EWR 16 (2017), Nr. 6 (November/Dezember)

Kirsten Puhr / Jens Geldner (Hrsg.)
Eine inklusionsorientierte Schule
Erzählungen von Teilhabe, Ausgrenzung und Behinderung
Wiesbaden: Springer VS 2017
(351 Seiten; ISBN 978-3-658-13774-8; 39,99 EUR)
Eine inklusionsorientierte Schule Diskurse um Inklusion und Integration einerseits sowie Differenz und Heterogenität andererseits dominieren neben der Pädagogik und Erziehungswissenschaft auch öffentliche mediale und (bildungs-)politische Auseinandersetzungen. Dies geschieht oft in einer Weise, die dichotome und vielfach antagonistische Standpunkte und Perspektiven einander gegenüberstellt oder gar gegeneinander ausspielt. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den scheinbar unabhängig voneinander geführten Debatten um Inklusion (in Bezug auf Menschen mit Behinderung) und Integration (in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund). Das vorliegende Buch bietet einen anderen Zugang zur Thematik, indem es Menschen zu Wort kommen lässt, die Mechanismen der In- und Exklusion sowie Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Teilhabe in einer inklusionsorientierten Schule – und darüber hinaus – erlebt haben und im Kontext ihrer Lebensgeschichten erzählen. Dabei zeigen sich nicht nur eine Vielzahl unterschiedlicher Differenzierungskategorien und -praxen, die in unterschiedlicher Weise ineinandergreifen, sondern es gelingt den Autor_innen zugleich, eine Multiperspektivität bzw. Vielstimmigkeit zu erzeugen, die die Komplexität der Diskurse und Praktiken sichtbar werden lässt und die unterschiedlichen Standpunkte gerade nicht einander gegenüberstellt. Vielmehr werden Ambivalenzen, Ambiguitäten und Inkonsistenzen als konstitutives Moment der Auseinandersetzungen – vor allem im Hinblick auf (Selbst-)Positionierungen – herausgearbeitet.

Ausgangspunkt der Studie sind Erzählungen ehemaliger Schüler_innen der Ernst-Reuter-Schule in Frankfurt, die 1963 als integrierte Gesamtschule gegründet worden ist und die kürzlich ihr 50jähriges Bestehen feierte. Jedoch bildet nicht die Schule das Zentrum, sondern die Erzählungen, in denen der Schule ein mehr oder weniger großer Stellenwert beigemessen wird. Doch bevor diese zum Thema werden, entfalten die Autor_innen ihren theoretischen und methodologischen Rahmen (Kapitel 2).

Die theoretischen Bezüge werden als „Positionierungen zu Fragen von Teilhabe, Ausgrenzung und Behinderung“ (Kapitel 2.1) angekündigt, sodass sogleich deutlich wird, dass hier nicht einfach eine Bezugstheorie referiert wird, sondern unterschiedliche Diskurse und Sprecher_innenpositionen aufgegriffen und ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Zunächst geht es um die Frage, was eine inklusionsorientierte Schule sein kann, bzw. was darunter verstanden werden kann. Hierzu wird Bezug genommen auf system-, ungleichheits- und bildungstheoretische Konzepte, die sich mit dem Verhältnis von Differenz oder Heterogenität einerseits und den Möglichkeiten und Grenzen von Teilhabe oder Inklusion andererseits befassen. Anhand dieser theoretischen Konzepte wird verdeutlicht, dass die Identifikation von allgemeingültigen Heterogenitätsmerkmalen unmöglich ist und damit auch die Formulierung allgemeingültiger Regeln für eine gelingende Inklusion (14-22). Diese Problematik wird anschließend anhand von Diskursen um Behinderungen konkretisiert, wobei differenziert wird zwischen politischem und pädagogischem Diskurs sowie dem Diskurs der Disability Studies (22-27). Hier wird deutlich, dass Behinderung kein feststehendes Konzept ist, sondern dass unterschiedliche Verständnisse von Behinderung zueinander in Widerspruch geraten und sich überlagern. Ähnlich verhält es sich mit Konzepten der In- und Exklusion (28-35). Es wird gezeigt, dass Behinderung ebenso wie Inklusion / Exklusion als „kontingente Konstruktionen“ (35) diskutiert werden müssen.

An diese theoretischen Überlegungen schließen die Überlegungen zur Methode und Methodologie an (Kapitel 2.2). Erzählung wird als Konzept performativer, texttheoretisch motivierter Forschung verstanden, wobei die Darstellung der Lebensgeschichte wiederum als kontingente Konstruktion zu verstehen sei. Die Erzählungen entstehen in der Interaktionssituation des narrativ-episodischen Interviews. Damit ist weder im Vorhinein abzusehen, was wie gesagt werden wird, noch kann der Text, als etwas dem oder der Erzählenden Zugehöriges gelten. Dabei wird Bezug genommen auf diskurstheoretische und dekonstruktivistische Konzepte sowie erzähltheoretische Ansätze (42-51). Diese Bezüge finden sich auch in einigen Arbeiten erziehungswissenschaftlicher Biografieforschung [1], werden dort meist allerdings nur auf die Welt-Selbstkonstruktionen einzelner Biografien angewendet. Hier jedoch gehen die Autor_innen einen Schritt weiter, da es ihnen nicht (nur) um die lebensgeschichtlichen Texte geht, sondern darüber hinaus um spezifische diskursive Formationen zu den Themen Behinderung, Teilhabe und Ausgrenzung (52-56). Deshalb entwickeln Puhr und Geldner ein zweischrittiges Vorgehen. Zuerst werden lebensgeschichtliche Erzählungen generiert, die jeweils in Co-Autor_innenschaft zwischen Interviewten und Interviewenden entstanden und in ihrer vorliegenden Fassung von den Interviewten autorisiert worden sind (Kapitel 3). Dann werden im Hinblick auf spezifische Diskursformationen (1. Teilhabe in der Verschränkung von Partizipation und Interdependenz, 2. Performative und ambiguose Konstruktionen von Behinderung, 3. Verhältnisse von Teilhabe und Ausgrenzungen, Verschiedenheiten und Behinderungen) analytische Erzählungen erstellt, die von den Lebensgeschichten abstrahieren (Kapitel 4).

Die Lebensgeschichten von 15 Interviewten und ihren Co-Autor_innen machen den größten Teil des Buches aus und bilden einen facettenreichen, multiperspektivischen Einblick in Erfahrungen von und mit Behinderung, Teilhabe und Ausgrenzung in der Ernst-Reuter-Schule und vielen anderen Kontexten. Die Erzähler_innen positionieren sich zum Teil selbst als „behindert“ – wobei sehr deutlich wird, dass dies sehr Unterschiedliches bedeuten kann. Sie gehören verschiedenen Generationen an und erzählen somit aus wiederum verschiedenen Lebenssituationen ihre Geschichten. Doch diese Positionalitäten werden nicht vorweggenommen, sondern müssen in der Lektüre erschlossen werden und dabei wird deutlich, dass sie jeweils in sich brüchig sind. Teilweise gibt es auch Verweise zwischen den Erzählungen, da die Interviewten sich (sehr gut) kennen, manche Erfahrungen teilen, aber sehr unterschiedlich darauf Bezug nehmen. Die Lektüre der Geschichten ist anspruchsvoll, weil sie die Leserin / den Leser dazu nötigt, die eigenen Interpretationen immer wieder in Frage zu stellen. An der Abfassung und Reflexion dieses dritten Kapitels waren, neben den beiden Herausgebenden, Teresa Budach, Vera Schubert und Judith Mahnert beteiligt.

Im Anschluss an die lebensgeschichtlichen Erzählungen hätte man erwarten können, dass nun ein systematischer Abstraktionsprozess erfolgt, etwa im Sinne einer qualitativen Typenbildung. Doch der Schritt zwischen der Darstellung der Erzählungen und der abstrakten Verknüpfung sich dort zeigender Diskursformationen mit theoretischen Diskursen wird ausgelassen. So wird nicht immer deutlich, warum auf welche Erzählungen Bezug genommen wird und auf andere nicht. Trotzdem wird in den analytischen Erzählungen sehr gut lesbar und nachvollziehbar dargestellt, in welchem Verhältnis sich die empirisch konstruierten Texte zum theoretischen Rahmen verhalten und diesen zum Teil in Frage stellen.

Abschließend werden „zwei Thesen zu schulischer und außerschulischer Teilhabe in der Verschränkung von Partizipation und Interdependenz sowie eine These zur Performativität und Ambiguität von Behinderungskonstruktionen im Zusammenhang mit Vorstellungen von Verschiedenheit, Teilhabe und Ausgrenzungen“ (7) formuliert (Kapitel 5):
Die erste These besagt, dass sich im inklusionsorientierten Bildungsrecht „gleichermaßen […] Formen von Teilhabechancen wie von Ausgrenzungsrisiken zeigen“ (8). Es handelt sich hier also nicht einfach um einen (positiv) umsetzbaren Grundsatz. Die zweite These verweist auf kontingente Vorstellungen von Gemeinschaft und Teilhabe in der Schule, die in der Praxis wirksam werden und sich nicht vereinheitlichen lassen. Die dritte These hält fest, dass die Kategorie Behinderung selbst kontingent ist und in der Praxis immer wieder in Frage steht.

Das Buch bietet im Gegensatz zu vielen anderen Arbeiten zum Thema Inklusion und Teilhabe einen wichtigen Schritt in Richtung einer differenzierter geführten Debatte vor allem, weil nicht nur kritisch theoretisch-reflexiv, sondern auch empirisch gearbeitet wurde. So wird nicht nur eine abstrakte Reflexion der Konzepte angeregt, in der deutlich wird, dass eindeutige Definitionen und Fest-Stellungen unmöglich sind (349), sondern auch konkret dazu angeregt, sich die eigene Positionierung zu vergegenwärtigen und in Frage zu stellen.

[1] Koller, H.-C. (1999). Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse
in der (Post-)Moderne. München: Fink. Kokemohr, R. (1994). „Welt“ und „Lebenswelt“ als textuelle Momente biographischer Welt-undSelbstkonstruktionen. In H.-C. Koller & R. Kokemohr (Hrsg.), Lebensgeschichte als Text. Zur biographischen Artikulation problematischer Bildungsprozesse (S. 110-140). Weinheim: Deutscher Studienverlag.
Anke Wischmann (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anke Wischmann: Rezension von: Puhr, Kirsten / Geldner, Jens: Eine inklusionsorientierte Schule, Erzählungen von Teilhabe, Ausgrenzung und Behinderung. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365813774.html