EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)

Karl-Theodor Stiller
„Elternarbeit“ aus Kindersicht
Habitusbildung im Krisenerleben
Wiesbaden: Springer VS 2020
(407 S.; ISBN 978-3-658-31647-1; 54,99 EUR)
„Elternarbeit“ aus Kindersicht Die programmatisch geforderte und bildungspolitisch beabsichtigte intensivere Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Eltern zum Wohl des Kindes hat seit Jahren Konjunktur. Auch in der Erziehungswissenschaft kommt übergreifend der theoretischen und empirischen Analyse des (sich verändernden) Verhältnisses zwischen Schule und Familie eine konstant hohe Bedeutung zu. Allerdings bleiben die Positionen der Kinder in der „Elternarbeit“ bisher sowohl programmatisch als auch erziehungswissenschaftlich mehrheitlich unbeachtet. Ebenso lässt sich ein Mangel an empirischen Studien zu den Perspektiven von Kindern auf den Kontakt und die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrkräften ausmachen. An diesem Problem anknüpfend setzt sich der Autor mit den Perspektiven von Grundschulkindern auf „Elternarbeit“ auseinander. Die Studie verortet sich in der Schul-, Peer- und Kindheitsforschung und verfolgt ein rekonstruktives Forschungsdesign.

Die Dissertationsschrift ist, abgesehen von der Einleitung, in neun Kapitel gegliedert. Kapitel 2 dient der begrifflichen und theoretischen Einordnung des Forschungsgegenstandes Elternarbeit aus Kindersicht sowie einer Übersicht über den Forschungsstand. Stiller verweist auf die oft unklare konzeptionelle Verwendung des Begriffs Elternarbeit und zeichnet Entwicklungslinien der Debatte nach. Elternarbeit versteht er als eine Perspektive auf organisations- und professionsbezogene bzw. schulkulturelle Handlungsstrategien und -konzepte für die Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie. Er gibt einen Einblick in den Forschungsstand der letzten fünfzehn Jahre zu den Perspektiven von Schüler/innen auf das Zusammenwirken von Schule und Familie, bindet diesen in die theoretische Fundierung seiner Arbeit ein und arbeitet Desiderate heraus.

In Kapitel 3 entfaltet Stiller sein (berufs-)biografisch eingebettetes Erkenntnisinteresse. Sein Ziel ist es, sich auf den Sinn des Verhaltens und der Kommunikation der Kinder – erhoben über Gruppendiskussionen – zu fokussieren, um „soziale Regeln ihres Sprechens und Handelns gegenüber der Zusammenarbeit der älteren Generation zu entschlüsseln“ (90). Stiller formuliert eine vorläufige Fragestellung, modifiziert diese in der Arbeit jedoch. Zudem erweitert er den Forschungsstand um Peerbeziehungen in der Grundschule, die er als bedeutsam für den Prozess der schulischen Habitusbildung einordnet. Den Begriff des Habitus bzw. der Habitusbildung verwendet Stiller im Anschluss an Bourdieu und Bohnsacks Orientierungsrahmen als „Bewältigung der notorischen Diskrepanz von Norm und Habitus“ (366). Er konzipiert die Perspektiven der Schüler/innen als habitualisierte und sich habitualisierende kollektive Peerorientierungen, die er mittels dokumentarischer Methode rekonstruieren will.

Die Darlegung des Forschungsgegenstands und der Methodologie bilden den Kern von Kapitel 4. Stiller orientiert sich an den Grundannahmen der praxeologischen Wissenssoziologie. Er konzeptualisiert Schule sowohl als Institution als auch als Organisation und geht auf den Schüler/innenhabitus ein, den er als sowohl primär-familiärer als auch sekundärer Habitus mit Blick auf schulische Anforderungen versteht. Das Ziel des Kapitels ist es, bezogen auf Peers und die Organisation Schule, eine Gegenstandskonzeption zu formulieren, die es erlaubt, die „Habitusbildung in inner- und intergenerationalen Beziehungen von Grundschulkindern“ (167) zu rekonstruieren.

In Kapitel 5 werden die methodische Vorgehensweise und das Sampling vorgestellt. Zur Herausarbeitung kollektiver Peerorientierungen wählt Stiller die Gruppendiskussion. Zudem kommt eine videobasierte Texttranskription zum Einsatz. Die Datenauswertung basiert auf der dokumentarischen Methode von Text- und Bildmaterial mittels Interpretation, komparativer Analyse der Fälle sowie sinn- und soziogenetischer Typenbildung.

Die Kapitel 6 und 7 sind empirisch ausgerichtet. Kapitel 6 startet mit Fallbeschreibungen, worauf die Ergebnisdarstellung folgt, die auf Diskussionen mit vier Peergruppen von Drittklässlern aus drei Grundschulen fußt. Auf Basis fallimmanenter, -interner und -übergreifender Vergleiche, arbeitet Stiller die thematischen Schwerpunkte Peerbeziehungen, Lehrkräfte, Schulleistungen, Elternsprechtage und Klassenfahrten heraus, die in den Gruppen auf je spezifische Weise thematisch wurden. Er differenziert die kollektiven Orientierungen der Gruppen aus. Emotional sind Klassenfahrten (positiv) und Elternsprechtage (negativ) besetzt. Stiller ordnet sie der schulischen Organisation zu, die allerdings zugleich Gegenstand von Aushandlungen zwischen Eltern und Lehrkräften seien und einen Bruch mit der den Kindern bekannten Routinen des Schulalltags darstellen und sich erwartungswidrig durch eine „weitgehende ‚Abwesenheit‘ von Regeln“ auszeichnen (306). Daraus leitet Stiller ein kollektives Orientierungsproblem für die Kinder ab, das sowohl im Erfahrungsraum Peers als auch im Erfahrungsraum Schule vorherrsche und mit einem Krisenerleben der Kinder, verstanden als zentraler Aspekt der Habitusbildung, und Gefühlen wie Angst und Ohnmachtserleben einhergehe. „Daraus entsteht die Orientierung auf eine Krisenbewältigung, die die Hinwendung auf die Peers und die Abwendung gegenüber Erwachsenen“ beinhalte (309).

Die Kapitel 8 und 9 dienen als ergebnisorientierte Kontextualisierung und Zusammenfassung. Stiller arbeitet seine Ergebnisse auf die finale Fragestellung „Wie äußern sich Schülerinnen und Schüler in Peergruppen aus dritten Klassen an Grundschulen zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrkräften?“ hin aus und verbindet diese mit Theorie und Forschungsstand. Der Autor geht darauf ein, dass sich seine Perspektive auf inner- und intergenerationale Beziehungen der Kinder in der Arbeit zu einer peer- und institutionsbezogenen Perspektive gewandelt habe. Damit lässt sich die Dissertation v.a. in der schulpädagogischen Forschung verorten.

Als ein wesentliches Ergebnis der Studie wird die sozialräumliche Abgrenzung der Peergruppe festgehalten, verbunden mit einem emotional gefärbten Krisenerleben (bezogen auf Klassenfahrten und Elternsprechtage), das, wie Stiller betont, nicht durch eine grundsätzliche Kooperation zwischen Eltern und Lehrkräften entstünde, sondern aufgrund differenter Differenzerfahrungen in Form „unzureichende[r] Regelung und Beteiligung in Randbereichen der Institution“ (353). Die kindliche Perspektive deutet Stiller somit als eine durch die Schule fremdgerahmte Habitusbildung als Moment des Krisenerlebens. Darin sieht er auch den Gewinn seiner Studie: „Die Bedeutung der Krisenerfahrungen und Krisen für die Habitusbildung der SchülerInnen führt zu einem doppelten Krisenbegriff in sozialisatorischer und institutioneller Hinsicht, der die Perspektive auf schulische „Elternarbeit“ erweitert“ (368). Eine gegenstandsangemessene Theorie der Elternarbeit, so Stiller, müsse daher nicht nur Ablösungsprozesse und Peerbezüge in den Fokus rücken, sondern auch die „unzureichende Institutionalisierung“ dieses Bereichs von Schule (368), dem es an Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit fehle.

Recht mühsam liest sich bisweilen der äußerst umfängliche Theorieteil, was auch auf die detaillierte Darstellung anderer Forschungsarbeiten zurückzuführen ist, die hier eingebunden werden. Es verwundert, dass der Begriff der Krise, der im Titel der Arbeit gleichauf mit dem der Habitusbildung genannt wird, nur punktuell, jedoch ohne eigenes (Unter-)Kapitel grundlagenorientiert aufbereitet wird. Dadurch bleibt lange offen, wie genau und aus welcher Perspektive das Krisenerleben und die –bewältigung bedeutsam werden (sollen). Durch die Tiefe der Auseinandersetzung und die vielen Analyseschritte und Bezüge, verliert man bisweilen den Blick auf den Kern der Empirie. Prägnant wird im Klappentext der empirische Ertrag festgehalten: Schulische „Elternarbeit“ wird von Grundschüler/innen im Kontext ihrer schulischen Habitusbildung als Krise erlebt, die sie in der Differenzerfahrung von Regelkenntnis und –praxis mit Hilfe einer verstärkten Peerorientierung bewältigen.

Trotz dieser Einwände hat Stiller durch seine konzeptionellen und method(olog)ischen Verbindungen von Schul-, Peer- und Kindheitsforschung eine innovative und thematisch überfällige Dissertationsstudie vorgelegt. Er leistet damit einen weiterführenden Beitrag für die fachbezogene Diskussion um die nach wie vor nur in Ansätzen erforschten Positionen und Perspektiven von (Grundschul-)Kindern auf das Verhältnis Schule-Familie und im Besonderen auf die Zusammenarbeit von Lehrkräften und Eltern.
Eva Reitz & Tanja Betz (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Eva Reitz & Tanja Betz: Rezension von: Stiller, Karl-Theodor: „Elternarbeit“ aus Kindersicht, Habitusbildung im Krisenerleben. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365831647.html