EWR 22 (2023), Nr. 4 (Oktober)

Magnus Frank
Eingeladen zum sohbet
Eine differenzreflexive Ethnographie muslimischer Bildungspraxis
Wiesbaden: Springer VS 2021
(335 S.; ISBN 978-3-658-34076-6; 79,99 EUR)
Dass der damalige Lehramtsstudent Magnus Frank von seinem Freund und Kommilitonen Yusuf eine Einladung zum sohbet (türk.: Gespräch) bekam und in sein späteres Forschungsfeld „[hinein]stolperte“ (83), ist ein Glücksfall für die qualitative Sozialforschung im Allgemeinen und für die ethnographisch arbeitende Erziehungswissenschaft im Besonderen. Sohbetler sind Gesprächskreise der muslimischen Gülen-Bewegung, bei denen sich (im vorliegenden Fall ausschließlich männliche) Studenten wöchentlich unter Leitung eines abis (türk. Kurzform von ağabey: älterer Bruder) zum geselligen Austausch und zur Diskussion von für die Bewegung relevanten Schriften und Themen treffen. Die Bewegung, in der Türkei rund um den Prediger Fethullah Gülen entstanden, erhielt in Deutschland im Sommer 2016 schlagartig mehr Aufmerksamkeit, als Gülens Name mit dem (gescheiterten) Putschversuch in Verbindung gebracht wurde.

Magnus Frank, seit 2010 als Ethnograf zu Gast in sohbetler in NRW und Berlin, rekonstruierte für sein Promotionsvorhaben deren Praktiken als migrationsgesellschaftliche Bildungsprozesse. Die vorliegende Monographie, „Eingeladen zum sohbet. Eine differenzreflexive Ethnographie muslimischer Bildungspraxis” erschien 2021 in der Reihe „Studien zur Schul- und Bildungsforschung“. Gegliedert in eine Einleitung, drei Kapitel sowie ein Fazit, sucht und findet der Autor Wege der Versprachlichung seiner teilnehmenden Beobachtungen für ein Feld, das er als „kontrovers und polarisierend diskutiert“ (90) resp. „geheimnisumwoben“ (299) beschreibt, und dessen Teilnehmer er als „diskreditierte“ oder potentiell „diskreditierbare“ (Goffman) [1] „Migrationsandere“ (Mecheril) situiert. Bereits in der Einleitung wird klar, dass Magnus Frank nicht anstrebt eine Ethnographie des sohbets zu schreiben, in der die Bewegung einem unkundigen oder neugierig gewordenen Publikum verständlich gemacht werden soll. Viel eher macht er sich daran, die epistemologischen und ethischen Bedingungen der (Un-)Möglichkeit der Beforschung und Repräsentation seines Feldes zu reflektieren. Die dabei angebotene Lesart zum sohbet ist damit eingelassen in ein Ringen darum, wie eine „dichte Beschreibung“ (Geertz) [2] nicht nur analytisch erkenntnisreich, sondern auch mit einer als geboten erachteten Vorsicht entwickelt werden kann.

Die Einleitung erläutert den Aufbau der Studie und ordnet das Vorhaben ethnografisch ein. Wir erfahren, dass der Ethnograph nach der ersten Einladung 75 weitere sohbetler besuchte, und dass das Promotionsvorhaben in ein DFG-Forschungsprojekt zur Pädagogik der Gülen-Bewegung eingebunden wurde, das nach der bildungsbiographischen Bedeutung der Bewegung für seine Akteure fragte. Im zweiten Kapitel zeichnet Frank nach, wie er als „Türkisch sprechender Deutscher“ (65) zum Ethnographen dieses Feldes wurde. Er entfaltet anschaulich, wie sich Wissen über die Gülen-Bewegung in divergierenden Diskursen konstituiert und zu Deutungen gerinnt, zu denen sich Forschende, die Öffentlichkeit, aber auch die Akteure der Gülen-Bewegung selbst wiederum in Beziehung setzen. Man erhält eine Kontextualisierung des Feldes und der Diskurse, die deren Wahrnehmung prägen – auch wenn der Autor keinen „gesicherten Forschungsstand über den Gegenstand“ (63) wiedergeben möchte.

Das 3. Kapitel lässt sich als Herzstück der Arbeit begreifen. Es widmet sich der Frage, welche Praktiken die Abende in den evler (türk.: Häuser) zum sohbet werden lassen und welcher soziale Sinn ihnen zugeschrieben wird. Ethnomethodologisch inspiriert fokussiert es mikroskopisch auf den Ethnographen, der eingeladen wird, und wendet den Blick den Teilnehmenden zu, wie sie ankommen, sich den Raum aneignen und gemeinsam beten (oder auch nicht). Dabei sucht der Autor auch nach Möglichkeiten, das Sphärische einzufangen. So erhalten Sofas durchaus einmal ein „Alleinsitzungsmerkmal“ (122), oder Lesende werden an der Beobachtung teilhaben gelassen, wie der Ethnograph beim Versuch, möglichst unauffällig einbeinig stehend seine Schuhe auszuziehen, gleichsam auch seine „Vorstellungen über Zugehörigkeit [ausbalanciert]“ (107). In fünf detaillierten Fallportraits werden schließlich Praktiken eines „doing abi“ (164-234) vergegenwärtigt. Es geht mitunter um die „dramaturgische Inszenierung“ (164) der sohbetler und ihre konstituierende Verfasstheit. Abhängig von der Leitung des jeweiligen ağabey, so zeigt der Autor, lassen sich die Gesprächskreise als unterschiedliche Ausformungen muslimischer Bildungspraxis verstehen.

In Kapitel 4 bearbeitet der „Ethnograph[.], der […] kein Muslim geworden ist“ (4), zentrale Referenzrahmen und darin eingelassene Konzepte wie nefs – mitunter als leiblicher und/oder lüsterner Gegenspieler zur Seele übersetzt –, oder edep – zu Deutsch in Kultiviertheit oder edles Verhalten überführbar –, die im sohbet verhandelt werden. Der Autor elaboriert dabei eingänglich, wie (migrationsgesellschaftliche) Differenzverhältnisse, Konstellationen von Welt und Glaube, und sich darin manifestierende Verhaltensanforderungen an die jungen muslimischen Studenten zueinander in Beziehung gestellt werden. Dabei wird rekonstruiert, wie im sohbet eine „ermächtigende Verschiebung der Deutungshoheit“ (288) entstehen könne, die den Teilnehmenden helfe, bei durchaus komplexen Anforderungen an soziale Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft dennoch in ein „entspanntes Verhältnis“ (277) zu diesen Anforderungen zu kommen. Das Fazit fasst die Arbeit kapitelweise zusammen und formuliert acht Fragehorizonte, in die die Ausführungen der Monographie gestellt werden könn(t)en, und zu denen die Arbeit sich auch perspektivisch in Beziehung stellen möchte.

Dass Magnus Frank sein Unterfangen als „krisenaffin[.]“ (VII) beschreibt und die „writing culture critique“ (Clifford/Marcus) [3] an den Anfang seiner Ausführungen stellt, ist konstitutiv und folgenreich für das Argument der Monographie. Leser:innen erhalten nicht nur solide, weit über den empirischen Fall hinaus erhellende Ausführungen zur Diskussion rund um Fragen von Positionierungen und Autorität ethnografischer Repräsentation. Gleichsam bekommen sie entlang der in langjähriger Beschäftigung des Autors mit der Gülen-Bewegung gesammelten Daten aufgezeigt, welche epistemischen Herausforderungen sich in dergestalt krisenaffin und differenzreflexiv ausgeflaggter Forschung ergeben können. Als Konsequenz scheint sich Magnus Frank mit den letztlich konkret verfolgten Forschungsfragen interessanterweise jedoch aus seiner methodologischen Rahmung hinaus zu bewegen. Zwar läuft das „[P]olarisierend[e]“ (19) im Text mit. Dies allerdings nur auf der Hinterbühne, als angedeutete Gegenfolie zur präsentierten ethnomethodologischen Analyse dessen, was das sohbet zum sohbet werden lässt. Es ist das nicht-Gesagte und das, was der Autor nicht zu Blatt bringen wollte, das den Text und die Positionierung des Autors krisenaffin macht. Denn die in Kapitel 3 und 4 präsentierten Abende muslimischer Bildungspraxis erscheinen als empirische Beschreibungen so unproblematisch, dass nicht immer klar wird, in welchem Verhältnis sie zu den krisenhaften Verwicklungen und Hemmungen des Autors stehen. Methodologische Reflexion über Differenzsensibilität und der gewählte Ausschnitt der Fallanalyse streben in unterschiedliche Richtungen und erzählen zwei Geschichten, jede auf ihre Weise aufschlussreich; ihre Beziehung erscheint aber argumentativ und erkenntnistheoretisch eher lose.

Aus vielen Gedanken, die beim Lesen der Monographie entstehen (können), sei einer hier zum Mitnehmen ausgestellt:
Frank wählt die deutsche Migrationsgesellschaft als zentralen Bezugsrahmen für seine Analyse. Die leitende Figur für methodologische und erkenntnistheoretische Ausführungen wird dabei die des „Migrationsanderen“, die es sodann nicht zu reifizieren gilt, die aber auch als Begründungsfigur der Teilnehmenden auftaucht: „hier ist man nicht bildungserfolgreich, obwohl man muslimisch orientiert ist, sondern gerade weil man es ist“ (307). Die Analyse wird zugespitzt darauf, welches Angebot der Anerkennung und statthaften Selbstbehauptung die sohbetler für ihre Teilnehmenden bereithalte zur Entgegnung all der „negativen Urteile“ und „orientalistische[n] Bilder“ (287), die in Deutschland kursierten. Interessant wäre gewesen, wenn weitere, für das Feld konstitutive Differenzen (bspw. von „Religionsanderen“) und andere Referenzrahmen als die deutsche Migrationsgesellschaft stärker in die Analyse einbezogen worden wären. Damit verknüpft lässt sich bei aller Differenzreflexivität und dem Forschungsethos der Vorsicht doch fragen, wem – wenn nicht so versierten und langjährig felderprobten Ethnografen wie Magnus Frank – die Aufgabe zugeteilt werden sollte und könnte, Wissen zu Feldern wie der Gülen-Bewegung sozialwissenschaftlich verfügbar zu machen. Dadurch, dass immer schon die potentielle Diskreditierung vorweggenommen, und deswegen manch interessanter Punkt nur angedeutet wird, vergibt die Arbeit auch eine Möglichkeit, mutiger auf eine Normalisierung von muslimischer Bildungspraxis im deutschen Kontext – mit ihren spezifischen Herausforderungen, ihren Ambivalenzen und transnationalen Verflechtungen – hinzuwirken.

Magnus Frank legt mit „Eingeladen zum sohbet“ eine Arbeit vor, die Lesende durch ihre sprachliche Virtuosität begeistert und in ihrem Ringen um Angemessenheit berührt. Das Buch hat das Potential, zu einem Referenzwerk zu werden für die erziehungswissenschaftliche ethnografische Methodendebatte nach der „Krise der Repräsentation“ (Berg/Fuchs) [4]. Es kommen aber auch all jene auf ihre Kosten und zu ihren inhaltlichen Anregungen, die sich für nicht staatlich organisierte Bildungspraxis in Migrationsgesellschaften im Allgemeinen oder die Gülen-Bewegung und ihre „diskursive Situiertheit“ (77) im Speziellen interessieren. Gerade auch, weil die Monographie deutlich mehr Fragen evoziert denn Antworten liefert und zum Streiten, Mitdenken, In-sich-Gehen, Involvieren und Mehr-Wissen-Wollen einlädt, ist die Lektüre allen angehenden und etablierten Ethnograph:innen, aber auch an erziehungswissenschaftlicher Migrationsforschung Interessierten mit Nachdruck zu empfehlen.

[1] Goffman, E. (1963/2016). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Suhrkamp, S. 56
[2] Geertz, C. (1995). Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In. Geertz, C. (Hrsg.): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Suhrkamp, S. 7–43
[3] Clifford, J., Marcus, G.E. (2010). Writing CultureThe Poetics and Politics of Ethnography. University of California Press
[4] Fuchs, M., Berg, E. (1993). Kultur, soziale Praxis, Text: Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp
Ursina Jaeger (Schweiz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ursina Jaeger: Rezension von: Frank, Magnus: Eingeladen zum sohbet, Eine differenzreflexive Ethnographie muslimischer Bildungspraxis. Wiesbaden: Springer VS 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365834076.html