EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)

Agnieszka Czejkowska / Susanne Spieker
Innere Sicherheit
Jahrbuch fĂŒr PĂ€dagogik 2019
Berlin: Peter Lang 2019
(386 S.; ISBN 978-3-631-84162-4)
Innere Sicherheit Das vorliegende Jahrbuch der PĂ€dagogik 2019 „Innere Sicherheit“ trĂ€gt gewinnbringend zur Diskussion von Problemstellungen um „‚PĂ€dagogiken‘ und Felder innerer Sicherheit“ (S. 9) bei.

In dem sehr konzisen Editorial des Jahrbuchs werden im Anschluss an das interdisziplinĂ€r ausgerichtete Forschungsprogramm der „Sicherheitskultur“ (Daase et al.) und weitere problematisierende ForschungsansĂ€tze zum Thema (PĂ€dagogik und) Sicherheit zwei Probleme markiert: „erstens die voranschreitende PĂ€dagogisierung jener Bereiche, die als Sicherheitsrisiko definiert werden, zweitens die zunehmende Verlagerung der staatlichen Sicherheitsfrage nach ‚innen‘, in das Gesellschaftliche und Private.“ (S. 9) Insofern geht „Innere Sicherheit“ in dieser kritischen Perspektivierung ĂŒber die ordnungspolitische Dimension hinaus und koppelt diese an das Innere der Subjekte, an Subjektivierungsprozesse, Diskurse und darin verwickelte und darauf antwortende Praktiken und Strategien. DarĂŒber hinaus werden einige Fragen formuliert, die auf ganz unterschiedliche Perspektiven verweisen und damit ein Forschungsfeld breit auffĂ€chern.

Das erste Kapitel „Aktuelle Fragen innerer Sicherheit“ beginnt mit zwei BeitrĂ€gen zu Herausforderungen fĂŒr die PĂ€dagogik angesichts der Klimakrise. Ulrich Brand und Gerd Steffens deuten die anhaltende gesellschaftliche Handlungsverweigerung als Ausdruck einer sich selbst immunisierenden und immer wieder reproduzierenden, statusorientierten „imperialen Lebensweise“. Diese gelte es durch eine „sozialökologische Transformation“ zu ĂŒberwinden, die Bildung einen zentralen Stellenwert zuschreibe und an den Idealen MĂŒndigkeit, konstruktiver KonfliktivitĂ€t sowie „der regulativen Idee einer guten Gesellschaft“ (S. 35) festhalte.

Henning Schluß vertritt dagegen die sehr eindrĂŒckliche These, dass die Klimakrise gerade die Fundamente der neuzeitlichen PĂ€dagogik ins Wanken geraten lasse, da sie das „sensible VerhĂ€ltnis von Sicherheit und Unsicherheit“ (S. 44) auf das die PĂ€dagogik angewiesen sei, störe. Durch die Zunahme an Unsicherheit, vor allem im Bereich der lebenspraktischen Dimension, stehe die PĂ€dagogik vor großen Herausforderungen, die vor allem Fragen aufwerfen. Der Beitrag endet mit einem eindringlichen PlĂ€doyer des Autors „fĂŒr eine pĂ€dagogische Klimafolgenforschung“ (S. 50).

In den anschließenden BeitrĂ€gen des ersten Kapitels werden dann Grundbegriffe des Sicherheitsdiskurses analysiert und deren Fallstricke diskutiert. Gemeinsam ist den BeitrĂ€gen von Dominik Feldmann (Extremismus), Nils Zurawski (Sicherheit und Gefahr) und Björn Milbradt (Radikalisierung) die Argumentation fĂŒr einen reflektierten Umgang mit diesen. Außerdem wird jeweils das ‚Außen‘ der inneren Sicherheit problematisiert: die vermeintlichen extremistischen RĂ€nder einer politischen Mitte, die prĂ€ventiv-antizipierte Radikalisiertheit etwa von Muslim*innen und das besondere Risiko, das als von Jugendlichen ausgehend konstruiert werde.

Unterschiedlich deuten die Autoren dabei jedoch die Reichweite der diskutierten Begriffe sowie die Frage einer Kolonisierung der PĂ€dagogik durch ‚Versicherheitlichung‘: WĂ€hrend Feldmann etwa den Extremismusbegriff entlang seiner auch bildungstheoretisch angelegten Analyse verwirft, plĂ€diert Milbradt fĂŒr den produktiven Gehalt des Radikalisierungsbegriffs und dessen Notwendigkeit.

Den thematisch wie theoretisch wiederum anders gelagerten Abschluss des ersten Kapitels bildet der Beitrag von Agnieszka Czejkowska und Katarina Froebus. Darin skizzieren die Autorinnen unter Bezugnahme auf ĆœiĆŸek und Laclau auf prĂ€gnante Weise die Hervorbringung des „wissenden Subjekts“ im Rahmen der COVID-19 Pandemie als spezifische Form der SubjektivitĂ€t und argumentieren fĂŒr die Erweiterung der Subjekttheorie.

Im zweiten Kapitel werden Problemrahmungen der Verunsicherung kritisiert und die „Bilder und Strategien der Versicherung“ (Überschrift) als solche der herrschenden Ordnung und nicht etwa gefĂ€hrdeter Personen erkennbar. Als eine die Artikel verbindende Argumentationslinie lĂ€sst sich dabei die Absage an vereindeutigte, individualisierte Sicherheitsvorstellungen und die Öffnung fĂŒr gesellschaftstheoretische Perspektiverweiterungen sowie die Hinwendung zu Unsicherheiten und AmbiguitĂ€ten ausmachen.

So wirft der Beitrag von Susanne Spieker – anhand der Analyse einer protestantischen Gemeinschaft des 17. Jahrhunderts – die Frage auf, inwiefern das Festhalten an der Vorstellung von Kontrollierbarkeit durch die Verlagerung der Verantwortung auf die Eltern und deren datenbasierte Erziehung ein sinnvolles Konzept zur KrisenbewĂ€ltigung darstellen.

Christian Grabau und Stefan Palaver gelingt ĂŒber die literaturwissenschaftliche Analyse von sich der Kontrolle entziehenden Figuren und Medienformaten, wie dem Roman und dem Comic, eine Umkehr der Perspektive: Statt der Überwindung von Unsicherheiten wird auf die produktive Seite von Uneinholbarkeit, Uneindeutigkeit und Unvorhersagbarkeit aufmerksam gemacht, etwa fĂŒr die Reflexion von Bildungs- und Subjektivierungsprozessen.
Auch in den zwei folgenden BeitrĂ€gen geht es um die Absage an Eindeutigkeit und Dichotomisierung. WĂ€hrend Carsten Schröder und Marc Witzel ĂŒber eine theoretische Auseinandersetzung mit Emotionen zu der These gelangen, dass Freiheit und Angst im Bereich der PĂ€dagogik eben „keine starren Gegenpole, sondern in einer konstitutiven dialektischen Bewegung“ (S. 164) gedacht werden mĂŒssen, argumentiert Josef Strasser ĂŒber die Auseinandersetzung mit der Professionalisierung von Berater*innen dafĂŒr die Einteilung zwischen Handlungs- und Grundlagenwissen aufzuweichen und stattdessen Unsicherheit als konstitutives Element auch professioneller Beratungspraxis anzunehmen.

Anke Wischmann und Lothar Wigger argumentieren dafĂŒr individualisierenden Problemrahmungen kollektiver (atomarer, klimatischer, ökonomischer) Krisen und damit verbundenen Risikodiskursen und pĂ€dagogischen Bearbeitungsformen kritisch zu begegnen. Gerade diese, die gesellschaftlichen Bedingungen verschleiernden Strategien der Versicherung fĂŒhrten letztlich zu mehr Unsicherheit. Wischmann nimmt die (pĂ€dagogischen) Bearbeitungsformen der ‚PrĂ€vention‘, ‚Preparedness‘ und ‚Resilienz‘ genauer in den Blick und plĂ€diert dafĂŒr sie als „Strategien einer neoliberalen Public Pedagogy“ (S. 192) zu deuten, um ihnen wirksam zu begegnen. Wigger veranschaulicht an einem museumspĂ€dagogischen Beispiel, dass bereits die Rahmung von schĂ€dlichen VorfĂ€llen als „Katastrophen“ auf eine positivistisch halbierte RationalitĂ€t, im Anschluss an Habermas und Honneth, verweist.

Zwischen den BeitrĂ€gen des dritten Kapitels „Optimierungsregimes in Bildung und Wissenschaft“ lassen sich ebenfalls viele Überschneidungs- und AnknĂŒpfungspunkte ausmachen. Zentral ist bei (fast) allen die kritische Auseinandersetzung mit dem Einzug neoliberaler Logiken „als Ausdruck einer ĂŒbergeordneten Sicherheitskultur“ (S. 227) in die Bildungspolitik und -praxis. Auf unterschiedlichen Ebenen wird verdeutlicht wie Bildung zunehmend fĂŒr die vermeidliche Stabilisierung und die WettbewerbsfĂ€higkeit von Staaten instrumentalisiert und damit einhergehend Verantwortung an Institutionen sowie Individuen und ihre Optimierungs- und Leistungsbereitschaft delegiert wird.

WĂ€hrend Christian Ydesen und Karen Egedal Andreasen die Herausbildung einer Vergleichs- bzw. PrĂŒfungskultur im internationalen Bildungsgeschehen anhand der historischen Entwicklung zwischen und nach den Weltkriegen sowie des Einflusses der Psychologie herausstellen, thematisiert Christina Gericke die zweifelhaften Kooperationsformen zwischen Schulen und Unternehmen, die abseits eines imaginierten Krisenszenarios von Schule und der Beschwörung von Synergieeffekten durch die belebende Dynamik der Wirtschaft, Fragen danach aufwerfen, wer dabei eigentlich wen absichert bzw. legitimiert und zu welchem Preis. Bei Florian Bernstorff und Mathias Marquard sowie Eik GĂ€deke geraten die verĂ€nderten und ĂŒberaus konfliktreichen Erwartungen an UniversitĂ€ten, deren BeschĂ€ftigte und Studierende in den Blick.

Wie Migrationsandere und Prekarisierte unter dem Dispositiv der Sicherheit Unsicherheit erfahren und dieser ausgesetzt sind, analysieren die BeitrĂ€ge von Anke Wischmann und JĂŒrgen Budde, Nadja Thoma sowie Nils Uhlendorf, die jeweils empirische Daten aus dem Feld Schule diskutieren. Wischmann und Budde zeigen nachvollziehbar wie das Konzept des Trainingsraums (Responsible Thinking Concept) unter dem Primat der Inklusion und reformpĂ€dagogischer Bestrebungen reale Prozesse der Exklusion und Diskriminierung stattfinden. Im Anschluss an „Securitization als gouvernementale[r] Strategie“ (S. 238) wird das Konzept des Trainingsraums als kontrollierende und (selbst-)disziplinierende Praxis im Rahmen einer neoliberal-bĂŒrgerlichen Ordnung verstehbar.

Uhlendorf knĂŒpft in vielfĂ€ltiger Weise an die skizzierten BeitrĂ€ge an. Er rekurriert auf die von Foucault inspirierte GouvernementalitĂ€tsforschung sowie das Sicherheitsdispositiv und rekonstruiert die Subjektpositionierungen von Deutsch-Iraner*innen zwischen Optimierungsdruck und GefĂ€hrdungszuschreibungen. Dies stelle im Sinne eines „marktförmigen Extremismus“ (S. 300) keinen Widerspruch, sondern eine wechselseitige Verwiesenheit dar, sodass sich rassistische Ordnungen im neoliberal strukturierten Leistungsdispositiv verwirklichten. So werden erneut Sicherheitsimperative dialektisch gegen ihren eigenen Anspruch gewendet.

Thomasens Studie zeigt am „Beispiel biographischer ErzĂ€hlungen migrantisch positionierter Germanistikstudent*innen“ (S. 321), wie sprachliche Verunsicherungen prekĂ€re Zugehörigkeiten binden und herausfordern. Unter der stetigen Bedrohung sich als Sicherheitsrisiko adressiert zu sehen und dem Integrationsindikator Nummer eins – Sprache – erzĂ€hlten jene Studierende spezifische biographische (Un-) Sicherheitskonstellationen.

Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs stellt das Themenfeld der inneren Sicherheit, eine (noch) unterreprĂ€sentierte Problemstellung dar, wie die Schlagwortsuche in einschlĂ€gigen Datenbanken verdeutlicht. Die Ausgabe des Jahrbuches leistet daher einen geradezu ĂŒberfĂ€lligen und weitreichenden Beitrag zum gesellschaftlichen und pĂ€dagogischen Diskurs. „PĂ€dagogik als akademisches Fach und gleichzeitiges Praxisfeld ist“ (S. 9), so heißt es gleich im Editorial des Bandes, „ein fester Bestandteil dieser Transformationen“ (ebd.). Den Anspruch der Öffnung kann das Jahrbuch dabei nicht nur durch die AuffĂ€cherung der skizzierten Problemstellungen einlösen, sondern auch durch die interdisziplinĂ€re und ‚intermediale‘ Komposition, die neben den rezensierten Artikeln noch ein historisches Stichwort, ein Bild (Mikki Muhr), einen JahresrĂŒckblick (Veronika Kourabas) sowie themennahe Rezensionen enthĂ€lt. Was zunĂ€chst unzusammenhĂ€ngend anmutet, lĂ€sst sich im Anschluss an die LektĂŒre geradezu als performative Absage an den Anspruch einer inneren Geschlossenheit und die Zumutungen eines eindimensionalen, begrenzenden Sicherheitsdenkens lesen.
Imke Marquardt und Philippe A. Marquardt (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Imke Marquardt und Philippe A. Marquardt: Rezension von: Czejkowska, Agnieszka / Spieker, Susanne: Innere Sicherheit – Jahrbuch fĂŒr PĂ€dagogik 2019. Berlin: Peter Lang 2019. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978363184162.html