EWR 11 (2012), Nr. 3 (Mai/Juni)

Katja Wohlgemuth
PrÀvention in der Kinder- und Jugendhilfe
AnnÀherung an eine Zauberformel
Wiesbaden: VS Verlag 2009
(272 S.; ISBN 978-3-531-16506-6; 39,95 EUR)
PrĂ€vention in der Kinder- und Jugendhilfe PrĂ€vention ist ein aktuelles, meist unhinterfragtes Leitbild politischen und (sozial-)pĂ€dagogischen Handelns. Davon zeugen unzĂ€hlige prĂ€ventive Maßnahmen nicht nur im Bereich der Sozialen Arbeit und der PĂ€dagogik der frĂŒhen Kindheit. Die BegrĂŒndung fĂŒr prĂ€ventives Handeln liefert dabei ein noch nicht eingetretenes, aber in der Zukunft wahrscheinliches und zugleich negativ bewertetes Ereignis und zugleich das Versprechen, zumindest aber die potentielle Möglichkeit durch einen politischen und/oder pĂ€dagogischen Eingriff den negativen Zustand abzuwehren und/oder erwĂŒnschte Effekte zu erzielen. Allein die Referenz auf eine mögliche Bedrohung und die gesellschaftlich mehrheitlich geteilte Notwendigkeit, diese Bedrohung abzuwenden, dienen als legitimatorische Grundlage fĂŒr sozial- und frĂŒhpĂ€dagogische Maßnahmen und erschweren Gegenstimmen. Kritische Stimmen indessen sehen PrĂ€vention auch als ein sozialpolitisches Kontrollinstrument, das aufgrund seiner immanenten Normorientierung und seines herrschaftsstabilisierenden Charakters, immer zugleich als Intervention im Dienst hegemonialer Interessen verstanden werden kann.

Der Gegenstand der Dissertation von Katja Wohlgemuth ist – ausgehend von der eingangs skizzierten Problemstellung – der Begriff der PrĂ€vention. Sie untersucht das BegriffsverstĂ€ndnis im sozialpĂ€dagogischen und -politischen Kontext. Dabei nĂ€hert sich die Autorin dem Begriff systematisch ĂŒber eine theoriegeleitete Heuristik und empirisch ĂŒber seine Verwendung in den Hilfen zur Erziehung. Ihr Ziel ist es, Einblicke in die VerstĂ€ndnisweisen der „Zauberformel“ PrĂ€vention in der Disziplin und Profession der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Sozialpolitik zu erhalten.

ZunĂ€chst nimmt Wohlgemuth eine KlĂ€rung der Verwendungsweisen des Begriffs in verschiedenen Kontexten vor und arbeitet definitorische Elemente des PrĂ€ventionskonzepts heraus. Konstitutiv fĂŒr PrĂ€vention sei die Idee des Verhinderns (21) und damit die beabsichtigte positive Beeinflussung einer zukĂŒnftigen, als negativ erachteten Entwicklung. Damit ist ein weiteres Element von PrĂ€vention angesprochen: die ihr innewohnende NormativitĂ€t (22), vor deren Hintergrund erst eine Unterscheidung in erwĂŒnschte und nicht erwĂŒnschte, in negative und damit zu verhindernde oder positive und damit anzustrebende Ereignisse möglich sei. Damit komme PrĂ€vention eine kontrollierende und normalisierende Funktion zu, insbesondere mit Blick auf ihre so genannte kausale Argumentationslogik (s.u.). Als weiteres konstitutives Element hĂ€lt Wohlgemuth den konservativen Charakter von PrĂ€vention (ebd.) fest, da es das Ziel von PrĂ€vention sei, gegenwĂ€rtige gesellschaftliche Strukturen und Normen zu bewahren. Zudem folge der PrĂ€ventionsbegriff verschiedenen Logiken: Zum einen der Idee der KausalitĂ€t (23), d.h. derjenigen eines kausalen und zugleich (technologisch) steuerbaren Zusammenhangs zwischen gegenwĂ€rtiger Situation und zukĂŒnftiger Entwicklung. Zum anderen ist die Annahme der FinalitĂ€t (24) wesentlich. Dieser Logik ist ein ermöglichender, emanzipativer Charakter eigen, der nicht von einer intentionalen Beeinflussung von Personen ausgeht, sondern vielmehr durch die VerĂ€nderung von Strukturen und Verhalten versucht, Möglichkeiten zur BefĂ€higung von Personen zu schaffen. Auch hier geht es um ein VerfĂŒgbarmachen von Zukunft, wenngleich unter anderen Vorzeichen als bei der auf FinalitĂ€t zielenden Argumentation. Anhand dieser definitorischen Elemente arbeitet die Autorin zentrale, idealtypische Dimensionen des PrĂ€ventionsbegriffs heraus und unterscheidet analytisch vier PrĂ€ventionsformen.

Auf der Basis dieser Heuristik untersucht die Autorin die PrÀventionsdiskurse innerhalb der sozialpÀdagogischen Disziplin seit den spÀten 1970er Jahren, als der PrÀventionsbegriff in die Soziale Arbeit importiert wurde. Dabei habe seit der zweiten HÀlfte der 1990er Jahre die kausale Logik in ihren beiden Varianten (anstrebend und verhindernd) die Oberhand, was in der Disziplin kritisch konnotiert wird.

In einem weiteren Schritt analysiert Wohlgemuth PrÀvention im sozialpolitischen Kontext und unterscheidet drei Verwendungsweisen des Begriffs. U.a. soll sich PrÀvention als sozialpolitisches Instrument rechnen (90).

Im dritten Zugang wird ergrĂŒndet, wie der PrĂ€ventionsbegriff im professionellen Kontext von FachkrĂ€ften thematisiert wird, welche Implikationen er transportiert und welche Funktion er fĂŒr die FachkrĂ€fte hat (139). Die Autorin setzt methodisch Gruppendiskussionen ein und wertet diese auf der Basis der Dokumentarischen Methode aus. Ihre Studie fußt auf einem Sample von 16 FachkrĂ€ften aus dem Arbeitsfeld Hilfen zur Erziehung in zwei deutschen GroßstĂ€dten.

Wesentlich ist, dass der PrĂ€ventionsbegriff im Unterschied zur disziplinĂ€ren Debatte nicht kritisch verwendet wird. Dominant ist die Idee, mittels prĂ€ventiver Maßnahmen Probleme frĂŒhzeitig zu erkennen und diese zu verhindern, um Kinder und Jugendliche zu schĂŒtzen und Familien zu entlasten. Problematische Aspekte wie die generalisierende Logik des Verdachts werden nicht genannt. Im Gegenteil wĂŒnschen sich die FachkrĂ€fte mehr prĂ€ventive Anteile an ihrer Arbeit. Der Begriff selbst wird als unscharf beschrieben und ließe sich kaum gegen andere Fachtermini u.a. dem der Intervention abgrenzen. Wohlgemuth schlussfolgert, dass der entgrenzte PrĂ€ventionsbegriff seine AttraktivitĂ€t u.a. aus der Argumentation bezieht, dass letztlich jegliche Maßnahme dazu beitrĂ€gt eine negative Entwicklung zu beenden oder zumindest zu unterbrechen. DarĂŒber hinaus arbeitet die Autorin drei PrĂ€ventionsverstĂ€ndnisse heraus, die sie der Einzelfallarbeit, der einzelfallĂŒbergreifenden Arbeit und der PrĂ€vention als sozialpolitisches Projekt zuordnet.

Wohlgemuth resĂŒmiert, dass PrĂ€vention das Ziel verfolge, Kindern und Jugendlichen ein zufriedenes und (spĂ€ter) eigenstĂ€ndiges Leben zu ermöglichen. Dabei biete PrĂ€vention Hilfe fĂŒr Familien, Kinder und Jugendliche in einer von den FachkrĂ€ften beschriebenen, sich zum Negativen verĂ€ndernden Gesellschaft, sie biete Schutz vor sich verĂ€ndernden gesellschaftlichen Strukturen (vermehrter Drogenkonsum, mehr VernachlĂ€ssigungen). Schließlich biete PrĂ€vention Orientierung an einem traditionellen Wertekodex. Damit, so Wohlgemuth, „soll PrĂ€vention nicht nur Adressatinnen und Adressaten der Hilfen zur Erziehung eine Orientierung ermöglichen, sie tut dies auch fĂŒr die professionellen FachkrĂ€fte, indem sie dem wahrgenommenen Wandel zum Negativen ein positives bzw. anzustrebendes Gegenbild entgegensetzt und damit professionellem Handeln ein Ziel bzw. einen Sinn gibt“ (255f). Dies sei möglicherweise ein Grund fĂŒr die AttraktivitĂ€t des Begriffs.

Im Fazit hĂ€lt die Autorin fest, dass der PrĂ€ventionsbegriff in der Disziplin ĂŒberwiegend eine kritische Konnotation erfahre u.a. mit Blick auf sein mechanistisches Menschenbild und seine NĂ€he zu Strategien sozialer Kontrolle. In der Sozialpolitik indessen gebe es weit weniger Problembewusstsein; vielmehr sei PrĂ€vention mit der „Verheißung der Machbarkeit“ (258) verbunden. Im Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung schließlich markiere PrĂ€vention zunĂ€chst einen Anspruch an das eigene professionelle Handeln und sei zugleich Teil des Selbstbildes. PrĂ€vention sei hier die Maxime des Handelns und nahezu ausschließlich positiv besetzt. Ein Problem ergebe sich lediglich aus dem Dilemma des diagnostizierten Werteverfalls einerseits, der PrĂ€vention mehr denn je erforderlich mache und andererseits der Wahrnehmung, dass PrĂ€vention im Arbeitsalltag zu kurz komme. Es gebe verschiedene Wege, wie FachkrĂ€fte diese Paradoxie professionellen Handelns lösen könnten. Wohlgemuth beobachtet, dass es zur Umdeutung des Begriffs kommt, indem PrĂ€vention auf die Idee des Verhinderns von Schlimmerem reduziert werde, so dass quasi jegliche pĂ€dagogische Maßnahme als prĂ€ventiv ausgelegt werden kann.

Alles in allem legt Wohlgemuth eine aktuelle und innovative Arbeit vor, die die vielfĂ€ltigen Facetten des PrĂ€ventionsbegriffs in drei Kontexten unter die Lupe nimmt. Dabei arbeitet sie Überschneidungen im PrĂ€ventionsverstĂ€ndnis und Unterschiede in der Anwendung des Begriffs in der Disziplin, der Sozialpolitik und dem Arbeitsfeld Erzieherische Hilfen heraus. Die Argumentationen der Autorin sind plausibel und ermöglichen interessante, anschlussfĂ€hige Fragen.

Kritisch anzumerken ist, dass Wohlgemuth ihre Vorgehensweise wenig transparent darlegt und man ĂŒber die theoretischen Grundlagen und die HintergrĂŒnde ihrer Analysen somit kaum etwas erfĂ€hrt. Es bleibt unklar wie sie die Verwendung des PrĂ€ventionsbegriffs in der sozialpĂ€dagogischen Disziplin untersucht. Dabei ist auch nicht nachvollziehbar welche Autoren sie als „legitime Sprecher“ der Disziplin ansieht, die dem PrĂ€ventionsverstĂ€ndnis ablehnend und nahezu ausschließlich kritisch gegenĂŒberstehen. Eine eher affirmative Lesart von PrĂ€vention taucht damit im disziplinĂ€ren Diskussionszusammenhang z.B. gar nicht auf. Ebenfalls nicht transparent sind die Rekonstruktionen der sozialpolitischen Position. Eine methodisch reflektierte Vorgehensweise ist allein im Abschnitt zum Arbeitsfeld Erzieherische Hilfen zu erkennen; beide zuvor dargelegten Analysen lassen eine empirische UnterfĂŒtterung vermissen.

Dennoch macht die Autorin auf Ă€ußerst spannende Begriffsverwendungen aufmerksam, die es lohnt vertiefend und in regelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden erneut zu untersuchen auch angesichts aktueller disziplinĂ€rer, sozial- und professionspolitischer VerĂ€nderungen.
Tanja Betz (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tanja Betz: Rezension von: Wohlgemuth, Katja: PrĂ€vention in der Kinder- und Jugendhilfe, AnnĂ€herung an eine Zauberformel. Wiesbaden: VS Verlag 2009. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353116506.html