EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)

Marita Kampshoff / Claudia Wiepcke (Hrsg.)
Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft / Springer Fachmedien 2012
(512 S.; ISBN 978-3-531-18222-3; 59,99 EUR)
Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik Die Geschlechterperspektive hat mittlerweile in vielen Bereichen schulpädagogischer und erwachsenenbildnerischer Arbeitsfelder einen festen, wenngleich oft eher wenig prominenten Platz. Bezüge zur Differenzkategorie Geschlecht werden üblicherweise in den Fachdiskussionen mitgeführt, wie beispielsweise in der Frage nach der Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern, nach dem angemessenen Umgang mit Heterogenität in der Schule, nach einer lernförderlichen Hochschuldidaktik oder auch nach Kriterien bei bereichsbezogenen Stellenbesetzungen und Karrierefragen. Konsequent und mit entsprechender Tiefe oder Sensibilität sind es allerdings erst einzelne Gruppen in Wissenschaft und Praxis, die die Bedeutung der Kategorie Geschlecht verfolgen, wie dies beispielsweise im Rahmen der aktuellen Koedukationsforschung geschieht. Häufig findet man eine eher gröber geschnitzte Umgangsweise, die mitunter unwissentlich zur Dramatisierung von Geschlecht tendiert und damit ungewollt der Zementierung von Geschlechtergrenzen zuarbeitet.

Marita Kampshoff und Claudia Wiepcke haben mit dem vorliegenden Band eine erste Bestandsaufnahme herausgebracht, in welchen Bereichen schulischen Denkens und Handelns die Geschlechterforschung Befunde zur Verfügung stellt, die konzeptionell weitertragend sind, und wo und wie die dazugehörige Praxis mit der Geschlechterperspektive arbeitet. Sie geben auf diesem Weg zugleich einen Anstoß zur Weiterführung oder Belebung der fachbezogenen Diskurse. Der primäre Fokus ihres Handbuchs liegt dabei auf der Schule und ihren Fachdidaktiken, aber die Herausgeberinnen öffnen bereits den Kreis hin zu Forschungs- und Arbeitsfeldern der Erwachsenenbildung, um deren Lückenhaftigkeit sie selbst wissen, aber einen Anfang setzen möchten und damit zugleich auf offene Themenfelder für weitere Veröffentlichungen verweisen.

Das Handbuch beginnt mit „Grundlagen“ in Teil I. Hier bieten Karl-Heinz Arnold und Anne-Elisabeth Roßa eine Einführung in die Allgemeine Didaktik und die Fachdidaktik. Hannelore Faulstich-Wieland und Marianne Horstkemper eröffnen den Blick auf den Bestand der schulbezogenen Geschlechterforschung und Paula-Irene Villa nimmt die Leserinnen und Leser mit in die Geschlechtertheorie. Die Beiträge lesen sich sehr gut als systematische, komprimierte Einführungen für eine in den Themenfeldern noch erfahrene Leserschaft sowie als Auffrischung für die Fachpersonen.

Teil II mit dem Titel „Schulfächer“ erscheint als das Herzstück des Bandes. Hier verfolgen die Herausgeberinnen das Ziel, eine umfassende Zusammenschau dazu anzubieten, welche Rolle die Geschlechterperspektive in den heutigen Fachdidaktiken einnimmt und wie weit innerhalb der jeweiligen Disziplin der Geschlechterdiskurs aufgegriffen wurde. Sie konnten viele namhafte Autorinnen und Autoren gewinnen, die den Status Quo ihrer Fachdidaktik zusammengestellt haben, und somit ist es gelungen, ein breites Tableau derzeitiger Diskussionen in den vielzähligen Fachdidaktiken zu schaffen.

Als kleine Einbußen sind in diesem großen Reigen zu verzeichnen, dass es keinen Beitrag zur Mathematikdidaktik gibt, was u.a. dahingehend gelesen werden kann, dass sich die dortige Fachdebatte der Frage nach Geschlechterbezogenheit noch nicht in dem Maße angenommen hat, wie es allein schon die Kompetenzausprägungen in den Schulleistungsvergleichsstudien (vgl. PISA) dem Fach nahelegen würden. Auch die Kunstdidaktik fehlt, wird zwar am Rande in der Diskussion zur Ästhetischen Bildung (Jeanette Windheuser) in Teil IV aufgegriffen, was allerdings die Lücke dennoch nicht ganz zu schließen vermag. Auch auf das Fehlen von Musik und Sozialwissenschaften machen die Herausgeberinnen selbst aufmerksam.

Darüber hinaus bietet der Band lobenswerterweise auch den Blick auf die Geschlechterperspektive über die Fächer hinaus, beispielsweise auf fächerübergrei¬fende Didaktikdiskussionen, die an Alterstufen orientiert sind wie beispielsweise zum Anfangsunterricht oder an Bereichen außerhalb der allgemeinbildenden Schule wie zum Beispiel zur Beruflichen Bildung. Ferner findet sich die Geschlechterfrage innerhalb übergreifender Bildungsperspektiven berücksichtigt wie im Rahmen der Interkulturellen Pädagogik, der Umweltbildung oder der Gesundheitsförderung. Zwar darf man nicht erwarten, dass jeder dieser Beiträge streng schulbezogen ausgerichtet und damit in gleichem Maße für das schulische Handeln Orientierung gebend ist, wie dies für die Fachdidaktiken der Fall ist, aber sie eröffnen wichtige Perspektiven innerhalb der schul- und erwachsenenbildnerischen „Querschnittsperspektiven“ (Titel des Teils IV) und regen dazu an, ihre Konzepte und konkreten Aufgaben für Gleichstellung weiterzudenken.

Ein letzter, wenn auch in der Gliederung des Bandes mittig gesetzter Baustein (Teil III Wissenschaftsdisziplinen) wechselt von der Schule zur Hochschule und bietet Erkenntnisse zu Geschlecht in einem deutlich kleineren Reigen ausgewählter Wissenschaftsdisziplinen an. Hier setzen die Herausgeberinnen in ihrem Handbuch einen Anfang, bieten eine erste Auswahl. Sigrid Metz-Göckel skizziert zunächst die allgemeine hochschuldidaktischen Befundlage und zwei weitere Autorinnen widmen sich zwei bereits in der Studienfachwahl nicht ohne Geschlechterbezug zu denkenden Hochschulfächern, nämlich der Informatik (Britta Schinzel) und den Ingenieurwissenschaften (Susanne Ihsen). In diesen Exempeln werden u.a. die zahlenmäßig differente Teilhabe der Geschlechter innerhalb des Fachstudiums thematisiert, Leitbilder der Disziplin und das Selbstverständnis der Akteurinnen und Akteure beschrieben sowie einzelne hochschulpolitische und -didaktische Maßnahmen angerissen.

Das Kapitel zu den Wissenschaftsdisziplinen beinhaltet ferner einen Beitrag zur Schulpädagogik (Martina Walther) und zur Psychologie (Gisela Steins), beides Fächer, die ebenfalls nicht ohne den Genderbezug z.B. in der Studienfachwahl zu denken und überdies zugleich Grundlage in der Ausbildung einer jeden Lehrkraft sind und somit Mitverantwortung für deren (genderbezogene) Professionalisierung tragen. In den Beiträgen werden entsprechend auch Geschlechterverhältnisse der wissenschaftlichen Disziplin und die allgemeindidaktischen und psychologischen Grundlagen zu Interaktionen, Leistung etc. im Lehrer-Schülerkontakt bzw. im Unterricht ausgebreitet.

Die fachdidaktischen Beiträge wie auch die der Wissenschaftsdisziplinen und der Querschnittsdisziplinen folgen in der Regel einem vierschrittigen Aufbau: (1) Eingangs wird jeweils der Stand der Geschlechterforschung in der Disziplin zusammengefasst und dabei auch die historische und soziokulturelle Einordnung der Entwicklung der Geschlechterforschung sowie ihre Bedeutung für das Fach beschrieben. Die geschlechtertheoretische Verortung der Autorinnen und Autoren ist nachzuvollziehen und auf die Stärken und Schwächen der jeweiligen geschlechterbezogenen Forschung wird aufmerksam gemacht. (2) Außerdem wird die Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit innerhalb des jeweiligen Bereichs gestellt und dabei auf die Konstruktion von Geschlecht und die Herstellung eines bestimmten Geschlechterverhältnisses fokussiert. Falls dazu noch wenig in der jeweiligen Debatte herausgearbeitet wurde, stellen die Autorinnen und Autoren zukünftig aufzugreifende Fragen in den Raum und eröffnen die Perspektive auf Dekonstruktion und weitere Differenzierungen. (3) Im letzten Schritt führen die Autorinnen und Autoren zu den Einflüssen der aktuellen Bildungsforschung auf die Fachdisziplin und den sich daraus ableitenden Forschungsbedarf. Gemeinsamkeiten und Differenzen der Geschlechter werden in den Blick genommen und Konsequenzen für die Praxis, konzeptuelle Überlegungen für die Zielsetzung von Geschlechtergerechtigkeit werden angeboten.
Die meisten Aufsätze halten es ein, diese inhaltlichen Akzentuierungen zu thematisieren, doch letztlich variieren die Autorinnen und Autoren leicht – auch aufgrund der Abhängigkeit vom jeweiligen Stand im Fachdiskurs. Das schmälert nicht, dass es durchweg eine gewinnbringende Zusammenschau zentraler Forschungsergebnisse zum Geschlechterverhältnis in der jeweiligen Fachdidaktik oder Disziplin gibt.

Nicht zuletzt aufgrund der Ausrichtung auf die Analyse des Geschlechterverhältnisses changieren manche Autorinnen und Autoren zwischen Dramatisierung und Entdramatisierung, bringen wohl bereits auch dekonstruktivistische Standpunkte ein, bleiben jedoch mitunter in latenter Dramatisierung beispielsweise in ihren Praxisbeispielen verhaftet. Auch dieser Band steht in der grundsätzlichen Schwierigkeit (die die Herausgeberinnen selbst ansprechen), viel Raum für die Dramatisierung und damit Gegenüberstellung von Jungen und Mädchen, Männern und Frauen zu schaffen. Je nach eigenem geschlechtertheoretischen Standpunkt und Status Quo in der Fachdebatte gelingt es manchen Autorinnen bzw. Autoren deutlicher als anderen, auch noch weit in die nötige Entdramatisierung hinein zu denken und Praxismöglichkeiten zu konzeptualisieren. Empfehlungen, die für das didaktische Handeln in der Schule ausgegeben werden, folgen daher bei manchen Autorinnen und Autoren eher dem Duktus „allen SchülerInnen beides“, worin sich latent eine dramatisierende Strategie verbirgt, die angesichts der derzeitigen Vielfaltsperspektive auf schulischen Unterricht durchaus noch weiter aufgelöst werden könnte.

In vielen anderen Beiträgen folgt die Argumentation letztlich der Auffassung, dass es sinnvoll sein kann, Variables anzubieten und mit der Auswahlmöglichkeit Passung herzustellen. Kein Beitrag diskutiert allerdings die sich konsequenterweise anschließende Frage, wie es gelingen kann, junge Menschen ohne Geschlechtergrenzziehung zu betrachten, sie mit einem variablen Angebot in Kontakt zu bringen und trotzdem dazu anzuregen bzw. zu erreichen, dass der/die Einzelne sich nicht einfach mehr Desselben, des Vertrauten zuwendet, sondern sich für Neues, bezogen auf die bisherige Erfahrung eher Unvertrautes, mitunter auch Mühsames zu öffnen. Den Mädchen wie den Jungen wäre im heutigen Bildungsverständnis nur bedingt gedient, wenn sie aufgrund von Wahlfreiheit lediglich in „alten Wassern“ weiterführen. Dies könnte für viele (geschlechterbezogene) fachdidaktische Diskussionen eine Weiterführung bedeuten.

Das Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik richtet sich, folgt man den Herausgeberinnen, an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Lehrkräfte und Studierende sowie an Personen, die in der pädagogischen und didaktischen Praxis außerschulischer Arbeitsfelder tätig sind. Im Sinne eines reichen Fundus werden alle Personengruppen darin viel Anregung finden, besonders aber werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende davon profitieren, die für ihre theoretischen, konzeptuellen und forschenden Aufgaben vielzählige empirische Informationen und theoretische Überlegungen herauslösen können. Für jene, die in der Praxis arbeiten, stellt das Handbuch eher eine Anregung dar, die eigenen Geschlechtervorstellungen zu überprüfen und Kenntnis vom Forschungsstand ihres Faches zu erhalten. Nur vereinzelt erhalten sie Orientierung für die konkrete Praxis. Für sie bietet der Band allerdings auch eine komprimierte und sehr informative Einführung in die Fachdidaktik, in zentrale Befunde der geschlechterbezogenen Schulforschung und in die großen Entwicklungsstränge geschlechtertheoretischen Denkens.

Im großen Angebotsreigen des Bandes ist die Dopplung durch denselben Forschungsreferenzrahmen der Fachdidaktik des naturwissenschaftlichen Unterrichts und den Fachdidaktiken Physik/Chemie verzeihbar, weniger glücklich ist die nicht differenzierte Perspektive auf Männlichkeit als Gegensatz zu Weiblichkeit, die letztlich nur auf eine Variante, nämlich auf die hegemoniale Männlichkeit rekurriert und schuldig bleibt, die Debatte um vielfältige Formen von Männlichkeiten in die eigene Diskussion zu integrieren. Ungeachtet dessen machen die jeweiligen Akzentuierungen, Bezüge und Begleitbemerkungen, die in jedem Aufsatz immer wieder etwas Neues vorhalten, auch das Querlesen lohnenswert und versorgen mit spannenden Impulsen auf verschiedenen Ebenen, wie beispielsweise die Definitionsdiskussion des Begriffs Gender (Martin Lücke zur Fachdidaktik Geschichte) oder die forschungsmethodische Diskussion zur begrenzten Tragfähigkeit von Mittelwertberechnungen (Toni Tholen und Kerstin Stachowiak zur Fachdidaktik Deutsch/Literatur).

Ein auf alle Fälle sehr empfehlenswerter Band, auf dessen Weiterführung und Fortsetzung zu hoffen ist.
Katja Kansteiner (Weingarten)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katja Kansteiner: Rezension von: Kampshoff, Marita / Wiepcke, Claudia (Hg.): Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft / Springer Fachmedien 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978353118222.html