EWR 22 (2023), Nr. 4 (Oktober)

Yalız Akbaba / Bettina Bello / Karim Fereidooni (Hrsg.)
Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse
Wiesbaden: Springer VS 2022
(235 S.; ISBN 978-3-658-29042-9; 54,99 EUR)
Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse Der Sammelband von Yalız Akbaba, Bettina Bello und Karim Fereidooni „Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse“ ist Teil einer von den Autor:innen verantworteten gleichnamigen Reihe, in der seit 2020 bereits zwölf weitere Titel erschienen sind. Yalız Akbaba und Karim Fereidooni haben in den vergangenen Jahren bereits einige Publikationen zum Thema Rassismus und Vielfalt in Schulen veröffentlicht, mit einem besonderen Fokus auf den Lehrkräften. Diese stehen auch in diesem Sammelband im Zentrum: Der erste Teil des Sammelbandes besteht aus vier Beiträgen, in denen es um die Wirkungen von Migrationsdiskursen auf die Ausbildung von Lehrer:innen insbesondere im Hinblick auf die in der gesellschaftlichen Rede fest etablierte ‚Migrantisierung‘ schulischer Problemlagen geht. Der zweite Teil des Buches mit fünf Beiträgen beleuchtet Rassismus- und Othering-Erfahrungen von Schüler:innen, Lehrkräften und Eltern in Schulen, Kindergärten und außerschulischen pädagogischen Einrichtungen. Zwei weitere Beiträge ergänzen dies im dritten Teil des Sammelbands um ethnographische Beobachtungen im Schulalltag und die biographischen Erzählungen zweier „Diversitätsakteurinnen“ (193ff.) im System Schule.

Ausgangspunkt des Sammelbandes ist nach Aussage der Herausgeber:innen die Wiederkehr der „ersten (bildungs-)politischen Forderungen nach mehr migrationsanderen Lehrer*innen“ (1) nach nunmehr zehn Jahren. Die Zeitangabe bezieht sich vermutlich auf den von Viola Georgi, Lisanne Ackermann und Nurten Karakaş 2011 veröffentlichten Band „Vielfalt im Lehrerzimmer“ – obwohl allerdings Yasemin Karakaşoğlu in ihrem im selben Jahr erschienenen Beitrag über „Lehrer, Lehrerinnen und Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund“ [1] diesen Moment der ersten bildungspolitischen Forderungen bereits auf das Jahr 2006 datiert, als der Verband Bildung und Erziehung diese Forderung erstmalig in ein Positionspapier aufnahm (121).

Interessant ist der Verweis der Herausgeber:innen auf den Sammelband von Georgi et al. aber auch darüber hinaus in zweierlei Hinsicht: Zum einen fällt auf, dass in früheren Publikationen der Begriff ‚Migrationshintergrund‘ noch nicht in der Form negativ konnotiert war und dieselben exkludierenden Wirkungen aufwies, die im vorliegenden Sammelband in mehreren Beiträgen analysiert werden. Zum anderen muss festgestellt werden, dass sich in diesen über fünfzehn Jahren und trotz der Vielzahl an Debatten und Studien offenbar nur wenig im System Schule getan hat. Das gilt für den Anteil von „migrationsanderen Lehrer*innen“ (s.o.) ebenso wie für die im Sammelband und in der Buchreihe analytisch ins Zentrum gestellten Migrationsdiskurse und ihre Funktionen für und Wirkungen auf die Schulpraxis.

Es ist hier hervorzuheben, dass der Sammelband zentral getragen wird von der nächsten bildungswissenschaftlichen Generation, das gilt für die Herausgeber:innen ebenso wie den Großteil der Autor:innen. Es ist hier hervorzuheben, dass der Sammelband zentral getragen wird von der nächsten bildungswissenschaftlichen Generation, das gilt für die Herausgeber:innen ebenso wie den Großteil der Autor:innen, von denen die meisten zudem selbst als „Migrationsandere“ das deutsche Bildungssystem durchlaufen haben – auch dies ist in dieser Breite in der akademischen Debatte immer noch eher eine Neuheit. Als positive Entwicklung kann zudem festgestellt werden, dass einige der Debatten um Begrifflichkeiten und Diskurse zumindest auf akademischer Ebene offenbar nicht mehr geführt werden müssen: Rassismus im System Schule ist nicht zu relativieren oder wegzudiskutieren, Begriffe wie ‚Migrationshintergrund‘ oder ethnische Zuschreibungen können keine diskursive ‚Neutralität‘ für sich beanspruchen und es besteht eine dringende Notwendigkeit, dem System empirisch und analytisch diesbezüglich immer wieder auf den Zahn zu fühlen.

Genau dies leistet der Sammelband. Alle Beiträge arbeiten empirisch und zwar mit einem sehr breiten methodischen Instrumentarium, das von quantitativen Befragungen von Lehramtsstudierenden zu diversitätsbezogenen Einstellungen (Bello) sowie von Referendar:innen und Lehrkräften zu ihren Diskriminierungserfahrungen (Fereidooni) über qualitative Interviews (Doğmuş, Anh Mai, Akbaş/Polat, Kollender), Analysen von studentischen Unterrichtsentwürfen (Karakaş) und der Diskurs- und Wissensproduktion in der Lehrer:innenbildung (Shure) bis zu ethnographischer Feldforschung (Akbaba) und biographischen Ansätzen (Schwendowius, Wojciechowicz) reicht. Nicht alle methodischen Zugänge überzeugen gleichermaßen, aber dabei spielen sicher auch disziplinäre Gewohnheiten und Perspektiven eine Rolle und die Breite der Methodiken macht die Ergebnisse anschlussfähig und interessant für eine große Bandbreite von an Schule interessierten Forschungsdisziplinen.

Die Ergebnisse der verschiedenen Beiträge zeigen, dass sich an den grundsätzlichen und weitverbreiteten Umgangsweisen von Schule mit Migration und Vielfalt im Vergleich zu früheren Forschungsergebnissen nur wenig geändert hat – allerdings vor dem Hintergrund einer sich stark verändernden Demographie, in der erstens Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund schon in beinahe der Hälfte der größeren deutschen Städte die Mehrheit ihrer Alterskohorten ausmachen [2] und diese zweitens aber überwiegend in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Drittens hat das Thema Mehrsprachigkeit vor allem durch die Fluchtbewegungen aus Syrien und aktuell aus der Ukraine eine ganz andere Präsenz und Unvermeidbarkeit im Schulalltag erhalten. Und schließlich gibt es die durchaus im letzten Jahrzehnt gewachsene „Vielfalt im Lehrerzimmer“ (s.o.).

Die Diskrepanz zwischen den gerade genannten empirischen Realitäten in immer mehr Schulen und Schulformen – bis hinein in die Gymnasien – und dem noch immer dominanten diskursiven und konzeptionellen Rüstzeug des Schulsystems scheint aktuell geradezu dysfunktionale Ausmaße anzunehmen. Richtig und wichtig ist deshalb, dass der Band und die Buchreihe dies als Frage der pädagogischen Professionalität thematisieren: Es geht nicht um ein ‚nice to have‘ oder ‚gute Absichten‘, sondern um die fachlichen Fundamente und Werkzeuge der pädagogischen Berufe im Umgang mit den neuen Normalitäten der Migrationsgesellschaft.

Hier allerdings werden die Praktiker:innen unter den Leser:innen über die fundierte Kritik hinaus wenig finden, das als Rüstzeug für das Anstoßen und Bewältigen von Prozessen strukturellen und institutionellen Wandels dienen kann: Wo sind die konzeptionellen Ansätze für die notwendigen tiefgreifenden Veränderungen und wo und wie werden sie vielleicht sogar schon erfolgreich umgesetzt? Was funktioniert wo aus welchen Gründen oder unter welchen Voraussetzungen, welche Ansätze und Praxen können hier den Weg weisen?

Für die akademische Debatte dagegen sind die in dem Band versammelten empirischen Ergebnisse in jedem Fall interessant und verweisen im Zweifelsfall auf Publikationen, in denen sie noch ausführlicher dargestellt wurden. Ein wenig schade ist, dass in den verschiedenen Beiträgen immer wieder dieselben Autor:innen und Publikationen angeführt werden, während andere relevante Literatur fehlt, und auch bei den theoretischen Konzepten kommt bei zügigem Durchlesen der Beiträge ein gewisser Wiederholungseffekt auf. Damit stellt sich auch aus akademischer Sicht die Frage: Was genau ist in der Forschung passiert in den vergangenen fünfzehn Jahren? Welche Rolle spielen bei beiden Aspekten – also Theorie und Praxis – die Veränderungen, die es natürlich gegeben hat?

Und schließlich wiederholen der Sammelband und, wie es scheint, auch die übrigen Bände dieser Reihe etwas, woran meiner Meinung nach die gesamte Bildungsdebatte in Deutschland schon seit Jahrzehnten krankt: Sie schauen nur auf Deutschland und reproduzieren damit genau den nationalstaatsbezogenen ‚Container-Blick‘, der gleichzeitig als Ursache für nicht wenige strukturelle Probleme im Bildungssystem ausgemacht und kritisiert wird (vgl. Doğmuş, Karakaş, Shure in dem Band). Nur im Beitrag von Anna Wojciechowicz findet etwa der Begriff ‚transnational‘ wenigstens eine Erwähnung, internationale Vergleiche fehlen leider völlig.

[1] Karakaşoğlu, Y. (2011). Lehrer, Lehrerinnen und Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund. Hoffnungsträger der interkulturellen Öffnung von Schule. In: Neumann, U. & Schneider, J. (Hrsg.). Schule mit Migrationshintergrund (S. 121–135). Heinrich-Böll-Stiftung und Münster. Waxmann.
[2] Eigene Auswertung von Daten aus dem Mikrozensus 2019 der Statistikämter der Bundesländer.
Jens Schneider (Osnabrück)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jens Schneider: Rezension von: Akbaba, Yalız / Bello, Bettina / Fereidooni, Karim (Hg.): Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse. Wiesbaden: Springer VS 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365829042.html