EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Barbara Saxer
Zum Phänomen des Sich-Einfühlens und seiner Bedeutung für das Lernen von Schülerinnen und Schülern
Eine phänomenologisch orientierte Studie
Wiesbaden: Springer VS 2021
(181 S.; ISBN 978-3-658-32172-7; 51,39 EUR)
Zum Phänomen des Sich-Einfühlens und seiner Bedeutung für das Lernen von Schülerinnen und Schülern Die 2019 von Barbara Saxer verfasste und 2021 publizierte Dissertation beschäftigt sich mit dem in der Pädagogik zentralen und doch selten untersuchten Phänomen des Sich-Einfühlens beim Lernen. Die phänomenologisch orientierte Studie gliedert sich in sechs Kapitel. Nach der Einleitung (Kapitel 1) folgt eine Auseinandersetzung mit Lernen als eine Grundkonstante der menschlichen Existenz (Kapitel 2) sowie eine theoretische Annäherung zum Phänomen des Sich-Einfühlens (Kapitel 3). Dieser Grundlagenteil der ersten Kapitel der Arbeit wird mit forschungsmethodologischen Überlegungen im vierten Kapitel abgeschlossen. Im fünften Kapitel folgt der Kern der Arbeit: 15 Vignetten und Lektüren, welche das Phänomen des Sich-Einfühlens aus unterschiedlicher Perspektive beleuchten. In einem Resümee und Ausblick (Kapitel 6) werden die Ergebnisse gebündelt und zentrale Aussagen diskutiert.

Im zweiten Kapitel setzt sich Barbara Saxer mit dem in der Arbeit verwendeten Lernbegriff auseinander. Lernen als eine relationale Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden wird in der Arbeit im phänomenologischen Sinne als ein Geschehen verstanden, „das sich im Bedingungsgefüge zwischen Selbst, anderen und der Welt ereignet und das Selbst- und Weltbild der Schülerinnen und Schüler gleichermassen berührt wie das der Lehrerinnen und Lehrer“ (21). Aus bildungswissenschaftlicher Sicht wird im Buch nicht nur nach der Modalität von Lernen gefragt, sondern auch nach dessen Inhalt und „was mit den Lernenden und der Welt, in der sie leben, geschieht“ (31f.). Die Autorin bezieht sich in ihrer Arbeit auf einen phänomenologischen Lernbegriff, der Lernen als Erfahrung versteht, wobei Erfahrung als durchkreuzte Erwartung verstanden wird. Mit Bernhard Waldenfels, der dem Modell der Intentionalität von Husserl, das Konzept der Responsivität entgegenstellt, könne Lernen auch als ein Antwortgeschehen verstanden werden. Lernen wird dadurch zu einem Widerfahrnis, welches sich zwischen Pathos und Response ereignet. Oder wie es Bernhard Waldenfels formuliert: „Ich antworte auf etwas, das mir auffällt; etwas fällt mir auf, indem ich darauf antworte“ [1].

Lehrende und Lernende, so die Autorin, sind leibliche Wesen, wobei der Leib Voraussetzung für das Sich-Einfühlen ist. Der Leib als Grundphänomen des menschlichen Seins verbindet Natur und Geist und „dient als Exempel für das präreflexive und präpersonale Ineinander von Materialität und Bewusstsein, Aktivität und Passivität“ (21) und „setzt sich damit über rationalistische und intellektualistische Interpretationen hinweg“ (21). Erst über den Leib sei es möglich, einen Zugang zu den Gefühlen und Gedanken, Wünschen und Intentionen von Schüler:innen zu erhalten. Auch Forschende sind als leibliche Wesen im Feld anwesend und nehmen über die miterfahrene Erfahrung die Erfahrungen schulischen Lernens von Schüler:innen auf.

Das Phänomen des Sich-Einfühlens lässt sich, wie Barbara Saxer im dritten Kapitel ausführt, allgemein „als ein facettenreiches, komplexes Phänomen beschreiben, mit dessen Hilfe es gelingt, vom Eigenen, das man kennt, zum Fremden zu gelangen, das man nicht kennt“ (45), wobei Barbara Saxer sich in ihrer Untersuchung bezüglich des Fremden auf 11-jährige Schüler:innen aus drei Südtiroler Schulklassen beschränkt. Der Fokus der Untersuchung liegt auf den Fähigkeiten der Lehrer:innen, „die vielfältigen mentalen Prozesse von ihren Schülerinnen und Schülern, wie etwa deren Gefühle, Wünsche, Überzeugungen, Intentionen etc. aus deren Perspektive sinnlich-empfindend erfassen zu können“ (45). Dabei grenzt sich die Autorin vom Begriff der Empathie ab, da dieser aus einer anderen Forschungstradition, letztlich aus der Theory of Mind-Debatte (Theory-Theory und Simulationstheorie), stamme. Theoretisch stützt sich Barbara Saxer unter anderem auf Edith Stein und ihre Auseinandersetzung zu Einfühlen als Erfahrung fremden Erlebens. Stein unterscheidet hierbei zwischen drei unterschiedlichen Phasen: Auftauchen des Erlebnisses, erfüllende Explikation und zusammenfassende Vergegenwärtigung des explizierten Erlebnisses. In der dritten Phase „kommt es zu einer Klärung des fremden Erlebnisses“ (70), in dem aus einer distanzierten Beobachtungsposition sowohl das Erleben anderer als auch das eigene Erleben, welches in Beziehung zum Fremden gesetzt wird, in Auseinandersetzung kommt.

Um das Phänomen des Sich-Einfühlens wissenschaftlich zu begründen, verwendet Barbara Saxer phänomenologische Vignetten. In prägnanten Texten werden die miterfahrenen Erfahrungen der Lehrer:innen zum Ausdruck gebracht, sprachlich verdichtet und damit wahrnehm- und auch bearbeitbar gemacht. In Vignetten-Lektüren werden die Vignetten anschließend gedeutet im Sinne eines Herauslesens, das verschiedene Sichtweisen, beispielsweise auf das Phänomen des Sicht-Einlassens, ermöglicht. Mittels 15 Vignetten mit anschließender Lektüre wird im fünften Kapitel das Phänomen des Sich-Einfühlens auf unterschiedliche Perspektiven hin untersucht. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage wie und als was sich dieses Phänomen in den Vignetten zeigt.

Für Leser:innen sind die verschiedenen Vignetten in der Arbeit von Barbara Saxer ein besonderes Lesevergnügen. In verdichteter Sprache entfalten sich alltägliche Schulsituationen zu intensiven Momenten der Auseinandersetzung zwischen Lehrer:innen und ihren Schüler:innen. Das Phänomen des Sich-Einfühlens zeigt sich darin auf vielfältige Art und Weise: Beispielsweise in einer Situation, in der ein Schüler ganz aufgeregt seiner Lehrerin die am Computer erstellten Hausaufgaben zeigt und in der anschließend deutlich wird, wie die Lehrerin darauf antwortet und sich Zeit nimmt (Vignette 1) sowie daraus ein Lernanlass für viele Schüler:innen entsteht (Vignette 2). In diesem kurzen, intimen Moment zeigen sich Aspekte einer spezifischen Professionalität der Lehrerin, welche im Schulalltag häufig übersehen und kaum beachtet wird: Es zeigt sich ein aus der Situation entstehendes Sich-Einfühlen, welches die ganze Komplexität des pädagogischen Geschehens aufnimmt und sich nicht auf einzelne Techniken oder Handlungen reduzieren lässt. Das Phänomen des Sich-Einfühlens lässt sich beispielsweise im Raum geben der Lehrerin wahrnehmen, wenn sie sich zurücknimmt und einem Schüler mit den am Computer geschriebenen Hausaufgaben gewissermassen die Bühne überlässt.

In einer anderen Vignette (Vignette 10) wird eine Konfliktsituation beschrieben. In dieser Szene zeigt sich auf eindrückliche Art und Weise eine weitere Facette des Phänomens Sich-Einlassens. Sich auf die Schüler:innen einzulassen kann auch bedeuten, dass man für das Gegenüber etwas tut, auch wenn man nicht der:die Verursacher:in des Ärgers ist.

Vignetten als phänomenologischer, empirischer Zugang zu Erfahrungen von Schüler:innen eignen sich, wie die Beispiele exemplarisch aufgezeigt haben, um das Agieren von Lehrer:innen mit ihren Schüler:innen zu betrachten und darüber nachzudenken, wie pädagogische Beziehungen gestaltet werden können. In der Diskussion von Vignetten können, so führt Barbara Saxer in ihrer Arbeit weiter aus, pädagogische Kompetenzen von (angehenden) Lehrer:innen aus- und weitergebildet werden. Diese Kompetenzen seien für ein professionelles Handeln von Lehrer:innen unerlässlich. Dabei hat die Fähigkeit des Sich-Einfühlens nach Einschätzung der Autorin bisher ein „Schattendasein geführt“ (165). Die Arbeit mit Vignetten hat das Potenzial, dies zu ändern, in dem es genutzt wird, „um auf verschiedene Facetten des Phänomens hinzudeuten und seine Wirkmacht im schulischen Alltag ins Zentrum zu rücken“ (165).

Barbara Saxer legt mit ihrer Dissertation eine Arbeit vor, welche sowohl für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sich-Einfühlen als auch für die Aus- und Weiterbildung von Lehrer:innen im Rahmen von deren Professionalisierung einen wichtigen Beitrag leistet. Die Arbeit – insbesondere die Vignetten und deren Lektüren – sind sehr zu empfehlen.

[1] Waldenfels, B. (2010). Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Suhrkamp, S. 112.
Niels Anderegg (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Niels Anderegg: Rezension von: Saxer, Barbara: Zum Phänomen des Sich-Einfühlens und seiner Bedeutung für das Lernen von Schülerinnen und Schülern, Eine phänomenologisch orientierte Studie. Wiesbaden: Springer VS 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365832172.html