EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)

Peter Sloterdijk
Scheintod im Denken
Von Philosophie und Wissenschaft als Ăśbung
Berlin: Suhrkamp 2010
(147 S.; ISBN 978-3-518-26028-9; 10,00 EUR)
Scheintod im Denken Den hier veröffentlichten Vortrag „Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung“ hielt Sloterdijk in kürzerer Form in Tübingen im Jahr 2009. Zu dieser Zeit war sein heute längst bekanntes und sehr umfangreiches Buch „Du mußt dein Leben ändern“ gerade erschienen. Im Kontext dieses Buches steht auch der Vortrag, welcher die dort auf Ethik bezogenen Ausführungen zu der pädagogisch interessanten Tätigkeit „Übung“ nun auf den theoretischen, d.h. epistemischen Bereich bezieht. Zwar kann das kleine Büchlein ohne das große gelesen werden; wer jedoch tiefer in die Problematik des Übens eindringen möchte, wird auf die Monographie verwiesen. „Scheintod im Denken“ ist keine Kurzfassung der Letzteren.

Allgemein geht es Sloterdijk um „das Treiben von Theorie, sei es als Philosophie, sei es als Wissenschaft, unter dem Aspekt seines Übungscharakters“ (33). Theorie wird verstanden als eine übende Praxis von erkenntnisfördernder Askese, die eine mögliche Form des Lebens bildet. Konkret geht es um die Entstehung, die Transformation und Liquidierung des Theoriesubjekts, auch Wissenschaftler, Philosoph oder Denkender genannt. Dieser Inhalt wird in einer Verschränkung von phänomenologischen, genealogischen und anthropologischen Perspektiven expliziert, wobei Sloterdijk auch auf den realen universitären Wissenschaftleralltag anspielt. In Anlehnung an Hannah Arendt fragte er: Wo sind wir, wenn wir denken? Und er erweitert die Frage: Wie sind wir, wenn wir denken? – nämlich der Welt entrückt und für diese scheintot. Bei den übenden Praktiken, die unternommen werden, um ins Denken zu gelangen, erscheint der Übende als scheintot, d.h. vom empirischen Leben abgewandt. Der Anschein eines Denkenden zeigt keine Lebenszeichen, ist aber dennoch eine höchst kunstvolle übende Aktivität. Der Begriff „Übung“ muss dabei umfassender verstanden werden, als er im Alltag gebraucht wird. Sloterdijk führt mit Verweisen auf sein Buch „Du mußt dein Leben ändern“ aus, dass mit Klassifizierungen menschlichen Handelns, vor allem der Dualität zwischen aktivem und kontemplativem Leben, gerade der dazwischen liegende Bereich des Übens aus dem Blick gerät.

Für Pädagogen ist die Andeutung Sloterdijks interessant, dass mit dem Üben eine Vertikalität untrennbar verbunden ist: man kann oder kennt etwas immer mehr oder weniger gut. Aus bildungstheoretischer wie historischer Perspektive verdient dieser Gedanke Vertiefung. Dies könnte erschließen, warum in der Pädagogik der Begriff der Übung aus dem Blick geraten ist. Mit der Verabschiedung von Perfektionierung steht Üben im Verdacht erneut Hierarchien einzuführen. Es wäre zu prüfen, ob der Begriff Perfectibilité einem ähnlichen Muster oder Verdacht unterliegt.

Im ersten von vier Abschnitten des Textes skizziert Sloterdijk den Wissenschaftler in übender Anthropotechnik. Die asketischen Techniken, mit welchen sich die Agenten der Wissenschaft in die dazu geeignete Form bringen, werden sachlich mit Husserl und historisch mit Sokrates erläutert. Husserls Einklammerung der natürlichen Einstellung zur Erreichung eines neutralen Standpunktes desinteressierten Schauens sei ein Beispiel für eine Übung der Selbstüberwindung, um sich der Theorie zu befleißigen. Die Übung besteht im Nicht-Mitmachen beim Existieren; stattdessen wird Existierendes archiviert und betrachtet – auch die eigene Existenz.

Das Abstandnehmen vom Leben nannte Husserl „epoché“. Sloterdijk stilisiert epoché zu einer Fähigkeit bzw. Kompetenz und fragt, wie man sie erreicht. Der von den griechischen Skeptikern entliehene Begriff für die Haltung der Urteilsabstinenz ist eine zu erlernende, genauer: zu übende Technik. Was bei Sokrates noch verschrobene Eigenart war, wird zunehmend eine Methode des Denkens. Sokrates hatte die Eigenschaft in seinen Gedanken zu versinken und an Ort und Stelle zu verharren, ohne seine Umwelt wahrzunehmen. Dieses Entrücktsein sei von außen betrachtet ein Verlorensein oder eine Verrücktheit. Eine „Verrückung ins Denken“ (54), die Selbstbeherrschung problematisiert, obwohl gerade ein Selbst in stärkerem Maße als normal (vor-)herrscht. Platon schuf eine Akademie, in welcher die Entrückung zelebriert werden konnte und markiert somit den Ausgangspunkt einer Entwicklung institutionalisierter Hervorbringung von Theorie.

Im zweiten Abschnitt wird thematisiert, unter welchen mannigfachen Bedingungen der bios theoretikos entstehen konnte. Genealogisch will Sloterdijk die Herkunft des theoretischen Verhaltens aufzeigen. Die Frage lautet: Wie kommt es in der Antike zur Praktik der epoché, d.h. zu einer geübten „Haltung der betrachtungsfördernden Abstinenz“ (66)? Aus vier Perspektiven werden Antworten entworfen: Ein psychopolitisches Argument lautet, dass die Gründung der Akademie von Platon als „Reaktion auf den Zusammenbruchs des athenischen Polismodells“ (69) zu verstehen sei. Niederlage und Verlust im Politischen führten zur Reaktion einer geistigen Kompensation, die Philosophen zögen in die Bindungslosigkeit zurück, um alles beobachtend zu kommentieren: Die Geburt des Betrachters aus dem Scheitern in der Politik. Oder wie Sloterdijk es formuliert: „Der Beobachter ist erschienen“ (92).

Das zweite, charakterologische oder psychologische Argument thematisiert die Fähigkeit des Abstandnehmens in doppelter Deutung, entweder ist es „Schwäche des Vermögens zur Anteilnahme am Gemeinwesen oder die Stärke des Abseits-stehen-Könnens“ (84). Der an Partizipationsschwäche leidende melancholische Menschentyp werde verherrlicht im Licht des urteils- und praxisabstinenten Beobachters.

Die dritte soziologische Perspektive ist für Pädagogen besonders interessant, weil es die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems (Luhmann) bzw. Etablierung des pädagogischen Feldes (Bourdieu) als Indiz dafür nimmt, dass mit der Institutionalisierung der „Stillhalteübung“ (88) die sokratische Verrücktheit zur Normalität bis Normativität getrieben wurde. Ein genealogisch forschender Erziehungswissenschaftler wird an dieser Stelle Sloterdijks oberflächliche Hinweise bedauern und sich aufgefordert sehen, diesen Wink zu vertiefen, wobei er feststellen wird, dass dazu bereits eine bildungstheoretische wie -historische Forschung existiert.
Das vierte und letzte Argument für die Entstehung des epoché-fähigen Menschen ist ein mediologisches. Die Entwicklung der Schriftkultur führte zur Darstellung der Welt, die immer schon eine Abständigkeit impliziert, wenn sie gelesen wird.

Zusammenfassend lässt sich das Bild der Entstehung des theorie-fähigen Menschen folgendermaßen zeichnen: Aus politisch Gescheiterten werden privilegierte und interesselose Beobachter des Geschehens, welche ihre neutrale Beobachtung (be-) schreiben, archivieren und lesen. In pädagogischen Provinzen von politischen und existenziellen Zwängen befreit streben die Auserwählten nach Bildung ohne Zweck und Grenzen. Grundlose melancholische (Ver-)Stimmung suspendiert dabei den praktischen Sinn. Sloterdijk legt Wert darauf und betont explizit, dass nicht nur Tugenden und ruhmreiche Handlungen zur Entwicklung von Wissenschaft beitrugen, sondern auch Phänomene wie Scheitern, Neid, Rachsucht und Ressentiment (vgl. 63ff).

Nach dieser Genealogie folgen im dritten Abschnitt Darstellungen von Metamorphosen der wissenschaftserzeugendenen Asketen. Die Selbst-(trans-) formierungen des desinteressierten Menschen von der antiken Philosophie über den Rationalismus bis zur Phänomenologie zeigen, wie Erkenntnistheorie in sich Sterblichkeit und Unsterblichkeit aufgreift. Damit wird deutlich, was Sloterdijk mit „Scheintod im Denken“ verbindet. Tod im Sinne von „körperlos“ und „unpersönlich“, rein auf Intellekt oder Geist konzentriert, sei erkenntnisfördernd, so die Annahme der dargestellten Protagonisten (u.a. Cicero, Giordano Bruno, Fichte und Paul Valéry).

Aus pädagogischer Sicht ist dabei die Frage von Interesse, wie man es lernen oder üben kann, dem Tod im Leben so nah wie möglich kommen, um am Unsterblichen (Wahrheit oder Wissen) teilzuhaben. Die Selbsttransformation zum desinteressierten Menschen erfolgt über eine Askese, die empirisches Dasein als theorieverhindernd aburteilt und versucht auf ein Minimum zu reduzieren und das meint „Scheintod“ zu Lebzeiten. Um des Denkens willens wird das Leben reduziert, was Sloterdijk „epistemischen Scheintod“ (98) nennt. Es geht nicht um einen Tod des Epistemischen, mit dem der Titel im Sinne eines Nicht-Denkens missverstanden wäre, sondern um die Voraussetzung des Denkens, d.i. die Ausklammerung bzw. Einklammerung des empirischen Lebens wie in Husserls epoché-Vorstellung.

Nach der Entstehung und den Metamorphosen des desinteressierten Menschen kommt es zu dessen Tod bzw. seiner Ermordung. Im vierten Abschnitt beschreibt Sloterdijk den von ihm so genannten „Angelozid“ – besser verständlich als die „Tötung eines Scheintoten“ (13) oder die „Liquidierung des alteuropäischen Theoriesubjekts“ (133). Der Hergang der Tat und der Verbleib des Opfers bleiben im Dunkeln, aber an Attentätern kann Sloterdijk zehn ausmachen: die „Priorisierung des praktischen und politischen Lebens“ (135) der Junghegelianer (Marx), die perspektivische Vernunft (Nietzsche), das parteinehmende Denken (Lukács), die Phänomenologie (Heidegger), die Erschütterung der desinteressierten Naturwissenschaft durch nukleare Apokalypsen (Weizsäcker), der engagierte Existentialismus (Sartre), die Wissenssoziologie, die Erkenntnis an Interesse bindet (Scheler, Kuhn, Foucault), der Feminismus (Butler), die Neurowissenschaften (Damásio) und die jüngere Wissenschaftsforschung (Latour).

Das von Sloterdijk gezeichnete Drama schwankt in der Ambivalenz von Mord und Wiederbelebung und wird in seinem Ausgang noch offen gehalten. Auch hält sich Sloterdijk in einer eigentümlichen Ambivalenz bei der Beurteilung des verweltlichten homo academicus: Die „Zurückbettung der Wissenschaft in die Lebenswelt“ (143) wird begrüßt und bedauert – ihre Folgen sind noch nicht absehbar, ihre Effekte sind der Beobachtung wert, womit wieder ein Beobachter vonnöten wäre. Diese selbstreflexive Bescheidenheit fehlt Sloterdijk, sie würde auch erst dann ins Gewicht fallen, wenn die jeweiligen Einzelwissenschaften seinem Rat folgen und ihre Wiederverweltlichung beobachten, dokumentieren und interpretieren und dabei ihren theoretischen Standpunkt mit thematisieren.

Sloterdijk ruft insgesamt auf zu einem veränderten Blick auf die Wissenschaftsgeschichte, der nicht mehr davon ausgeht, dass die Wissenschaftler schon solche sind, die dann (Ideen-)Geschichte schreiben, sondern betrachtet, wie Wissenschaftler zu solchen werden, die sie sind. Welche Übungen der Selbstüberwindungen oder Selbstformung sind notwendig, um vom „bisherigen Benutzer von vortheoretischen ‚Normalsprachen’ in die Eidgenossenschaft des theoretischen Denkens“ (22) einzutreten? Dieser Aufruf gilt jeder Wissenschaft, nicht nur der Philosophie. Welche Praktiken herrschen in der Erziehungswissenschaft, um in das Denkkollektiv (L. Fleck) aufgenommen zu werden? Wie wird ein Erziehungswissenschaftler zu einem solchen? Eine neue Sparte historischer Erziehungswissenschaft könnte genealogisch rekonstruieren, wie sich Erziehungswissenschaftler in übenden Selbstpraktiken zu solchen formen, mit welchen Kompetenzen, welchem Können, welcher Erfolg erreicht werden kann. Sloterdijks Buch könnte somit auch den Trend der Entwicklung von Bildungstheorie zur Bildungsforschung erhellen, wenn für scheintot gehaltene Erziehungswissenschaftler „ihre Zurückholung aus dem schönen Tod der Interesselosigkeit in die Arena der kognitiven Realpolitik“ (15) oder ihre „Wiederbelebung“ und die „Wiederverweltlichung des entweltlichten Wissens“ (13) erleben.
Gabriele WeiĂź (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele WeiĂź: Rezension von: Sloterdijk, Peter: Scheintod im Denken, Von Philosophie und Wissenschaft als Ăśbung. Berlin: Suhrkamp 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978351826028.html