EWR 11 (2012), Nr. 4 (Juli/August)

Patrick BĂŒhler
Negative PĂ€dagogik
Sokrates und die Geschichte des Lernens
Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012
(225 S.; ISBN 978-3-506-77213-8; 29,90 EUR)
Negative PĂ€dagogik Patrick BĂŒhler zeichnet in seiner historiografisch angelegten Habilitationsschrift (UniversitĂ€t Bern) die Geschichte und Rezeption des sokratischen Begriffs der NegativitĂ€t innerhalb pĂ€dagogischer Diskurse nach. Der Begriff „NegativitĂ€t“ wird im Allgemeinen als Sammelbegriff fĂŒr produktive, Lernerfahrungen begleitende Momente des Scheiterns, der Irritation und der Ausweglosigkeit verwendet. BĂŒhler grenzt seine Arbeit von verwandten Begriffen, so etwa dem der Negation (Hegel), der negativen Erziehung (Rousseau) oder dem der negativen Erfahrung (G. Buck) ab und bezieht sich ausschließlich auf die NegativitĂ€t der sokratischen Dialoge (so z.B. Menon, Gastmahl). Diese werden in der platonischen Überlieferung als Beispiele gelungener, von Sokrates gefĂŒhrter Lernprozesse dargestellt und daher oft als „LehrstĂŒck“ fĂŒr PĂ€dagogen herangezogen. Neben den Dialogen stĂŒtzt sich der Autor auf die „Fallstudie Sokrates-Rezeption“ (16), welche er anhand pĂ€dagogischer HandbĂŒcher des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart entfaltet und exemplarisch anhand dreier ReprĂ€sentanten aus Philosophie und PĂ€dagogik nachzeichnet (L. Nelson, M. Wagenschein, W. Fischer).

BĂŒhler gelingt es in seiner Untersuchung, zwei Hauptthesen zu belegen: Zum einen nehme NegativitĂ€t in der PĂ€dagogik und Didaktik generell eine marginale Rolle ein, zum anderen wĂŒrden in der Sokrates-Rezeption die negativen Elemente der Dialoge oft ausgeklammert. Die MĂ€eutik (sokratische „Hebammenkunst“ mit dem Ziel der „Geburt“ eigener Gedanken und Lösungen) werde unter VernachlĂ€ssigung der Elenktik (kunstgerechtes Fragen mit dem Ziel der Irritation und Aporie) als Lehrmethode ins rein Positive gekehrt. Den Grund fĂŒr diese zweifache „LĂŒcke NegativitĂ€t“ (16) sieht BĂŒhler hauptsĂ€chlich in strukturellen Problemen der Erziehung und der religiös-edukativen Sokratik-Rezeption des 18. und 19. Jahrhunderts. Damit wird das Buch nicht nur fĂŒr jene interessant, die sich mit der Geschichte der PĂ€dagogik beschĂ€ftigen. Es kann darĂŒber hinaus wichtige Einsichten in die diskursiven und pĂ€dagogischen Grundlagen einer bis heute beliebten und bekannten Unterrichtsmethode und ihrer Didaktik bieten.

Den Korpus der umfassenden Untersuchung bilden pĂ€dagogische Handreichungen und LexikoneintrĂ€ge aus pĂ€dagogischen HandbĂŒchern, aber auch philosophische und literarische Schriften, die um die Begriffe „sokratisch“, „Sokratisieren“, „sokratisches GesprĂ€ch“ kreisen. Der Schwerpunkt der Arbeit wird somit nicht sozial-, handlungs- oder erfahrungstheoretisch gewĂ€hlt, sondern in Anlehnung an Osterwalder und Oelkers historisch-kritisch rekonstruierend. Damit wird die Perspektive auf Geschichte und Funktion einzelner Begriffe begrenzt und diejenige auf Institutionen, Personen und Unterrichtsinteraktionen ausgeschlossen.

Die sechs Kapitel des Buches können in zwei Bereiche unterteilt werden, wobei die ersten drei und die letzten drei Kapitel jeweils eine grĂ¶ĂŸere Sinneinheit bilden. Der erste Teil des Buches hat die Sokrates-Rezeption zum Gegenstand, der zweite Teil hebt auf deren Stellung innerhalb der PĂ€dagogik und die damit einhergehenden Implikationen ab.

Kapitel 1 untersucht Definitionen der Leitbegriffe der Sokrates-Rezeption (z.B. MĂ€eutik, Sokratisieren) in pĂ€dagogischen Fachlexika des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Dabei stellt der Autor einen Interpretationswandel in Bezug auf die sokratische Lehrmethode fest. Dieser reicht vom reinen Hervorbringen und Verfeinern eines bereits vorhandenen Gedankens zur zweischrittigen Vorgehensweise von Hervorbringen und PrĂŒfen bis zur NegativitĂ€t in Form einer Aporie/Irritation. Die Definitionen im 18. Jahrhundert beschrĂ€nken sich auf den „schaffenden“ Teil, das Aufbauen von Wahrheiten, erst im 19. Jahrhundert rĂŒckt dann auch der „auflösende“ und „zerstörende“ (36) Aspekt der sokratischen Methode in den Fokus. BĂŒhler macht deutlich, dass die MĂ€eutik als systematische Methode des Unterrichtens erst im Konnex mit Platons Erziehungslehre anerkannt wird, in der eine positive „Wahrheitsfindung“ das Ende des Dialogs bildet. BĂŒhler kann so belegen, dass NegativitĂ€t in der PĂ€dagogik marginalisiert bzw. ins Positive gekehrt wird, sobald sie im Kontext intentional-institutionalisierter Erziehung auftritt. Sie wird somit ihrer negativen, elenktischen Elemente beraubt und bleibt als „halbe MĂ€eutik“ (47) stehen.

Das zweite Kapitel ist der NegativitĂ€t im Menon-Dialog gewidmet, der die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend zum Gegenstand hat. Der Dialog ist von negativen Elementen durchzogen. So etwa die aporetische Anfangssituation, in der Menon erkennt, dass man nicht lehren könne, was vorher nicht bekannt sei. Diese Feststellung, aufs Lernen ĂŒbertragen, fĂŒhrt weiterhin zu einem Grundparadox der PĂ€dagogik: dass auch nicht zu suchen bzw. zu lernen sei, was vorher nicht bekannt ist. Hinzu kommt die oft zitierte und fĂŒr pĂ€dagogische Lerntheorien wichtige, klassisch-aporetische Situation, in der der Sklave sein Nicht-Wissen erkennt und die Erkenntnis des Nicht-Wissens als Ausgang und Anfang des Lernens gewertet wird. BĂŒhler sieht sich in seiner Annahme bestĂ€tigt, dass die negativen Elemente in der sokratischen Methode eigentlich ĂŒberwiegen bzw. dass die Wendung ins Positive ein Produkt der Rezeption ist. Das negative Bildungspotenzial des Dialogs selbst wird verdeutlicht, indem eine alternative Lesart vorgestellt wird. Er kann, so BĂŒhler, auch als Übung mit therapeutischem Zweck gewertet werden: die dialektische Struktur wird als Kur von falschen Vorstellungen, als Selbstuntersuchung mit dem Ziel einer Reinigung interpretiert.

Im dritten Kapitel untersucht BĂŒhler die Darstellung der Person Sokrates bei Platon, bei verschiedenen Philosophen (Kierkegaard, Schleiermacher) und PĂ€dagogen (u.a. Ballauff, Spranger) und stĂ¶ĂŸt auch hier auf eine mehrfache NegativitĂ€t: „Man kann nicht wissen, ob Sokrates der Philosoph war, der nichts wusste“ (68). Hierbei weist BĂŒhler zum einen auf die undurchsichtige Quellenlage hin (Verwischung Sokrates-Platon). Zum anderen zeigt er, dass die Sokrates-Rezeption das Bild eines merkwĂŒrdigen, scheiternden PĂ€dagogen zeichnet. Dies liegt v.a. in der GegenĂŒberstellung von Platons philosophisch-systematischer Erziehungstheorie mit Sokrates‘ negativer Didaktik des Nicht-Wissens begrĂŒndet. Anders als bei Platon könne beim frĂŒhen Sokrates auch das Nicht-Wissen (oder vielmehr der aporetische Zustand des Nicht-Wissens) als Ziel des Lehrens gesehen werden. Eine negative Lernerfahrung solcher Art eröffne ein nicht-teleologisch gerichtetes „Zwischen“, das Raum fĂŒr neue Fragen schafft, statt in stĂ€ndigem, suggestivem Frage-Antwort-Wechsel auf das Ziel der „Unterrichtsstunde“ hinzuarbeiten. Diese Betrachtung stellt den einzigen, tatsĂ€chlich didaktischen Aspekt der Arbeit dar, indem sich BĂŒhler von der historisierend-diskursanalytischen Ebene auf die Betrachtungsebene pĂ€dagogischer Interaktion begibt. Hier klingt an, dass die NegativitĂ€t nicht nur in methodisch-systematischer Perspektive untersucht werden könnte, sondern auch in hermeneutischer, was den Blick auf die eigentliche Lernerfahrung heben wĂŒrde. BĂŒhler bleibt jedoch der historiografisch-diskursanalytischen Perspektive treu, wodurch hermeneutische Lerntheorien (Gadamer, Buck, Meyer-Drawe), die aktuell in der Allgemeinen PĂ€dagogik grĂ¶ĂŸere Beachtung finden, nicht in den Blick kommen.

Im zweiten Teil ĂŒberfĂŒhrt BĂŒhler die historiografischen Betrachtungen aus dem ersten Teil in einen ErklĂ€rungsansatz zur marginalen Rolle der NegativitĂ€t in der und zum „Positivierungszwang“ (Oelkers) der PĂ€dagogik. Kapitel 4 beschĂ€ftigt sich mit der Instrumentalisierung der sokratischen Methode in der Rhetorik der ReformpĂ€dagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So zeigt BĂŒhler auf, wie der pĂ€dagogische Klassiker Sokrates zur Kritik am traditionell Bestehenden verwendet und gleichsam als Inspiration zur Neuerung prĂ€sentiert wird. Einerseits werde die MĂ€eutik als Drill abgestempelt, andererseits versuchten ihre Verfechter (so z.B. Spranger, KarstĂ€dt), sich auf die „wirkliche“ Sokratik zurĂŒckzubesinnen (132). In Anlehnung an Freud findet BĂŒhler hier den passenden Ausdruck einer „VerdrĂ€ngung zur Wiederkehr“ (133). Die Neuerung besteht laut BĂŒhler also nicht in der Methode selbst, sondern nur in der epochenweisen Reflexion der Methode. PĂ€dagogik wird so mit Oelkers als stĂ€ndige Reform herausgestellt (129), die von der „Differenz von Problem und Problemlösung“ lebt (129, Luhmann). Hier macht BĂŒhler auf die produktive und disziplin-konstitutive Dimension einer unbestimmten Negation (Hegel) aufmerksam, die stets von einer bestimmten Negation eingeleitet werde – eigentlich ein PlĂ€doyer fĂŒr eine stĂ€rkere Position der NegativitĂ€t in der PĂ€dagogik. Dieser Argumentationsgang wird aber nur undeutlich mit der These von der Marginalisierung und Positivierung der NegativitĂ€t innerhalb der PĂ€dagogik in Kontrast gesetzt.

Die Untersuchung dreier Sokrates-Rezeptionen neuerer Zeit im fĂŒnften Kapitel unterstreicht nochmals die Grundthese der Arbeit. So wĂŒrden bei Wagenschein negative Elemente ausgeklammert oder zumindest ins Positive gewandt, Nelson ziehe den Klassiker Sokrates gleichsam als Abgrenzung und Neudefinition heran und instrumentalisiere ihn so wieder. Eine Ausnahme stelle hier W. Fischer dar. Wurden bei Nelson und Wagenschein die skeptische Methode nur als „didaktischer Trick“ (151, Fischer zu Wagenschein) gesehen, sehe Fischer aus transzendental-kritischer Perspektive in Sokrates einen genuin skeptischen Philosophen, der nicht nur aus Verpflichtung der Dialektik gegenĂŒber zweifle. Doch trotz der skeptischen Gewichtung und der Reduktion der sokratischen Methode auf den frĂŒhen, negativen Sokrates stellt BĂŒhler wieder eine abschließend positive Deutung fest: „Sokrates bleibt bei Fischer wie in der PĂ€dagogik seit drei Jahrhunderten der große Erzieher.“ (156)

Im letzten Kapitel untersucht BĂŒhler die Stellung der NegativitĂ€t in der PĂ€dagogik bzw. die GrĂŒnde fĂŒr eine „notorisch positive Erziehung“ (159, Oelkers). Hier argumentiert er mit dem „strukturellen Defizit der Erziehung“ und deren „Nichtplanbarkeit“ (Luhmann, 160), die mit der Zielgerichtetheit jeder ErziehungsbemĂŒhung unvereinbar sei. Um diese negative LĂŒcke zu schließen, verlange die Erziehung nach einer positiv orientierten, normativen Sprache. Dies wird in Anlehnung an Osterwalder auch ĂŒber die UrsprĂŒnge des Sokratisierens in der Katechese begrĂŒndet, die zu einer „PĂ€dagogik in theologischer Sprache“ (51, Osterwalder) fĂŒhre. Der Anspruch, Theorien praktisch werden zu lassen, erzeuge einen „Positivierungszwang“ jeden negativen Lernens (169), sodass jede Negation in eine bestimmte ĂŒberfĂŒhrt werden mĂŒsse und die sokratische Aporie, die eher auf eine unbestimmte Negation ziele, nicht als Ausgangs- und Zielpunkt des Lernens bestehen könne. BĂŒhler weist in diesem Zusammenhang auf die Fruchtbarkeit einer negativen Didaktik hin, da sie den Blick von rein positiv-linearen Zielbestrebungen auf Kontingenzen im Lernprozess wenden könne. Abschließend zeigt BĂŒhler an Foucaults AusfĂŒhrungen zum „Gastmahl“, dass dieser Dialog als Eröffnung einer unbestimmten Negation im Sinne einer Praxis der Selbstsorge gelesen werden könne.

BĂŒhler gelingt die Beantwortung anfĂ€nglich aufgeworfener Forschungsfragen – die Rolle der NegativitĂ€t in der PĂ€dagogik wird mit dem „Positivierungszwang“ der Erziehungspraxis verknĂŒpft und die Sokrates-Rezeption wird, entlang dieser Tendenz zur Ausklammerung des Negativen als diskursives Instrument der Reform, das zwischen Ablehnung und Neudefinition spielt, gezeichnet. Die rein historiografisch-diskursive Perspektive verengt jedoch aus Sicht der Rezensentin den Blick und wird somit dem Untertitel („Sokrates und die Geschichte des Lernens“) auch nicht ganz gerecht. So hĂ€tte eine nĂ€here Bestimmung des Lernens und seiner Erfahrungsstruktur (und damit auch der Lehrerfahrung) eine RĂŒckbindung an den eigentlichen Kontext der fragenden Lehrmethode – das pĂ€dagogische Handeln – erlaubt. Die Tatsache, dass die verschiedenen ArgumentationsstrĂ€nge am Ende der Arbeit nicht in einem Schlusskapitel zusammengefĂŒhrt werden, ist im sokratischen Sinne etwas „irritierend“ – der Leser bleibt, wenn auch nicht in auswegloser Aporie, so doch in einer unbestimmten Negation zurĂŒck, die viel Raum fĂŒr Interpretation lĂ€sst.
Severin Rödel (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Severin Rödel: Rezension von: BĂŒhler, Patrick: Negative PĂ€dagogik, Sokrates und die Geschichte des Lernens. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677213.html