EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)

Ursula Streckeisen / Denis HĂ€nzi / Andrea HungerbĂŒhler
Fördern und Auslesen
Deutungsmuster von Lehrpersonen zu einem beruflichen Dilemma
Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2007
(340 S.; ISBN 978-3-531-15346-9; 34,90 EUR)
Fördern und Auslesen Das Buch „Fördern und Auslesen“ geht auf zwei empirische Projekte zurĂŒck, die in den Jahren 2003 bis 2007 an der UniversitĂ€t Bern und der PĂ€dagogischen Hochschule Bern durchgefĂŒhrt wurden. Im Zentrum steht der Umgang von Lehrpersonen mit dem widersprĂŒchlichen beruflichen Auftrag, SchĂŒler/innen mit den zur VerfĂŒgung stehenden pĂ€dagogischen Mitteln bestmöglich zu fördern und gleichzeitig den staatlichen Vollzug von schulischer Selektion durch entsprechende Beurteilungsverfahren zu ermöglichen. Dabei interessieren sich die AutorInnen v. a. dafĂŒr, wie die insgesamt 37 befragten Lehrpersonen das aus diesem Spannungsfeld entstehende Problem in ihr professionelles Handeln integrieren und welche HintergrundĂŒberzeugungen dabei zum Ausdruck kommen.

Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel. Nach einleitenden Überlegungen im ersten Kapitel, bei denen darauf verwiesen wird, dass v. a. in der bildungspolitischen Diskussion Aspekte der Förderung aller SchĂŒler/innen und damit einhergehende Strategien des ‚richtigen‘ Selegierens thematisiert werden, wird deutlich, dass Fördermaßnahmen als ein Instrument angesehen werden, um ungleichen Teilhabechancen im Bildungssystem erfolgreich zu begegnen. Insbesondere infolge einer Inflation an Schulleistungsstudien, wurde v. a. die Erhöhung der aufwĂ€rtsorientierten DurchlĂ€ssigkeit des Schulsystems diskutiert. Durch entsprechende ReformbemĂŒhungen hatte dies jedoch faktisch eine Erhöhung des Selektionsdrucks zur Folge, der durch eine Entflechtung des förderorientierten Beurteilens von der selektionsrelevanten Begutachtung lediglich verschleiert wird. Bezug nehmend auf Oser/Spychiger (2005) [1] wird die Hauptthese benannt, nĂ€mlich „dass die Lehrperson aufgrund ihres Selektionsauftrags nicht umhin kann, einem Teil ihrer SchĂŒlerinnen und SchĂŒler‚pĂ€dagogisch sinnlosen Schmerz‘ zuzufĂŒgen“ (11). Hieraus entstehe das eigentliche professionelle Dilemma, da dies ein fruchtbares „ArbeitsbĂŒndnis“ mit den SchĂŒler/innen unmöglich mache (12). Zwar gebe es „pĂ€dagogisch sinnvolle Schmerzen“ (wie beim „Fehlermachen“ und „Korrigiertwerden“), die von den SchĂŒler/innen in Kauf zu nehmen seien, weil sie deren Entwicklung förderten, die „pĂ€dagogisch sinnlosen Schmerzen“ dagegen fĂŒhrten bei den Betroffenen zu einer fortdauernden narzisstischen KrĂ€nkung und erhöhten aus deren Sicht jede Geste und Mimik der Lehrperson zu einem selektionsrelevanten Signal (12).

Die zentrale Frage der Studie liegt bei den HintergrundĂŒberzeugungen, die die interviewten Lehrpersonen zur Interpretation des genannten Problems heranziehen. Das Ziel ist die Erstellung einer Typologie von Deutungsmustern, die – wenngleich die empirische Erhebung sich ausschließlich auf Lehrpersonen aus Bern beschrĂ€nkt – auf den deutschsprachigen Raum ĂŒbertragbar sei.

Im zweiten Kapitel wird eine professionstheoretische Perspektive auf den Lehrberuf entworfen, die historische Aspekte zur Entwicklung des modernen Schulwesens und des Lehrberufs sowie eine Diskussion soziologisch-pÀdagogischer Theorien zum SpannungsverhÀltnis von Fördern und Auslesen einbezieht.

Im dritten Kapitel wird das identifizierte Handlungsproblem zugespitzt sowie das methodische Vorgehen der Studie dargestellt. Das fĂŒr den „modernen Lehrberuf konstitutive Kernproblem ‚Fördern und Auslesen‘“ (64) werde durch berufliche Sozialisation in „allgemeinen handlungsleitenden Routinen absedimentiert“ und rekurriere auf ein â€žĂŒberindividuelles Wissen“ (ebd.), das im Zentrum des Interesses der Studie stehe. Mit den interviewten Stadtberner LehrerInnen wurden nicht-standardisierte, „problemzentrierte“ InterviewgesprĂ€che gefĂŒhrt, die der Darstellung ihrer Sicht breiten Raum ließen und die nach den Regeln der „objektiven Hermeneutik“ ausgewertet wurden (66ff.), wobei schließlich „Strukturgeneralisierungen“ zu einer Typenbildung fĂŒhrten.

Im vierten Kapitel werden die Besonderheiten des Berner Bildungswesens detailliert ausgefĂŒhrt.

Im zentralen und umfĂ€nglichen fĂŒnften Kapitel werden die Ergebnisse vorgestellt und die im empirischen Material identifizierten fĂŒnf Deutungsmuster-Typen fĂŒr das Handlungsproblem des Förderns und Auslesens beschrieben. Die Darstellung erfolgt jeweils mit Hilfe ausfĂŒhrlicher Zitate aus den Interviews und deren Analyse nach dem objektiv hermeneutischen Verfahren. Im Folgenden wird lediglich auf die beiden Extremtypen etwas ausfĂŒhrlicher eingegangen.

Bei Lehrpersonen, die dem Typ 1 „Auslese der Besten“ (109ff) zugeordnet wurden, findet sich ein stark Elite orientiertes Denken, das von einer Polarisierung innerhalb der Klassengemeinschaften ausgeht: Auf der einen Seite stehen ihrer Auffassung nach diejenigen, die ins Gymnasium gehören und sich durch Brillanz und (Hoch-) Begabung auszeichnen; auf der anderen Seite finden sich diejenigen, die schwerfĂ€llig in der Auffassungsgabe sind, denen die Motivation zum Lernen fehlt, die hĂ€ufig den Unterricht stören und Gewaltpotenzial mitbringen (137). Zur ErklĂ€rung der Unterschiede zwischen beiden Gruppen werden familiĂ€re Herkunft und damit zumeist Erziehungsleistungen der Eltern herangezogen sowie Veranlagungen, also ein genetisches Deutungsmuster, das hĂ€ufig im Zusammenhang mit auslĂ€ndischer Herkunft der derart klassifizierten SchĂŒler/innen zu einer Ethnisierung des Problems fĂŒhrt (ebd.). Selektion trĂ€gt in diesem Deutungsmuster-Typ der „quasi-natĂŒrlichen Auslese“ Rechnung und diene insbesondere der gesellschaftlich notwendigen Förderung der Begabten. Diese HintergrundĂŒberzeugung geht mit der Forderung nach verschĂ€rfter Selektion einher. Bezeichnend bei Lehrpersonen dieses Typs ist deren SelbsteinschĂ€tzung, SchĂŒler/innen „sehr frĂŒh schon ‚richtig‘ einschĂ€tzen zu können“ (139). Das angelegte Leistungsvermögen der SchĂŒler/innen wird als unverĂ€nderbar angesehen, womit bei „richtiger“ EinschĂ€tzung durch die Lehrperson eine DurchlĂ€ssigkeit des Schulsystems sogar ĂŒberflĂŒssig werde. Fördern und Auslesen erscheint nicht als Widerspruch und das ZufĂŒgen „sinnlosen Schmerzes“ in FĂ€llen von Negativselektion wird mit dem moralischen Wert der Offenheit und Ehrlichkeit legitimiert, mit der dies von Seiten der Lehrpersonen geschehe.

Bei LehrerInnen des Typs 2 „Selektion als Platzanweisung“(142ff) steht die Selektion im Dienste der bestmöglichen Förderung aller SchĂŒler/innen – jede/r an einem angemessenen Platz. Fördern und Auslesen erscheint nicht problematisch, da nur eine „richtige binnenschulische Platzanweisung“ (173) zu optimaler Förderung fĂŒhre. Bei Lehrpersonen des Typs 3 „Disziplinierung“ (178ff) fungiert Selektion durch die stĂ€ndig von ihr ausgehende Bedrohung als Disziplinierungsinstrument. Dabei findet sich eine eher kontrollorientierte oder eine eher leistungsorientierte Disziplinierung, die durch eine fehlende Bereitschaft zu Triebverzicht auf Seiten der SchĂŒler/innen notwendig sei (178f). Vertretern des als Typ 4 identifizierten Deutungsmusters „Ringen um das ArbeitsbĂŒndnis“ (212ff) erscheint die Selektionsaufgabe der Lehrpersonen als höchst problematisch. Sie sehen in der Selektion hauptsĂ€chlich ein negatives Potenzial, das sowohl schĂŒler/innenschĂ€digend sei wie auch objektive Chancen vermindere. Daher gilt deren Bestreben v. a. einer „möglichst ‚vertrĂ€gliche[n]‘ Ausgestaltung des Zustandekommens der Selektionsentscheide“ (212) und sie versuchen, mit pĂ€dagogischen Mitteln bei den davon betroffenen SchĂŒler/innen ein EinverstĂ€ndnis mit der Negativentscheidung zu erzielen. Dies bezeichnen die Autor/innen des Buches als „perfide“, da die derart ‚Aussortierten‘ sogar noch fĂŒr das gute Gewissen der Lehrperson zu sorgen haben.

Vertreter des Typs 5 „Fördern jenseits der Selektion“ (242ff) sehen Selektion als GrundĂŒbel der Schule, das dem Fördern zuwiderlĂ€uft, siedeln das Problem jedoch auf der institutionellen Ebene an und können sich dadurch innerlich distanzieren (277). Sie plĂ€dieren fĂŒr eine selektionsfreie Schule oder zumindest fĂŒr eine spĂ€te Auslese (242). Lehrpersonen dieses Typs solidarisieren sich mit ihren SchĂŒler/innen und verstehen sich als „AnwĂ€lte“ v. a. der leistungsschwĂ€cheren, sozial benachteiligten SchĂŒler/innen (ebd.). Dabei neigen sie zu einer Selbststilisierung als „heldenhafte“ Lehrpersonen, die in der Lage sind, bei den negativ ausgelesenen SchĂŒler/innen StĂ€rken zu erkennen, die bei leistungsstĂ€rkeren Gymnasiast/innen zumeist völlig unterentwickelt seien, so etwa „Sorgfalt, ZuverlĂ€ssigkeit, bis zu einem gewissen Grad Sauberkeit wo das möglich ist, PĂŒnktlichkeit“ (252f). Gleichwohl erkennen die Vertreter/innen dieses Deutungsmuster-Typs an ihren SchĂŒtzlingen „‚objektive‘ UnzulĂ€nglichkeiten“ (253), die sie kategorial von den SchĂŒler/innen des restlichen Schulsystems unterscheide (277) und die deren Einstieg in das Berufsleben erschweren. Sie sehen dennoch keinen Anlass, durch exzessive Leistungsmessung ihren SchĂŒler/innen Schmerz zuzufĂŒgen, selbst wenn es sich um „pĂ€dagogisch sinnvollen Schmerz“ handele (256). Ihre professionelle Aufgabe liege in der „UnterstĂŒtzung, ja Therapierung jener Lernenden, die als Verliererinnen bzw. Verlierer der schulischen Auslese zu sehen sind“ (274). In diesem Deutungsmuster-Typ tritt zudem eine geschlechtsspezifische Differenzierung auf, indem dessen mĂ€nnliche Vertreter ein „SelbstverstĂ€ndnis als vaterĂ€hnliche (tendenziell heroische) Figur“ aufweisen, das familialistische ZĂŒge hat; bei den Frauen dieses Typs dagegen dominiert das Ideal einer schulstoffbezogenen, fachlichen Förderung jenseits von Leistungsmessung (275).

Im abschließenden sechsten Kapitel wird eine Integration der Ergebnisse vorgenommen und bei den identifizierten Typen Gemeinsamkeiten in Bezug auf „Inklusion und Exklusion“ herausgearbeitet. Hier erfolgt auch die „strukturelle Verortung“ der Lehrpersonen des Samples, indem deren soziale Herkunft reflektiert wird. Dabei ist es nicht verwunderlich, dass beim Elite orientierten Typ 1 („Auslese der Besten“) die Lehrpersonen „aus sozial eher gut gestellten Milieus“ stammen und diese den Sozialstatus ihrer Eltern eher reproduzieren (298). Im zweiten Typ („Platzanweisung“) finden sich mehrheitlich MĂ€nner, deren (Groß-)VĂ€ter in technischen oder kaufmĂ€nnischen Berufen tĂ€tig waren. Interessanterweise rekurrieren sie (wie mĂ€nnliche Lehrpersonen allgemein) am stĂ€rksten auf die institutionellen Bedingungen und können sich so gegen das Handlungsproblem immunisieren. Gleichzeitig unterrichten sie in Schulen, deren Einzugsgebiet eine sozial besser gestellte Klientel umfasst und Negativselektion in geringerem Umfang geschieht als in anderen Einzugsgebieten (298f). Personen, die dem Typ 3 („Disziplinierung“) zugeordnet wurden, arbeiten jeweils in Schultypen, die selbst entweder eher kontroll- oder leistungsorientiert sind. Die Leistungsorientierten sind dabei ausgeprĂ€gt fachbezogen und hĂ€ufig ĂŒber ein nicht abgeschlossenes UniversitĂ€tsstudium mit anschließender Qualifikation als Lehrer/in in den Beruf gelangt. Die Kontrollorientierten sind durch das im Schweizer Ausbildungssystem bis vor einigen Jahren ĂŒbliche Lehrerseminar, das kein Abitur erforderte und eher Fachschulcharakter aufwies (74ff), und daran anschließende Weiterqualifikation in den Oberstufenunterricht gelangt. Vertreter des Typs 4 („Ringen um das ArbeitsbĂŒndnis“) stammen zumeist aus katholisch geprĂ€gten, vergleichsweise einfachen Milieus und sind selbst soziale Aufsteiger/innen (300). Ihr Umgang mit dem Problem des Förderns und Auslesens verweist den AutorInnen zufolge „auf tiefer eingravierte Dispositionen im Sinne habitueller Eigenheiten“ (ebd.), was zur Folge habe, dass sie lediglich das „Handeln-in-der-Krise“ und kaum abstrakte Deutungsmuster des Problems beschreiben könnten (ebd.). FĂŒr den Deutungsmuster Typ 5 („Fördern jenseits der Selektion“) ließ sich kein spezielles Herkunftsmilieu identifizieren. Personen, die diesen Typus am reinsten verkörpern, sind eher Ă€lteren Jahrgangs, stammen aus dem Handwerkermilieu, haben ihre eigene Ausbildung am Lehrerseminar genossen und sich zu einem spĂ€teren Zeitpunkt noch weitergebildet. Die jĂŒngeren und mehr am Rande dieses Typs befindlichen Vertreter/innen haben MĂŒtter, die selbst im Schulumfeld tĂ€tig waren.

Das abschließende Unterkapitel beschĂ€ftigt sich mit den „Grenzen der politisch gewollten DurchlĂ€ssigkeit“ (303ff). Hier wird v. a. herausgearbeitet, dass diese DurchlĂ€ssigkeit faktisch zu einem deutlich erhöhten Selektionsdruck gefĂŒhrt hat. Zudem ließen alle identifizierten Deutungsmuster-Typen bei den die Selektion vollziehenden Lehrpersonen, eher eine „generelle ‚UnglĂ€ubigkeit‘ in Bezug auf die Möglichkeit erkennen, dass eine SchĂŒlerin, ein SchĂŒler [
] auf der Sekundarstufe I noch wird nach oben wechseln können. [
] Die [
] gefĂ€llten Selektionsentscheide werden in der Regel als richtig und daher nicht weiter korrekturbedĂŒrftig gesehen“ (305). Die AutorInnen interpretieren diese Haltung professionstheoretisch als praktikable Möglichkeit, sich „damit jene Aufgabe vom Leibe zu halten, die ihre pĂ€dagogische HandlungsfĂ€higkeit beeintrĂ€chtigt“ (ebd.). Die formale Entflechtung von förderorientierten RĂŒckmeldungen und selektionsbezogener Begutachtung erleichtert zudem den Lehrpersonen ihren widersprĂŒchlichen Alltag, ohne dass damit fĂŒr die SchĂŒler/innen der Selektionsdruck abnimmt (306f). Weder in der Bildungspolitik noch im professionellen Alltagshandeln der Lehrer/innen gehöre eine „gĂ€nzlich selektionsirrelevante Form der SchĂŒlerbeurteilung [
] zum Denkmöglichen“ (308), sodass die angestrebte höhere DurchlĂ€ssigkeit des Schulsystems als faktisch konterkariert bezeichnet werden mĂŒsse.

Die LektĂŒre des Buches kann in mehrerer Hinsicht als Ă€ußerst gewinnbringend bezeichnet werden. ZunĂ€chst einmal ist es als besonderes Verdienst der AutorInnen hervorzuheben, ĂŒberhaupt eine solche Fragestellung aufzugreifen, die die Lehrer/innen als in vieler Hinsicht bedeutsame professionelle Akteure in der Institution Schule ins Blickfeld rĂŒckt und vor dem aufgezeigten Hintergrund deren Sinnkonstruktionen beim Fördern wie Selegieren fokussiert. In der pĂ€dagogischen und bildungssoziologischen Literatur werden zumeist systematisch die SchĂŒler/innen als die Objekte der in Schulen stattfindenden BemĂŒhungen fokussiert und deren ElternhĂ€user und dort zu verankernde Defizite sowie das Schulsystem selbst als strukturelle Bedingungen pĂ€dagogischen Handelns thematisiert. Die Lehrpersonen selbst werden als diejenigen dargestellt, die pĂ€dagogische Strategien der Förderung einzusetzen haben. Selektionsentscheidungen und -handlungen werden aus deren TĂ€tigkeitsfeld eher ausgeblendet und der Institution Schule zugeschrieben. Als tragende Akteure des Förderns und Auslesens in den Schulen sind allerdings auch Lehrer/innen durch eine eigene soziale Herkunft wie auch durch eine berufliche und persönliche Sozialisation geprĂ€gt. Wenngleich die Studie das professionelle Handeln nicht durch Beobachtungen erhoben hat, sondern durch InterviewgesprĂ€che ermittelte HintergrundĂŒberzeugungen in den Blick nimmt, auf die die Lehrpersonen bei ihrem Tun rekurrieren, bedeutet diese Perspektive, auf die soziale Verankerung und GeprĂ€gtheit des professionellen Handelns hinzuweisen, was in der Forschungsliteratur bislang weit gehend unterbeleuchtet ist.

Zweitens kann das Buch als ausgesprochen gelungene Darstellung der wissenschaftlichen Konstruktion einer Forschungsfrage wie auch der methodischen Vorgehensweise angesehen werden. Der RĂŒckbezug auf ein breites Spektrum von Theorien und wissenschaftlicher Literatur, die detaillierte Darstellung der Schullandschaft und der bildungspolitischen Rahmenbedingungen, ausfĂŒhrliche Zitate aus den gefĂŒhrten Interviews sowie der Nachvollzug der objektiv hermeneutischen Analyseschritte und Fallkontrastierungen bis hin zur Typenbildung sind in ihrer Transparenz geradezu vorbildlich.

Das Buch trĂ€gt dadurch drittens dazu bei, Lehrer/innenhandeln in seinen unterschiedlichen Facetten insgesamt besser zu verstehen. Das ist v. a. deshalb wichtig, weil sowohl politische wie auch individuelle Lösungsmöglichkeiten fĂŒr das Problem des Förderns und Auslesens ohne dies nicht denkbar sind. Gleichwohl wĂ€re es gerade deshalb zu wĂŒnschen gewesen, Aspekte der sozialen Herkunft der interviewten Lehrer/innen noch tiefgehender am empirischen Material herauszuarbeiten als dies am Schluss des Bandes auf sechs Seiten geschehen ist. Wie deutlich wird, werden durch die soziale Verwurzelung der Lehrpersonen die HintergrundĂŒberzeugungen in Bezug auf Gesellschaft perpetuiert und durch die getroffenen Selektionsentscheidungen der Lehrer/innen immer wieder aufs Neue bestĂ€tigt. Dies schlaglichtartig sichtbar gemacht zu haben, ist zweifellos ein Verdienst der Studie. Eine detaillierte Betrachtung dieses Aspektes könnte allerdings eine informierte professionstheoretische Diskussion ĂŒber den Lehrberuf anregen, die den Reformbedarf sowohl im Bereich der Rekrutierung von LehramtsanwĂ€rter/innen als auch bei Ausbildungsdetails im Sinne einer zu ĂŒberdenkenden beruflichen Sozialisation genauer benennen könnte.

Zum Schluss sei mir noch eine kritische Anmerkung gestattet: Die Selbstgewissheit, mit der die AutorInnen davon ausgehen, dass den SchĂŒler/innen selbstverstĂ€ndlich Schmerz zugefĂŒgt werden mĂŒsse, nĂ€mlich pĂ€dagogisch sinnvoller, positiver Schmerz, der mit dem pĂ€dagogisch notwendigen „Fordern“ einhergehe und „Fördern“ bewirke (z. B. 11; 41; 313), hinterlĂ€sst mich nach der LektĂŒre mit einer gewissen Ratlosigkeit. Diese offenbar sehr tief verwurzelte Auffassung, dass Lernende nur als defizitĂ€re Wesen zu denken sind, deren LernbemĂŒhungen als ein „‚Gesundwerden-Wollen‘ im engsten Sinne des Wortes“ (39) zu verstehen sind und die „positive und produktive BeschĂ€mer“ (41) erfordern, macht auf erschreckende Weise deutlich, dass im schulischen Diskurs Lernen stets nur als ein bestimmtes ‚Sein-Sollen‘ gedacht werden kann. Im Umgang mit den vielfĂ€ltigen HeterogenitĂ€ten, die wir in den Schulen vorfinden, scheint das auf die Notwendigkeit der Nivellierung solcher Vielfalt hinzudeuten – eine Nivellierung, die zumindest bei mir ein ungutes GefĂŒhl hervorruft, da sie bestimmte Eigenschaften und Merkmale als gesellschaftlich legitimiert und andere als schĂ€dlich und daher korrekturbedĂŒrftig erscheinen lĂ€sst.

[1] Oser, Fritz/Spychiger, Maria (2005): Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur. Weinheim
Maja Suderland (Fulda)
Zur Zitierweise der Rezension:
Maja Suderland: Rezension von: Streckeisen, Ursula / HĂ€nzi, Denis / HungerbĂŒhler, Andrea: Fördern und Auslesen, Deutungsmuster von Lehrpersonen zu einem beruflichen Dilemma. Wiesbaden: VS Verlag fĂŒr Sozialwissenschaften 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353115346.html