EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)

Ralf Koerrenz (Hrsg.)
Bildung als protestantisches Modell
Paderborn: Schöningh 2013
(179 S.; ISBN 978-3-5067-7689-1; 24,90 EUR)
Bildung als protestantisches Modell Der vorliegende Sammelband ist im Rahmen der Forschung des Landesgraduiertenkollegs „Protestantische Bildungstradition in Mitteldeutschland“ entstanden und befasst sich in vier Themenbereichen (Orientierungen, Vergewisserungen, Gegenwartsanalysen, Gestaltungsaufgaben) mit dem VerhĂ€ltnis von Bildung und Protestantismus ab dem 18. Jahrhundert. Erst seit dieser Zeit, in der Kombination von Reformation und AufklĂ€rung, so Ralf Koerrenz in der Einleitung, sei es möglich, dass „ein solches Modell wie Bildung entstehen“ (8) konnte.

Diesen Gedanken fĂŒhrt er in seinem Beitrag im Themenbereich „Orientierungen“ weiter aus. Seit der protestantisch geprĂ€gten deutschen AufklĂ€rung und dem Verlust von der Gewissheit einer gestaltenden Kraft Gottes sei der Mensch „gnadenlos auf sich selbst zurĂŒckgeworfen“ (29). Gerade darin zeige sich das Protestantische und ihr radikales, emanzipatorisches Moment: in der „Lebens- und Weltgestaltung“ (18), aber auch in der fehlenden „soziale[n] Entlastung [
] durch das Kollektiv“ (34). Koerrenz beschreibt Bildung weitschweifig als Konzept, das „die ZurĂŒckgeworfenheit des Menschen auf sich selbst thematisier[e]“ (38) und die „AufklĂ€rung des Individuums ĂŒber sich selbst angesichts von Befreiung und Vereinsamung“ verfolge (39).

Hanna Kauhaus eröffnet den Themenbereich „Vergewisserungen“. Sie vergleicht den Pietismus – am Beispiel vertreten durch Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke – und die AufklĂ€rungstheologie – vertreten durch Johann Salomo Semler und Gotthold Ephraim Lessing. Beide Theologien hĂ€tten einen Ă€hnlichen Bezug zu Luther, nĂ€mlich eine verĂ€nderte „Zukunftserwartung“ (49), und heben beide eine individuelle Ebene hervor: Willenserziehung und Gehorsam im Pietismus, kritische Urteilskraft in der AufklĂ€rungstheologie, wobei letztere stĂ€rker um einen lebenspraktischen Bezug bemĂŒht sei.

Jörg Dierken weist Ă€hnlich wie Koerrenz darauf hin, dass in der Moderne mit der „Freisetzung von ĂŒberkommenden Ordnungen und Weltbildern“ (65) dem Individuum abverlangt werde, die Welt aus seiner Perspektive zu verstehen und eigenes Handeln zu gestalten. Dierken erlĂ€utert das konstitutive Moment von Bildung bei der Auseinandersetzung des Einzelnen mit den anderen Mitmenschen und mit der Welt. Hierzu geht er, allerdings unvermittelt, auf die Bildungsdimension bei Friedrich Schleiermacher und Falk Wagner ein.

Der Themenbereich schließt mit dem Beitrag von Meike Sophia Baader. Sie fasst in der ĂŒberarbeiteten Fassung eines bereits erschienenen Aufsatzes die zentralen Ergebnisse ihrer aufschlussreichen, 2005 veröffentlichten Habilitation konzise zusammen – jedoch leider auch nicht mehr. Der „‚heilige Kosmos der ReformpĂ€dagogik‘“ lĂ€sst sich fĂŒr Baader in einem „verdichteten Bild“ beschreiben: Der „Lehrer als Priester oder Seelsorger steht einem heiligen Kind oder einem JĂŒngling als Apostel gegenĂŒber“ (75). Die Erforschung der ReligiositĂ€t der ReformpĂ€dagogik ist bislang nur von Ralf Koerrenz (2011 bei Garamond) weiter verfolgt worden.

Den Themenbereich „Gegenwartsanalysen“ eröffnet Annette Scheunpflug. In Anbetracht des bekannten Zusammenhanges von kulturellem Kapital und Schulleistungen bzw. Testergebnissen wagt sie erste, „explorativ[e] und tentativ[e]“ (97) Schritte zu Erforschung einer möglichen Wirkung „religiös induzierte[r] Kultur“ (ebd.) und legt vier Merkmale einer „Bildungskultur des Protestantismus“ fest (100). Die empirische Basis hierzu gewinnt sie aus SekundĂ€ranalysen quantitativer Studien. Scheunpflug resĂŒmiert in Anbetracht weniger signifikanter Unterschiede zwischen bekennenden protestantischen Familien und nicht-bekennenden, dass „keine durchgĂ€ngige Spur erkennbarer evangelischer Bildungspraxen“ in den SekundĂ€ranalysen gefunden werden konnte (112). Hervorzuheben ist, dass die Autorin „fĂŒr die Fruchtbarkeit der Fragestellung werben“ möchte (113), auch wenn es schwer sei, ReligiositĂ€t und ihre Bedeutung empirisch zu erfassen.

Thomas Schlag hat es in dem von ihm vorgestellten, indes abgeschlossenen Forschungsprojekt leichter, da er Mitarbeitende und teilnehmende Jugendliche in den Konfirmationsjahren befragt. Hier soll u. a. sondiert werden, welche „zivilgesellschaftlichen Potentiale die Konfirmationsarbeit“ habe (129). Schlag beschĂ€ftigt das „VerhĂ€ltnis von Protestantismus und Demokratie“ (117), zumal erst 1985 die „bundesdeutsche Theologie“ „in systematischer und theologischer Weise eine positive VerhĂ€ltnisbestimmung zur Demokratie vorgenommen“ habe (ebd.). Schlag plĂ€diert fĂŒr eine Erweiterung von Kirche und Staat um eine zivilgesellschaftliche Perspektive, mit der Kirche als „intermediĂ€rer Bildungsinstitution“ (124) zur Vermittlung von „Erfahrungen und ZusammenhĂ€nge[n] von individueller Existenz und Politischem“ (125).

Harald Schroeter-Wittke setzt sich mit dem VerhĂ€ltnis von Popkultur zu Protestantismus auseinander. Popkultur sei fĂŒr ihn sogar in der „Kraft ihrer Verheißung von Freiheit mitunter protestantischer als das Christentum“ (139). Schroeter-Wittke plĂ€diert fĂŒr eine Praktische Theologie der Popkultur und fĂŒr Mut zu einer „Theologie der Unterhaltung“ (142), da Unterhaltung „auch theologisch als fragwĂŒrdig“ gebrandmarkt sei (143). Nicht nur mit SĂ€tzen wie „Ich haben Ihnen zum Schluss eines meiner LieblingsstĂŒcke mitgebracht“ (145) findet man sich allerdings als Leser hier eher in einer gemeindepĂ€dagogischen Weiterbildung wieder als in einer wissenschaftlichen Erörterung.

Der letzte Themenbereich „Gestaltungsaufgaben“ umfasst zwei Artikel. Manfred L. Pirner diskutiert in Thesenform die Aufgabe des Religionsunterrichts (RU), der in Deutschland seit den 1970er Jahren sich dem widme, „was Menschen existenziell betrifft und umtreibt“ (149) sowie UnterstĂŒtzung biete, das „Grundrecht auf Religionsfreiheit wahrnehmen zu können“ (150), also in erster Linie „als Dienst an den Kindern und Jugendlichen und damit auch als Dienst an der Gesellschaft“ verstanden werde (151). Der RU könne einen „ganz eigenstĂ€ndigen Beitrag“ (167) zur FĂ€higkeit der Reflexion ĂŒber die von der UN proklamierten, aber bewusst normativ nicht begrĂŒndeten Menschenrechte leisten.

Der Themenbereich und der Band schließen mit dem Beitrag von Dirk Oesselmann. Er versteht Bildung nicht nur als „‚die Annahme meines Ichs‘“, sondern auch als Befreiung aus dem „Vorurteil eigener UnfĂ€higkeit“ (173). Oesselmann mahnt daher, Bildung mĂŒsse neben der „individuellen Zertifizierung von Wissen und Kompetenzen“ auch die „kollektiv-gemeinschaftlichen Prozesse“ und die „Herausforderungen von Welt aufnehmen“ (177). In diesem Beitrag sieht man sich eher mit einer Meinung des Autors oder einer Predigt auseinandergesetzt, etwa wenn der Autor „noch ein[en] Gedanke[n] ĂŒber die gegenwĂ€rtigen öffentlichen Diskussionen ĂŒber die Schuldenkrise u. Ă€.“ ausbreitet (172).

Die „Auseinandersetzung mit Freiheit, Selbstbezug und Weltorientierung“ gilt fĂŒr den Herausgeber als „gemeinsamer Leitfaden“ (14) des Bandes. Dieser ist nicht nur weit gespannt, wie Koerrenz einrĂ€umt, er reißt sogar leider, denn die einzelnen BeitrĂ€ge wirken oft lose an das Thema angeschlossen. Einige BeitrĂ€ge haben sicherlich QualitĂ€ten als DenkanstĂ¶ĂŸe oder Diskussionspapiere, verwehren aber den wissenschaftlichen Mehrwert zur Diskussion von „Bildung als protestantisches Modell“. Der Band leidet zudem unter seiner Form. So zahlt der Leser und die Leserin hier, wie in vielen anderen BĂŒchern auch, den Preis fĂŒr die gĂ€ngige wissenschaftliche Publikationspraxis: Der Verlag spart, indem er den Autoren bzw. Herausgeberinnen ĂŒber (Word-)Vorlagen den Satz ĂŒberlĂ€sst – und damit die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder ĂŒberfordert. Das wird etwa bei dem Beitrag von Schlag offensichtlich. In diesem Band sind es neben vielen typischen typographischen Fehlern bei der Arbeit mit Vorlagen vor allem die zu klein gesetzte (ubiquitĂ€re) Schriftart Times New Roman, die willkĂŒrlich wechselnden Schriftarten und die sich hĂ€ufenden LeerrĂ€ume durch unglĂŒckliche UmbrĂŒche, die das Lesen erschweren. Das Auge liest schließlich mit.
Marcel Kabaum (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marcel Kabaum: Rezension von: Koerrenz, Ralf (Hg.): Bildung als protestantisches Modell. Paderborn: Schöningh 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978350677689.html