EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)

Karen Geipel
Zum Subjekt werden
Analysen vergeschlechtlichender Positionierungen im Sprechen ĂŒber Zukunft
Wiesbaden: Springer VS 2022
(307 S.; ISBN 978-3-658-37730-4; 69,99 EUR)
Zum Subjekt werden Wie werden Menschen gegenwĂ€rtig zu Subjekten im Horizont ihrer sprachlichen Artikulationen und wie lĂ€sst sich dieses Werden theoretisch und empirisch erschließen? Diese Fragestellungen verfolgt die Dissertationsstudie von Karen Geipel fĂŒr das Feld der erziehungswissenschaftlichen Geschlechter- und Ungleichheitsforschung im Schnittfeld zur qualitativen Bildungs- und Biographieforschung. Indem sie sprachliche Äußerungen von weiblichen* Jugendlichen zu deren Zukunftsvorstellungen in den Blick nimmt und diese als diskursive Praktiken versteht, nimmt Geipel einen Zugang zum ‚Subjektwerden‘ als einem Geschehen der Subjektivierung.

Über das Konzept der Subjektivierung rĂŒcken, anschließend insbesondere an theoretische Grundlegungen Michel Foucaults und Judith Butlers, die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, Prozesse und Effekte der Subjektkonstitution in den Fokus. Somit wird diese Konstitution als ein auf Dauer gestellter Vorgang der in sich verschrĂ€nkten Selbst- und Anderenformierung verstĂ€ndlich, als Hervorbringung von Subjekten im Horizont sozialer und symbolischer Ordnungen. Im Falle von Geipels Studie geht es dabei zentral um die normativ-normierende, historisch gewachsene binĂ€re Geschlechter- und Begehrensordnung, die systematisch Möglichkeiten der Subjektbildung begrenzt.

Mit dem Konzept der Subjektivierung verbindet sich eine seit ca. 20 Jahren wĂ€hrende produktive erziehungswissenschaftliche Debatte um die kritische Bearbeitung pĂ€dagogischer Problemstellungen sowie um die Erforschung von empirischen VollzĂŒgen der Selbstbildung [1]. Geipels Studie schließt in doppelter Hinsicht an diese Debatten an: Zum einen werden Subjektivierung und der Begriff der Bildung in eine systematische NĂ€he zueinander gerĂŒckt, indem beiden Perspektiven ein geteiltes Interesse an der kritischen Reflexion bezĂŒglich der ‚Trans-Formationen‘ von Menschen als Subjekten im VerhĂ€ltnis zur Gesellschaft zuerkannt wird (mit Verweis auf Kollers transformatorische Bildungstheorie). Eng verbunden damit ist die Suche nach den Möglichkeiten von Widerstand bzw. der Erweiterung subjektiver HandlungsspielrĂ€ume gegenĂŒber sozialen Anforderungen.

Zum anderen nimmt Geipel Subjektkonstitutionen empirisch-analytisch in den Blick und fokussiert dabei auf vergeschlechtlichende Werdensprozesse. Sie schließt dabei an Arbeiten der Bildungs- und Biographieforschung an und untersucht Biographien als „soziale Konstruktionen, die durch die reflexive Bearbeitung von Erfahrungen als zeitliche Struktur erzeugt werden und im Zusammenspiel von diskursiv verfĂŒgbaren Subjektpositionen und deren (Re-)Signifizierungen entstehen“ (82). Üblicherweise konzentrieren sich Biographieforschungen auf eine Retrospektive und fragen nach dem Gewordensein von Subjekten. Von einer solchen ‚chrono-logischen‘ EngfĂŒhrung distanziert sich Geipel und betont, dass die Reflexion von Erfahrungen immer mit einer VerschrĂ€nkung zeitlicher BezĂŒge einhergeht, dass also Erfahrungen und Erwartungen (im doppelten Sinn: sowohl normativ als auch temporal) im biographischen Sprechen ineinandergreifen. Dem folgend argumentiert Geipel, dass auch in Zukunftsnarrationen produktive EntwĂŒrfe des Selbst artikuliert werden, die sich aus Vergangenem, GegenwĂ€rtigem und Antizipiertem speisen. Solche Zukunftsnarrationen untersucht Geipel denn auch, indem sie (berufs-)biographische EntwĂŒrfe von weiblichen Jugendlichen hinsichtlich eines „Modus des ZukĂŒnftigen“ (7) fokussiert.

Doch nicht nur an dieser Stelle bietet die Studie eine innovative Erweiterung etablierter ForschungszugĂ€nge, die hinsichtlich der Zielstellung der Studie –VollzĂŒgen vergeschlechtlichender Subjektivierung empirisch zu folgen – notwendig wird. Auch in den „method(olog)ischen Überlegungen“ (85) plausibilisiert Geipel eine Neujustierung. Da sie als Untersuchungsmaterial eine Gruppendiskussion reanalysiert – das Datenmaterial entstammt einer Studie mit dem Titel „AN[N]O 2015“, an der die Autorin als Forschende mitwirkte –, sieht sich Geipel mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Zum einen suggeriert das Material einen gewissen „Naturalismus“ [2] in dem Sinne, dass sich in Gruppendiskussionen das ‚authentische‘ Sprechen einer Gruppe mit kollektiv geteilten Erfahrungen reprĂ€sentieren soll. Zum anderen ist dieses Material im deutschsprachigen Raum hĂ€ufig mit dem Rekonstruktionsverfahren der dokumentarischen Methode [3] verknĂŒpft. Die Studie Geipels schließt in Abgrenzung dazu an bisher nur vereinzelt vorliegende diskursanalytische Arbeiten zu Gruppendiskussionen an [4] und bezieht sich auf die Ebene der Äußerungen als den Ort der Subjektbildung: im Sinne einer performativ-diskursiven Praxis der Positionierung (anschließend u.a. an die Überlegungen zur diskursiven Positionierung nach Bronwyn Davies und Rom HarrĂ©). Im Ertrag bieten Gruppendiskussionen dabei den Vorteil, dass sie „das Wechselspiel zwischen den SelbstentwĂŒrfen Einzelner und der Anerkennung durch Andere“ (119f.) vor dem Hintergrund sprachlich realisierter Normen zugĂ€nglich machen. Im Zuge der Analyse zeichnet Geipel auf diese Weise eindrĂŒcklich nach, wie sich in der Gruppendiskussion im Sprechen ĂŒber zukĂŒnftige Biographien einerseits hegemoniale geschlechtliche Seinsweisen ‚re-produzieren‘ (z.B. fĂŒrsorgliche MĂŒtterlichkeit als Selbstpositionierung vs. berufstĂ€tig-abwesende VĂ€terlichkeit als Fremdpositionierung) und wie andererseits differente geschlechtliche Seinsweisen (z.B. ‚Karrierefrauen‘ oder Mehrpersonenpartnerschaften) imaginiert, probehaft durchdacht und im Verlauf der Diskussion fortwĂ€hrend normativ eingehegt werden.

Kapitel 1 fĂŒhrt in die Studie ein und verortet diese innerhalb der Bildungs- und Zukunftsforschung. Im Kapitel 2 werden die theoriebasierten Grundannahmen der Studie expliziert. Geipel prĂ€sentiert in einem ersten Abschnitt poststrukturalistisch-praxeologische Konzepte wie Diskurs, Norm, Macht, (Re-)Signifizierung auf luzide und verstĂ€ndliche Weise. Anschließend erweitert sie die subjekttheoretischen Annahmen um den Kontext der Geschlechterforschung und zeigt, inwiefern Geschlecht eine fĂŒr Subjektkonstitutionen wesentliche, historisch wirkmĂ€chtige Differenz- und Ungleichheitsordnung sowie Differenzierungskategorie darstellt. Zudem wird das Sprechen ĂŒber Zukunft als temporale Praktik reflektiert. In Kapitel 3 werden die analytischen Übersetzungen der poststrukturalistischen Konzepte fĂŒr den Untersuchungszusammenhang jugendlichen Sprechens ĂŒber Zukunft an der Schwelle zum gymnasialen Schulabschluss dargelegt. Kapitel 4 ist der vergleichsweise umfĂ€nglichste Teil der Arbeit und enthĂ€lt die empirischen Analysen zu geschlechtsbezogenen Positionierungen im Sprechen ĂŒber Zukunft. Mit den Positionierungen als planende MĂ€dchen und als zukĂŒnftige MĂŒtter werden zwei zentrale weiblich codierte Konstruktionen eines antizipierten Selbst, die in der Gruppendiskussion verhandelt werden, herausgearbeitet.

Deutlich wird, wie „(Un-)Möglichkeiten des Denk- und Werdbaren in der Zukunft in ihrer Geltung sowohl erzeugt als auch infrage gestellt“ (263) werden und wie die Sprechenden dabei auch in der Gegenwart ihrer Artikulationen als weiblich vergeschlechtlicht anerkennbar werden. EindrĂŒcklich deutlich wird zudem die Persistenz und strukturierende Kraft von binĂ€ren, heteronormativen Geschlechternormen fĂŒr diese Prozesse. Interessant ist dahingehend, dass die SchĂŒlerinnen zwar einerseits nur wenige unkonventionelle ZukĂŒnfte entwerfen, dass sie aber andererseits keine grundsĂ€tzliche Verunsicherung bezĂŒglich ihrer ZukunftsentwĂŒrfe artikulieren.

Im Kapitel 5 werden die analysierten Positionierungen zusammengefĂŒhrt und hinsichtlich der ĂŒbergeordneten Konstruktion „(sich) sorgender Subjekte“ (223) generalisiert. Anhand einer Diskussion unterschiedlicher sorgetheoretischer Überlegungen nach Heidegger und Foucault zeigt Geipel, inwiefern „weiblich vergeschlechtlichte SubjektivitĂ€t gewissermaßen ĂŒber eine doppelte Sorgekonstruktion entsteht: ĂŒber die zeitliche Sorge als Zukunftsbezug und Vorwegnahme einer zukĂŒnftigen Sorge um Andere“ (246). Zudem werden die diskursiven Praktiken systematisiert, in denen Sorge als zentrale Norm des Subjektwerdens wiederholend aufgerufen wird.

In den Schlussbetrachtungen des Kapitels 6 reflektiert Geipel den Ertrag ihrer Studie, diskutiert Grenzen und offene Fragen der Untersuchung und fragt nach den Impulsen, die die Ergebnisse fĂŒr die PĂ€dagogik bieten. Sie kommt hier nochmals auf den Bildungsbegriff zurĂŒck und plĂ€diert dafĂŒr, diesen expliziter mit der Auseinandersetzung um ZukunftsentwĂŒrfe zu verbinden. So lĂ€sst sich u.a. die Frage diskutieren, wie „das Entwerfen alternativer ZukĂŒnfte, in denen Subjektnormen erweitert werden“ (283) pĂ€dagogisch begleitet werden kann. Die Studie ist somit fĂŒr Forschende, Lehrende und praktisch tĂ€tige PĂ€dagog:innen lesenswert.

[1] vgl. BĂŒnger, C. & Jergus, K. (2023). Bildung und Subjektivierung. Systematische Spannungslinien des Subjektivierungskonzepts im Kontext von Optimierung, Digitalisierung und Migration. In Zeitschrift fĂŒr Erziehungswissenschaft. 26(5). https://doi.org/10.1007/s11618-023-01201-8
[2] Hirschauer, S. (2008). Die Empiriegeladenheit von Theorien und der Erfindungsreichtum der Praxis. In: H. Kalthoff, S. Hirschauer & G.Lindemann (Hrsg.), Theoretische Empirie (S. 165–187). Frankfurt/M.
[3] vgl. bspw. Bohnsack, R., Nentwig-Gesemann, I & Nohl, A.-M. (2013). Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis (3. Auflage). Wiesbaden.
[4] vgl. u.a. Fegter, S.& Saborowski, M. (2021). Theoretische Modellierung einer empirischen Analyse von pĂ€dagogischer ProfessionalitĂ€t und Geschlecht anhand von Äußerungen als iteratives Moment historischer Wissensordnungen. In D. Fischer, K. Jergus, K. Puhr & D. Wrana (Hrsg.), Theorie und Empirie. Wittenberger GesprĂ€che VII (S. 78–101). Halle-Wittenberg.
Melanie Schmidt (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Melanie Schmidt: Rezension von: Geipel, Karen: Zum Subjekt werden, Analysen vergeschlechtlichender Positionierungen im Sprechen ĂŒber Zukunft. Wiesbaden: Springer VS 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365837730.html