EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Henning Schluß / Hanna Holzapfel / Christian Andersen / Heinz Ganser (Hrsg.)
Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und die Folgen
EuropÀische pÀdagogische Perspektiven
Wien: LIT Verlag 2021
(158 S.; ISBN 978-3-643-50993-2; 29,90 EUR)
Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und die Folgen Der von Henning Schluß, Hanna Holzapfel, Christian Andersen und Heinz Ganser herausgegebene Band entwickelt ein vielgestaltiges und facettenreiches, transnationales Panorama von pĂ€dagogischen Perspektiven auf die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 verbundenen Transformationsprozesse in osteuropĂ€ischen Staaten – von der ehemaligen DDR, ĂŒber Polen, die Ukraine bis nach RumĂ€nien – und deren bis heute identifizierbaren Folgen. Der Begriff ‚pĂ€dagogisch‘ wird dabei weit gefasst und reserviert fĂŒr sehr unterschiedliche GegenstĂ€nde – von Prozessen der intergenerationalen Tradierung von Erinnerungen in Familienkontexten bis hin zur Entwicklung von nationalen Schulsystemen vor und nach 1989 –, die mit sehr unterschiedlichen ZugĂ€ngen – von systematischen erziehungs- und bildungsphilosophischen bis hin zu geschichtswissenschaftlichen Methoden – rekonstruiert werden. So wie bei anderen zentralen, transnational bedeutsamen historischen Ereignissen auch – man denke etwa an den 8. Mai 1945 oder den Holocaust [1] – kommen dabei eine Vielzahl von manchmal gegenlĂ€ufigen kollektiven und individuellen autobiographischen Erinnerungen, nationalen Geschichtsbildern und geschichtswissenschaftlichen Rekonstruktionen zum Tragen. Sie legen offen, was mit dem Fall des Eisernen Vorhangs jeweils in nationaler und europĂ€ischer Perspektive und mit Bezug auf pĂ€dagogische Problemvorgaben faktisch in Gang gesetzt wurde und nachtrĂ€glich assoziiert werden kann und welche BrĂŒche und KontinuitĂ€ten damit in ideen- und sozialgeschichtlicher Hinsicht verbunden waren und sind.

Den Anfang macht Dariusz Stępkowski mit einem interessanten Beitrag, der die Entwicklung und Nutzung des Begriffs „ksztalcenie“ in polnischen (allgemein-) pĂ€dagogischen Kontexten nachzeichnet und zugleich mögliche historische GrĂŒnde fĂŒr Verschiebungen in der Deutung und Anwendung des Begriffs in sich wandelnden soziopolitischen Kontexten rekonstruiert (etwa die Folgen der Subsumierung von PĂ€dagogik unter die politischen Vorgaben sozialistischer Erziehungstheorie). Dabei arbeitet er Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen „ksztalcenie“ und dem deutschsprachigen Begriff der Bildung heraus und kann plausibilisieren, dass die Entwicklung von „ksztalcenie“ keineswegs auf einen bloßen Import des deutschen Bildungsbegriffs nach Polen zurĂŒckgeht. Stępkowski zeigt so nicht nur auf, dass sich funktionale und zumindest teilweise semantische Äquivalente zur Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung in der polnischen und auch in vielen anderen ost- und mitteleuropĂ€ischen Sprachen finden lassen. Er macht zugleich anschaulich und nachvollziehbar, wie schwer sich Probleme der Übersetzung pĂ€dagogischer Begriffe in unterschiedliche (Fach-)sprachen bearbeiten lassen und wie komplex die damit verbundenen theoretisch ambitionierten Ein- und Zuordnungsversuche sind.

Im nĂ€chsten Beitrag zeichnet Ulrich Wiegmann am Beispiel der Autobiographien prominenter ostdeutscher Erziehungswissenschaftler nach, wie der Fall der Mauer und die damit verbundenen institutionellen, beruflichen und persönlichen Transformationsprozesse verarbeitet wurden. Wiegmann, der kĂŒrzlich zusammen mit Heinz-Elmar Tenorth eine umfangreiche Studie zur Geschichte der DDR-PĂ€dagogik und -Erziehungswissenschaft vorgelegt hat [2], rekonstruiert zunĂ€chst , wie die entsprechenden Protagonisten (Karl-Heinz GĂŒnter, Artur Meier und GĂŒnter Neuner) die mit dem Mauerfall einsetzenden historischen VerĂ€nderungen fĂŒr sich interpretiert haben, wie sie sich damit in ihrer beruflichen und privaten, wissenschaftlichen und politischen Selbst- und Weltdeutung arrangiert oder nicht arrangiert haben und wie sich dies dann in der Bewertung und Auseinandersetzung mit der neuen bundesrepublikanischen RealitĂ€t Ă€ußerte. Darauf aufbauend befasst er sich mit der teilweise bis heute brisanten Frage nach der TĂ€tigkeit von Wissenschaftler_innen als sogenannte Inoffizielle Mitarbeiter_innen, d.h. Stasimitarbeiter_innen in der Akademie der PĂ€dagogischen Wissenschaften.

Ein solcher Inoffizieller Mitarbeiter steht auch im Zentrum des lesenswerten Beitrags von Henning Schluß und Hanna Holzapfel, der sich mit der Lebensgeschichte des Radiomoderators Lutz Bertram befasst. Die Aufdeckung von Bertrams Stasivergangenheit war auch deshalb besonders verstörend und enttĂ€uschend fĂŒr viele seiner Hörer_innen, weil Bertram auch nach der Wende als besonders kritischer und aufklĂ€rerischer Geist galt, der dafĂŒr bekannt war, die von ihm interviewten GĂ€ste schonungslos zu befragen. Der Beitrag rekonstruiert so die EnttĂ€uschungen von Bertrams Fans nach der Aufdeckung seiner StasitĂ€tigkeit und die erst in der Retrospektive offenkundigen diskursiven Verrenkungen, die Bertram etwa im Interview mit Christa Wolf vornehmen musste, wann immer die Frage eines angemessenen Umgangs mit der Stasivergangenheit im GesprĂ€ch aufkam. Zugleich spart er dabei die durch SchicksalsschlĂ€ge, systemische ZwĂ€nge und den Willen, trotzdem zu reĂŒssieren, geprĂ€gte DDR-Biographie Bertrams nicht aus, die dieser Geschichte eines als öffentlicher AufklĂ€rer wahrgenommenen Akteurs, der seine eigenen Ideale verraten hat, einen insgesamt traurig anmutenden, teilweise auch tragischen Charakter verleiht.

Der Beitrag von Sabine Krause setzt sich mit (auto-)biographischen Perspektiven eigener Familienmitglieder auf die Teilung Deutschlands am Beispiel des Westberliner Ortsteils Staakens auseinander, der durch den Bau der Mauer getrennt wurde. Gegenstand der Analyse sind dabei Erinnerungen, tradierte Geschichten und Interpretationen von fotographischen Quellen, die unterschiedliche Perspektiven auf die Teilung und deren Folgen fĂŒr das soziale Miteinander aufzeigen. Aufbauend auf ihrer Analyse des zusammengetragenen Materials diskutiert Krause Möglichkeiten der methodologischen Einordnung des VerhĂ€ltnisses von (Auto-)biographien und historischer Forschung sowie erziehungs- und bildungswissenschaftliche Fragestellungen, die die Themen der privaten und öffentlichen Erinnerung aufwerfen.
TomĂĄĆĄ Kasper setzt sich in seinem Beitrag mit reformpĂ€dagogischen Konzepten aus der Zwischenkriegszeit in der Tschechoslowakei nach dem zweiten Weltkrieg auseinander. Er kann eindrĂŒcklich zeigen, wie diese Konzepte in dem durch marxistische Theorievorgaben dominierten Diskurs systematisch exkludiert, diffamiert („bĂŒrgerlich“ usf.) und aus relevanten pĂ€dagogischen Debatten ausgeschlossen wurden. Das dabei zum Tragen kommende Muster eines politisch motivierten, rein dogmatisch `begrĂŒndetenÂŽ Ausschlusses sollte – auch mit Bezug auf heutige Debatten – als mahnendes Beispiel dafĂŒr dienen, wie eine öffentliche und wissenschaftliche Debatte nicht ablaufen sollte.

TomĂĄĆĄ JanĂ­k und Marcela JanĂ­kovĂĄ schließen in ihrem Beitrag an dieses Thema insofern an, dass sie unterschiedliche Etappen der Entwicklung des tschechischen Schulsystems im Zuge der Wende von 1989 rekonstruieren. Dabei unterscheiden sie drei Phasen und damit einhergehende Entwicklungstendenzen von dem staatssozialistischen Bildungssystem nach sowjetischem Muster hin zu einem demokratischen und pluralistisch ausgerichteten System und kontextualisieren die Ergebnisse ihrer Analyse mit Bezug auf Ă€hnliche und abweichende Transformationsprozesse in anderen postsowjetischen Bildungssystemen.

WĂ€hrend sich der daran anschließende Beitrag von Maksym Didenko und Lilli Berlinska mit aktuellen Herausforderungen inklusiver Bildung in der Ukraine befasst, setzen sich die BeitrĂ€ge von Chistine Salmen und Gudrun Gutt aus je unterschiedlicher Perspektive mit dem Umbruch von 1989 in RumĂ€nien auseinander. Salmen beschĂ€ftigt sich mit autobiographischen ErzĂ€hlungen ĂŒber das Leben in RumĂ€nien vor und nach 1989, Gutt mit einer Analyse der rumĂ€nischen Revolution aus Sicht der österreichischen Berichterstattung, die sie selbst als Zeitzeugin miterlebt und an deren Realisierung sie praktisch als Journalistin beteiligt war.

Der Band zeigt, wie unterschiedlich sich die mit dem Jahr 1989 markierten pĂ€dagogischen Prozesse und insbesondere ihre Folgen fĂŒr Individuen und Bildungssysteme je nach soziopolitischem Kontext darstellten und auch wie vielgestaltig die jeweiligen im Band exemplarisch versammelten ZugĂ€nge und Deutungsversuche bis heute aussehen können. Insgesamt und mit Blick auf den Untertitel „EuropĂ€ische pĂ€dagogische Perspektiven“ hĂ€tte man sich gewĂŒnscht, dass – trotz aller methodischen Schwierigkeiten, die mit Vergleichen in der Regel einhergehen – auch eine komparativ justierte Perspektive auf die unterschiedlichen Entwicklungen noch stĂ€rker vertreten gewesen wĂ€re. Mit Blick auf die weitreichenden ‚Folgen‘ von 1989 wĂ€re zudem auch ein stĂ€rkerer und systematischerer Fokus auf die Einbettung der BeitrĂ€ge in aktuelle Debatten ĂŒber Erinnerungspolitik und ErinnerungspĂ€dagogik wĂŒnschenswert gewesen, wobei man z.B. die Rolle des Sowjetimperialismus und -kolonialismus in kontemporĂ€ren erinnerungspolitischen und -pĂ€dagogischen Debatten in den Blick hĂ€tte nehmen können. Man kann konzedieren, dass man selbstverstĂ€ndlich nicht alle interessanten Themen in einem Band abarbeiten kann, und dass allein mit Blick auf die unterschiedlichen im Band vertretenen LĂ€nder und Perspektiven ja auch die wissenschaftlichen Herausforderungen, die mit solchen Projekten einhergehen, offensichtlich immer anspruchsvoller werden. Die in dem Band verhandelten Themen sind jedenfalls nicht nur angesichts eines derzeit auf Grund des Krieges in der Ukraine gesteigerten öffentlichen BedĂŒrfnisses nach Information und AufklĂ€rung ĂŒber osteuropĂ€ische Geschichte und die Relevanz, die ihr im russischen „Informationskrieg“ zugeschrieben wird, hochaktuell. Der Band kann daher allen historisch Interessierten empfohlen werden.

[1] Diner, D. (2020). GegenlĂ€ufige GedĂ€chtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. bpb: Bundeszentrale fĂŒr politische Bildung
[2] Tenorth, H. E., & Wiegmann, U. (2022). PÀdagogische Wissenschaft in der DDR. Ideologieproduktion, Systemreflexion und Erziehungsforschung. Studien zu einem vernachlÀssigten Thema der Disziplingeschichte deutscher PÀdagogik. Klinkhardt.
Caroline Bossong & Johannes Drerup (Dortmund und Amsterdam/Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Caroline Bossong & Johannes Drerup : Rezension von: Schluß, Henning / Holzapfel, Hanna / Andersen, Christian / Ganser, Heinz (Hg.): Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und die Folgen, EuropĂ€ische pĂ€dagogische Perspektiven. Wien: LIT Verlag 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978364350993.html