EWR 18 (2019), Nr. 4 (Juli/August)

Jan-Hendrik Hinzke
Lehrerkrisen im Berufsalltag
Zum Umgang mit Spannungen zwischen Normen und Orientierungsrahmen
Wiesbaden: Springer VS 2018
(540 S.; ISBN 978-3-658-22621-3; 64,99 EUR)
Lehrerkrisen im Berufsalltag PISA-Krise, Schulkrise, Schüler/innenkrise – der Krisenbegriff wird in der alltagssprachlichen Diskussion um Schule und der dort tätigen Personen für die Beschreibung des Zustandes der Organisationen und Akteur/innen auf Makro-, Meso- und Mikroebene genutzt. Die Popularität des Begriffs im Berufsfeld von Lehrerinnen und Lehrern macht eine differenzierte Begriffsbestimmung lohnenswert. So wirkt er doch wie ein unbestimmter, spektakulärer Containerbegriff und wirft unter anderem die Fragen auf: Ist das Tätigkeitsfeld von Lehrkräften tatsächlich derart krisenanfällig, wie uns die Medien vermitteln wollen? Und: Wer definiert, was als eine Krise oder noch als der alltägliche Wahnsinn des Schulalltages wahrgenommen wird?

Jan-Hendrik Hinzke setzt sich in seiner Arbeit „Lehrerkrisen im Berufsalltag: Zum Umgang mit Spannungen zwischen Normen und Orientierungsrahmen“ sowohl alltags- als auch wissenschaftssprachlich mit Lehrer/innenkrisen auseinander. Hinzke versteht dabei unter Lehrer/innenkrisen „keine katastrophalen oder dramatischen Ereignisse“ (4), sondern richtet den Blick auf solche Krisen, „die von Lehrpersonen in ihrem alltäglichen beruflichen Handeln erfahren werden“ (ebd.). Womit das, was als Krise wahrgenommen wird, von der jeweiligen Lehrperson selbst und u.a. deren Normen abhängt. Mit seiner Arbeit trägt Hinzke zum Verständnis dafür bei, wann Lehrer/innenkrisen in konkreten Situationen der Berufstätigkeit auftreten und wie Lehrpersonen unmittelbar mit diesen Krisen umgehen.

Hinzkes Arbeit brilliert durch einen umfangreichen theoretischen Rahmen der Untersuchung. Er widmet sich umfassend den krisentheoretischen Grundlagen, indem er Krise als Diskontinuitätserfahrung untersucht, die professionstheoretischen Grundlagen zur Krise als Kern des professionellen Lehrer/innenhandelns herausarbeitet sowie den aktuellen empirischen Forschungsstand zu Krisen und Umgangsweisen mit Krisen im Lehrer/innenberuf zusammenfasst. Basierend auf den Krisenkonzepten von Oevermanns Strukturtheorie, von Kollers Theorie transformatorischer Bildungsprozesse und von Combes Ausführungen über die Krise als Herausforderung des Verstehens in der Schule, entwirft Hinzke eine eigene Krisenheuristik. Hinzke fokussiert seine Untersuchung auf „Mikroprozesse von Krisen und Umgangsweisen mit Krisen“ (63), weshalb sein Krisenverständnis sich auf konkrete Handlungssituationen im Lehrer/innenberuf bezieht und weniger auf Entwicklungsprozesse, die aus Krisen resultieren können (vgl. 62).

Da Hinzke davon ausgeht, dass die von den Lehrpersonen erlebten Krisenerfahrungen „nicht zu jeder Zeit explizit sprachlich vermittelt werden können. Also einen vorreflexiven und impliziten Charakter haben“ (183), verortet er Krisen in die rekonstruktionslogische Methodologie der Dokumentarischen Methode. Hinzkes Kernsample besteht aus episodischen Interviews mit zwölf Lehrpersonen von drei Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg. Er rekonstruiert für jeden Fall, welche Normen – verstanden als die Regeln, die von den Lehrpersonen als verbindlich geltend wahrgenommen werden (vgl. 203) – sowie welche Orientierungsrahmen die Lehrer/innenkrisen sowie den Umgang damit strukturieren. So rekonstruiert Hinzke vier Lehrer/innenkrisen: Unterrichtskrise, Zuwendungskrise, Beziehungskrise und Entscheidungskrise. Alle diese Krisen basieren auf einer krisenhaften Interaktion zwischen der jeweiligen Lehrperson und den von ihr unterrichteten Schüler/innen. Da alle rekonstruierten Lehrer/innenkrisen auf einem in die Krise geratenden Lehrer/innen-Schüler/innen-Verhältnis basieren, stellt Hinzke die Thesen auf, dass Lehrpersonen sowohl stellvertretend die Krisen der Schüler/innen deuten und dabei selbst in eine Krise geraten können, als auch, dass der Umgang mit den eigenen Krisen sich wiederum auf den Umgang mit Schüler/innenkrisen auswirken könnte. Allen Umgangsweisen gemein ist, dass sie „von antinomischen Spannungen durchzogen sind“ (447), die dem Lehrer/innenhandeln eigen sind und, dass alle Lehrpersonen bestrebt seien „aufgebrochene Krisen wieder zu schließen“ (399).

Mit seiner Untersuchung von Lehrer/innenkrisen im Berufsalltag entwirft Hinzke eine praxeologisch-wissenssoziologische Perspektive auf Krisen „als Ausdruck typischer Orientierungsstrukturen“ (453) im Sinne der dokumentarischen Methodologie. So sei die alltägliche schulische Arbeit von Lehrpersonen durch schüler/innenbezogene und lehrer/innenbezogene Normen aufgeladen, denen die Lehrpersonen gerecht zu werden versuchen (vgl. 456). Die untersuchten Lehrpersonen reagieren auf Normverletzungen seitens der Schüler/innen, z.B. Unterrichtsstörungen oder normabweichendes Schüler/innenverhalten. Hierbei entstehen Spannungen, die „auf einer Diskrepanz zwischen Normen und Orientierungsrahmen im engeren Sinne beruhen“ (457). Die Fähigkeit, die wahrgenommenen Krisen zu bewältigen, hänge im Sinne von Helsper, Kramer und Thiersch [1] vom eigenen Orientierungsrahmen ab. Die Lehrpersonen, die eine „subsumtiv-generalisierende Beobachtungshaltung“ (457) haben, versuchen Krisen sofort zu beheben, während Lehrpersonen mit einer „suchend-erschließenden Beobachtungshaltung“ (458), Krisenerfahrungen auch zeitweise offen lassen können. Hinzkes entwickeltes praxeologisches Krisenkonzept ermöglicht, Krisen aus der jeweiligen Perspektive der untersuchten Akteur/innen zu erfassen (vgl. 463), da die jeweilige Krise als „relevante Diskontinuitätserfahrung“ für die Akteure verstanden wird.

Die Studie von Hinzke glänzt inhaltlich durch ihre differenzierte Rekonstruktion der unterschiedlichen Lehrer/innenkrisen in Abhängigkeit der Normen der jeweiligen Lehrperson sowie der rekonstruierten Orientierungsrahmen, in denen die Krise verhandelt wird. Dadurch können wir unterschiedliche Umgangsweisen mit den krisenhaften Situationen besser nachvollziehen. Leser/innen werden mithilfe einer klaren Struktur durch die Studie geführt. Neben einem Glossar der zentralen Begriffe werden beispielsweise hilfreiche Zusammenfassungen und Überblicke zu den einzelnen Kapiteln angeboten. Methodisch und wissenschaftspropädeutisch wird Leser/innen eindrücklich klar, wie durch einen reflexiven Forschungsprozess in dem sich die Forschenden mit Theorien (bei Hinzke die Krisentheorien und -konzepte), mit empirischen Daten (hier: episodischen Interviews) und mit der Methodologie der gewählten Methode (hier: Dokumentarische Methode) explizit auseinandersetzen, ein zentraler Beitrag zur weiteren methodologischen und theoretischen Wissensgewinnung geleistet werden kann. Hinzke erweitert unser Verständnis vom Umgang mit Lehrer/innenkrisen als „Strukturmerkmal und Handlungsmaxime“ (5) professionellen Lehrer/innenhandelns und verdeutlicht, dass ob eine Unterrichtssituation als krisenhaft oder als normaler Wahnsinn des Schulalltages wahrgenommen wird, vom Spannungsverhältnis zwischen Normen und Orientierungsrahmen der handelnden Lehrperson abhängt.

[1] Helsper, W. / Kramer, R.-T. / Thiersch, S.: Orientierungsrahmen zwischen Kollektivität und Individualität - ontogenetische und transformationsbezogene Anfragen an die dokumentarische Methode. In: Loos, P. / Nohl, A.-M. / Przyborski, A. / Schäffer, B. (Hg.): Dokumentarische Methode. Grundlagen - Entwicklungen - Anwendungen. Opladen: Budrich 2013, 111-140.
Andrea Albers (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea Albers: Rezension von: Hinzke, Jan-Hendrik: Lehrerkrisen im Berufsalltag, Zum Umgang mit Spannungen zwischen Normen und Orientierungsrahmen. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365822621.html