EWR 14 (2015), Nr. 2 (März/April)

Marcel Helbig
Sind Mädchen besser?
Der Wandel geschlechtsspezifischen Bildungserfolgs in Deutschland
Frankfurt / New York: Campus Verlag 2012
(337 S.; ISBN 978-3-5933-9754-2; 39,90 EUR)
Sind Mädchen besser? Ausgangspunkt der Dissertation von Marcel Helbig ist der Befund quantitativer Studien, dass Mädchen seit den 1990er Jahren sowohl günstigere Gymnasialverläufe aufweisen als auch bei der Abiturquote ihre Mitschüler überholt haben. Der Autor konzentriert sich auf die Frage, wie es zu den – von ihm anhand eines akribisch zusammengetragenen Forschungsstands dargelegten – geschlechtstypischen Veränderungen bei der Erlangung des Abiturs gekommen ist. Dafür ergänzt er die bereits existierenden Forschungsergebnisse aus den letzten fünf Jahrzehnten in Deutschland mit denen aus anderen Ländern und verknüpft diese mit Theorien verschiedener Disziplinen sowie am Schluss seiner Arbeit mit den Ergebnissen seiner eigenen Studie.

Helbig präsentiert ein ambitioniertes Forschungsprogramm, welches er in drei Schritten absolviert. Zunächst erläutert er den geschlechtstypischen Wandel der Bildungsergebnisse in Deutschland mit Hilfe der Konstrukte Intelligenz, kognitive Schulleistungen, Noten, Übergang auf das Gymnasium, Gymnasialverlauf und Zertifikate. Als nächstes trägt er Studien zusammen, die Hinweise darauf geben könnten, wodurch zum einen geschlechtstypische Bildungsergebnisse und zum anderen deren Wandel zustande gekommen sind. Helbig kontextualisiert seinen Forschungsgegenstand sorgfältig und nutzt u. a. Erklärungen aus Psychologie und Sozialpsychologie, um Identität und Selbstwahrnehmung der Geschlechter zu erklären. Er blickt auf internationale Forschungsergebnisse und lässt selbst Debatten aus dem populärwissenschaftlichen Bildungskontext nicht außen vor; letzteres um z. B. den Mythos der Feminisierung der Bildung oder den der Krise der Jungen zu entkräften. Anschließend formuliert er im dritten Schritt Hypothesen, die an Daten zweier Studien (NEPS – Etappe 8: Weiterbildung und Lebenslanges Lernen; ALWA: Arbeiten und Lernen im Wandel) geprüft werden. Beide Studien diskutiert Helbig, bevor eine Sekundäranalyse – seine Ergebnisse und eine Zusammenfassung – und ein Ausblick seine Forschungsarbeit abschließen.

Auf sprachlicher und konzeptioneller Ebene trifft der Autor Entscheidungen, die zum einen zu Unschärfen führen und zum anderen zur Vereinfachung der Sachverhalte. Durch den Gebrauch des generischen Maskulinums werden Unschärfen hervorgerufen, die gerade bei einem Thema wie diesem, bei dem es um Differenzen zwischen Geschlechtern gehen soll, zu Irritationen führen. So fällt es an einigen Stellen nicht leicht zu verstehen, um welche Gruppe es sich handelt, wenn allgemein von „Schülern“ (63) die Rede ist. Eine weitere sprachliche Vereinfachung mit inhaltlichen Folgen betrifft den Titel des Buches. Nach der anfänglichen Vermutung, dass es sich hier um ein stilistisches Mittel handelt, um neugierig zu machen oder zu provozieren, wird bei der Lektüre schnell klar, dass sich der Titel aus dem differenztheoretischen Blick auf Geschlecht in der vorliegenden Forschungsarbeit ergibt. Es findet sich selten ein Hinweis darauf, dass Helbig den Blick weg von den Jungen und den Mädchen als monolithische Einheiten hin zu bestimmten Jungen und Mädchen erweitert. Die Auseinandersetzung mit der sozialen Herkunft von Schülerinnen und Schülern, die sich bei Helbig vor allem auf die weiblichen Mitglieder bezieht – wie bei Bildungsaspirationen von Eltern für Töchter oder Erwerbstätigkeit der Mütter –, hätte in diesem Zusammenhang ausgebaut werden können. Weitere Spezifizierungen des jeweiligen Herkunftsmilieus der Schülerinnen und Schüler, die zur Differenzierung innerhalb der Geschlechtskategorien in der Forschung beitragen würden, finden nicht statt, obwohl in der Einleitung des Buches die These aufgestellt wird, dass die soziale Herkunft der Kinder und Jugendlichen eine bedeutende Rolle beim Bildungsverlauf spielt und bereits andere Studienergebnisse und methodische Überlegungen zeigten, dass eine genauere Betrachtung hier erhellend sein könnte [1, 2]. Andere Faktoren mit in den Blick zu nehmen, wie z. B. das Doing Gender in der Schule, wären wünschenswert gewesen.

Unabhängig von den sprachlich-konzeptionellen Kritikpunkten zeigt Helbigs Dissertation deutlich, wie komplex ein Phänomen wie das des Bildungserfolgs ist. Bei näherer Betrachtung und Zusammenführung der einzelnen Studien kommt es nicht selten vor, dass entgegengesetzte Ergebnisse zu einem Forschungsgegenstand aufgedeckt werden (u. a. 285), und es zeigt sich, dass die Frage seines Titels nicht so einfach beantwortet werden kann. Schließlich gibt Helbig aber doch eine Antwort auf die Fragen „Sind Mädchen besser?“ und wenn ja, „Wie kam es dazu?“ (17): Ja, Mädchen sind (auf dem Gymnasium) besser und dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sie eine höhere Leistungsbereitschaft und höhere sprachliche Kompetenzen aufweisen. Nach all den diskutierten Aspekten erscheint dies zunächst banal. Darüber hinaus ist diese Erkenntnis nicht neu, sondern bestätigt lediglich bereits vorhandene Studienergebnisse (279). Helbig zeigt aber im Folgenden, dass gegenwärtig gesellschaftliche und institutionelle Umstrukturierungen greifen, die Mädchen dazu verhelfen, Leistungsbereitschaft und Kompetenzen in Zertifikate umzuwandeln. Wirklich interessant ist die Anmerkung des Autors, die er als Konsequenz seiner Forschungsergebnisse aufführt und die in Anbetracht der Theorie, der er sich bedient, als sehr eigenwillige These herausgestellt werden muss. So sieht Helbig die mangelnde Leistungsbereitschaft der Jungen, die ihnen beim Bildungserfolg im Weg steht, als Folge der von Connell beschriebenen „patriarchalen Dividende“. Die Theorie beschreibt das Verhältnis der Geschlechter unserer Zeit als ein solches, bei dem alle Personen, die dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, hierarchisch von einer Höherstellung allem Weiblichen gegenüber profitieren. Dies führt laut Helbig dazu, dass Jungen sich auf einen ihnen innewohnenden Expertenstatus gegenüber den Mädchen in der Schule verlassen und die notwendigen Fähigkeiten für einen Schulerfolg, der dem von den Mädchen entspräche, nicht ausbauen. Als Quintessenz daraus folgert er, dass es ohne eine echte Gleichberechtigung und somit den Abbau der patriarchalen Dividende keine Verbesserung für die Jungen in Sachen Bildungserfolg geben wird. Dass Bildungserfolg generell über den Erwerb von Schulabschlüssen hinaus wirken müsste und, dass sich schließlich die patriarchale Dividende in Form der sog. gläsernen Decke in der Arbeitswelt junger Frauen zum Vorteil der jungen Männer auswirkt, wie Jutta Allmendinger im Vorwort dieser von ihr betreuten Dissertation beschreibt, berücksichtigt er dabei nicht.

Das Buch ist dennoch ein gutes Übersichtswerk für Personen, die sich mit Interesse an empirischen Befunden mit dem Thema beschäftigen möchten, auch durch die Ergänzung zum Buch, die im PDF-Format auf der Internet-Seite des Campus-Verlags zu finden ist. Zum besseren Verständnis und zur besseren Lesbarkeit, auch für Einsteiger in die Thematik, werden Inhalte der jeweiligen Kapitel vorweg beschrieben und Zwischenfazite eingefügt. Dies kann für eine fachkundige Leserschaft etwas redundant wirken, bietet jedoch auch die Möglichkeit, das Buch lediglich kapitelweise zu nutzen.

[1] Hagemann-White, C.: Die Konstrukteure des Geschlechts auf frischer Tat ertappen? Methodische Konsequenzen einer theoretischen Einsicht. In: Feministische Studien, 2, 1993, 68–78, vgl. 76.
[2] Kimmel, M.: Jungen und Schule: Ein Hintergrundbericht über die „Jungenkrise“, In: Forster, E. / Rendtorff, B. (Hrsg.) (2011a): Jungenpädagogik im Widerstreit. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2011, vgl. 33ff.
Lydia Jenderek (Paderborn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lydia Jenderek: Rezension von: Helbig, Marcel: Sind Mädchen besser?, Der Wandel geschlechtsspezifischen Bildungserfolgs in Deutschland. Frankfurt / New York: Campus Verlag 2012. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978359339754.html