezüglich der Säuglingsernährung damit verfügen konnten und in welchem Verhältnis dieses Wissen zu den im vorangegangenen Kapitel herausgearbeiteten zeitgenössischen wissenschaftlichen und populären normativen Wissensbeständen stand. Ratgeber in Buchform werden dabei als „Netzwerk-Akteure“ (17) betrachtet, da sie durch ihre besondere „Filter-Funktion“ zur Neu-Organisierung und Veränderung von Wissensbeständen beitrugen. Auch dabei lassen sich im Zuge der Betrachtung verschiedener disziplinärer Kontexte je aktuelle gesellschaftliche Normierungen und Werte herausarbeiten. Es zeigen sich Unterschiede in der Ratgeberliteratur Deutschlands und Schwedens sowohl hinsichtlich der Wissensgrundlagen als auch der Sicht auf die Leser*innenschaft der Eltern. Des Weiteren wird in Deutschland vor dem Hintergrund eines durchgängig bürgerlichen Familienideals, in welchem Muttermilch weiter als die gängige Norm galt, der Säugling ausgehend vom psychosomatischen Körper durch die entwicklungspsychologische Wende als eine eigene Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen konstruiert.

Das dritte Hauptkapitel, „Anwendung und Aneignung von Wissen“, widmet sich der konkreten Anwendung des Wissens, insbesondere in den Haushalten der Familien. Untersucht wird, wie sich die Wissensbestände veränderten und ob sie Eingang in die Alltagspraktiken der Familien fanden. Es wird also die Frage gestellt, wie sich die Eltern selbst als historische Akteur*innen zum Wissen über die Säuglingsnahrung verhielten. „Waren sie sich bestimmter Normen bewusst und versuchten, innerhalb dieses Rahmens zu handeln; wie reflektierten sie gegebenenfalls Abweichung?“ (355) Dieses letzte der drei zentralen Kapitel der Arbeit ist, auch bedingt durch den Einbezug von Egodokumenten in Form von persönlichen Tagebüchern (Deutschland) und Fragebögen des nordischen Museums (Schweden), stärker an Differenzkategorien wie Schicht und Geschlecht (15) orientiert und fragt vor allem nach der Wirksamwerdung des Wissens in den Praktiken. Trotz der Unterschiedlichkeit der Quellen lassen sich hier für Deutschland und Schweden in den Ergebnissen deutlich weniger Unterschiede ausmachen. Limper zeigt auf, wie auch in Schweden der Stilldiskurs mit dem Stillen als bevorzugter Ernährungsform trotz der Medikalisierung und Standardisierung im 20. Jahrhundert fortgeschrieben wurde.

In ihrem Fazit fasst Limper abschließend die Ergebnisse entlang der drei übergreifenden Themenbereiche „Wissen“, „Dinge“ und „Praktiken“ zusammen, die den Kapiteln zur Wissensproduktion, -verbreitung und -anwendung entsprechen, um jene abschließend zu reflektieren. Nachvollziehbar legt sie die Entwicklung des Säuglingskonzepts vom objekthaften und passiven Körper durch die entwicklungspsychologische Wende hin zur eigenen Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen und damit im eigenen Ernährungsbedarf handlungsfähigen Subjekt dar; dieses bestimmt selbstreguliert, wie viel und wie lange es trinkt. Zugleich stellt sich das Stillen in beiden Ländern als natürliche und damit zu präferierende Ernährungsform dar.

Flaschennahrung wurde trotz der Verbesserungen der Zusammensetzung – fundiert u.a. in Vergleichen der Säuglingssterblichkeitsraten – kein gleichwertiger „Akteur“. Allerdings führte die Erleichterung des Zugangs zu Flaschennahrung über den Handel nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Mehrabsatz bei gleichzeitiger Angleichung der Konsumtion zwischen den Gesellschaftsschichten, auch bedingt durch die mütterliche Arbeitstätigkeit. In Schweden erkannte man den Nutzen für arbeitende Mütter und unterstützte deren Arbeitstätigkeit, während in Deutschland ein bürgerliches Familienideal mit der Mutter als Hausfrau fortgeschrieben wurde, der im Falle der Flaschenernährung Bequemlichkeit, unangemessenes Freiheitsstreben und Egoismus unterstellt wurden. Trotz veränderter Rollenerwartungen änderte sich, wie Limper zeigt, wenig an gelebten Praktiken; der Vater stellte sich weiter als Unterstützer dar, während der Mutter die Hauptverantwortung blieb. In der Rolle des Unterstützers waren Väter allerdings das gesamte 20. Jahrhundert involviert und nicht erst in den 1950er Jahren, als sie vermehrt in Ratgeberliteratur erschienen, oder in den 1970er Jahren als die Wissenschaft auf die väterliche Rolle aufmerksam wurde (433). Über den Untersuchungszeitraum kann die Autorin eine Vervielfältigung von Wissensbeständen bei gleichzeitiger Reduktion der Komplexität des Wissens zugunsten von dessen Handhabbarkeit im Alltag aufzeigen. Diesen Befund dehnt Limper bis auf die Gegenwart aus und verweist auf einen deutlich langsameren Wandel der familialen Praktiken gegenüber den Entwicklungen in der Wissensproduktion und Wissensverbreitung (421).

Über diese Zusammenführung der Ergebnisse wird deutlich, wie bedeutsam derartige Studien, bei all ihren methodischen Herausforderungen, sind. Wie bereits Gebhardt in ihrer wegweisenden Studie „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen“ konzentriert sich Limper auf die Verschränkung und den Transfer von Wissen, Konzepten und Handeln. Durch den zentralen Fokus der Arbeit auf die Ernährung(spraktiken) von Säuglingen gelingt es Limper, die zahlreichen in der Arbeit verfolgten Stränge nachvollziehbar in den drei übergreifenden Themenbereichen Wissen, Dinge und Praktiken zusammenzuführen.

Der Anspruch von Limpers Studie ist hoch, erstreckt diese sich doch nicht nur über 100 Jahre, sondern bezieht analytische Ansätze wie jene der Wissensgeschichte sowie der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) mit ein und bedient sich einer großen Fülle von Quellen. So ergibt es sich auch, dass nicht jede der von Limper an das Material gestellten Fragen in Gänze beantwortet werden kann und das Werk in seiner Breite vielfach über den Kontext der Ernährung hinaus verweist. Gleichzeitig eröffnet gerade diese Breite viele spannende Anschlussfragen für weitere Forschung. Einzig der Verweis jeweils am Ende der Themenbereiche „Wissen“, „Dinge“ und „Praktiken“ auf aktuelle Entwicklungen erscheint etwas verknappt bzw. wenig fundiert.
Abschließend handelt es sich bei Verena Limpers Buch um eine wichtige und interessante Untersuchung, die Antworten auf die Frage gibt, wie sich die Konstruktion des Säuglings und seiner Bedürfnisse im 20. Jahrhundert vermittelt über dessen Ernährung verändert hat. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Geschichte frühkindlicher Erziehung, der für eine breite Leser*innenschaft, auch ohne entsprechendes Vorwissen, lesenswert ist. Die Quellenvielfalt ermöglicht den Blick nicht nur auf die Veränderung von Wissensbeständen auf einer normativen Ebene, sondern ebenso auf deren Anwendung in Alltagspraktiken. Damit vermeidet die Verfasserin den Fehler, von normativen Vorgaben auf alltägliche Praxen rückzuschließen und zeigt vielmehr, welche wichtige, aufschlussreiche Ergänzung – oftmals vernachlässigte – Quellengattungen wie Elterntagebücher und Lebenserfahrungsberichte bieten.

[1] Gebhardt, Miriam (2009): Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert. Deutsche Verlags-Anstalt: MĂĽnchen.
Sabrina Volk (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabrina Volk: Rezension von: Limper, Verena: Flaschenkinder, Säuglingsernährung und Familienbeziehungen in Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert Kölner historische Abhandlungen. Köln: Böhlau Verlag GmbH & Cie 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978341251975.html