EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Silke Schreiber-Barsch / Melanie Benz-Gydat / Sabine Schmidt-Lauff / Antje Pabst / Katja Petersen / Katja Schmidt (Hrsg.)
Erwachsenenbildung als kritische Utopie?
Diskussionen um MĂŒndigkeit, Gerechtigkeit und Verantwortung
Frankfurt: Wochenschau Verlag 2021
(208 S.; ISBN 978-3-7344-1148-9; 22,90 EUR)
Erwachsenenbildung als kritische Utopie? Dieser Sammelband anlĂ€sslich des 60. Geburtstags von Christine Zeuner greift in den verschiedenen BeitrĂ€gen die Diskussion um individuelle und kollektive MĂŒndigkeit sowie Gerechtigkeit und Verantwortung auf. Die Frage, wie das Element der Utopie in eine kritisch positionierte Erwachsenenbildung integriert werden kann, ist leitend. Die Verfasser:innen der BeitrĂ€ge sind in einem kritisch-emanzipatorischen VerstĂ€ndnis von Bildung verortet und stĂ€rken diese Verankerung im Diskurs als Impuls und relevante Theorieposition fĂŒr bildungspraktisches Handeln.

Der Band orientiert sich an den Themen, die von der Jubilarin in ihrer erwachsenenbildungswissenschaftlichen Forschung vorangetrieben werden und verknĂŒpft theoretische Betrachtungen mit Forschungsergebnissen, Praxisbefunden und konkreten Ideen fĂŒr eine verstĂ€rkte Ausrichtung der Praxis an den Idealen einer kritischen Bildungstheorie. Dieses pĂ€dagogische Feld hat sich aus Kritik an bestehenden VerhĂ€ltnissen heraus entwickelt und steht in engem Zusammenhang mit demokratiepolitischen Entwicklungen. Es ist eine zentrale Funktion von allgemeiner Erwachsenenbildung, auf sich verĂ€ndernde gesellschaftliche Bedingungen zu reagieren, und mittels bildungspraktischen Handelns und kritisch-solidarischen Wissenschafts-Praxis-Kooperationen einen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt zu leisten.

Christine Zeuner ist Professorin fĂŒr Erwachsenenbildung an der Helmut-Schmidt-UniversitĂ€t / UniversitĂ€t der Bundeswehr Hamburg und beschĂ€ftigt sich mit der Frage, wie Partizipation von Menschen gelingen kann. In den einfĂŒhrenden Worten zu diesem Band, der ‚Vorrede‘ (15-27), betont Oskar Negt die hohe gesellschaftspolitische Bedeutung der Forschungsarbeit Zeuners. Setzt sie doch damit bedeutsame Impulse, die dazu anregen, Demokratie als Lebens- und Staatsform zu lernen, tĂ€glich zu ĂŒben und zu praktizieren.

Die einzelnen BeitrĂ€ge des Sammelbandes sind in drei Abschnitte gegliedert: Im ersten Abschnitt „Utopie: ‚Politische Bildung in unsicheren Zeiten‘“ fĂŒhren Katja Petersen und Katja Schmidt (31-41) in die Grundbegriffe und Ideen des utopischen Denkens ein, die im Artikel von Daniela Holzer (42-54) mit bestehenden Konzepten wie Negation und Kritik in Zusammenhang gebracht werden. So wird ein VerstĂ€ndnis von Bildung hervorgebracht, das in der Reflexion bestehender gesellschaftlicher Bedingungen die FĂ€higkeit zur Kritik, Urteils- und Handlungskraft ausbaut. Die Negation bestimmt das Problem und die Utopie verdeutlicht die Richtung des Möglichen. So positioniert, argumentiert Jens Korfkamp (55-66), reagiert Erwachsenenbildung auf aktuelle demokratiepolitische Themenstellungen und Fragen der Zukunftsentwicklung. Der Beitrag von Helmut Bremer (67-84) reflektiert die Bedeutung unterschiedlicher Gesellschaftsbilder fĂŒr die politische Bildungsarbeit.

Die vier BeitrĂ€ge des zweiten Abschnittes „Lernen – Bildung – Utopie: ‚Was bringe ich ans Licht, wenn ich die Praxis zur Sprache bringe?‘“ thematisieren aktuelle bildungspraktische Herausforderungen und WidersprĂŒche. Der bestehende Zusammenhang zwischen utopischem Denken und Erwachsenenbildung wird sichtbar gemacht, indem Melanie Benz-Gydat und Antje Pabst (87-99) das Aufgreifen von Zielen der AufklĂ€rung wie „MĂŒndigkeit, Emanzipation und Mitgestaltung einer demokratischen Gesellschaft“ (94) in der Entstehung des Handlungsfeldes Erwachsenenbildung herausarbeiten. Zielsetzungen wie BefĂ€higung und SelbstermĂ€chtigung beschreiben das utopische Element. In klarer Opposition zu Instrumentalisierung und Ökonomisierung von Bildung wird kritisiert, dass es nicht ausreichend ist, bestehende Systeme durch Bildung zu stabilisieren. In der Gegenposition zu Standardisierungs- und Homogenisierungsbestrebungen fordern die beiden Autorinnen daher kritisch-emanzipatorische Bildungsangebote ein. Dazu passend wird von Jana Trumann (100-111) ein Forschungsprojekt vorgestellt, das im Rahmen von „UtopiewerkstĂ€tten“ (105) die Lernprozesse von Akteur:innen eines RepaircafĂ©s untersucht. Hieran zeigt sich, wie in informellen Bildungsprozessen die FĂ€higkeit zur kritischen Reflexion von Handlungsstrategien weiterentwickelt wird. Klaus-Peter Hufner (112-126) kritisiert die vorherrschende Ausrichtung von Bildung an ökonomischen Werten, und Elke Gruber (127-142) verweist auf die Wirkung von Menschenbildern im Diskurs um das lebenslange Lernen.

Der dritte Abschnitt des Bandes bietet unter dem Titel „Historisch – International – Utopie: ‚Lernen ohne Grenzen‘“ BeitrĂ€ge, die das beschriebene Spannungsfeld zwischen den Forderungen nach Anpassung, kritischer Reflexion und Mit-Gestaltung theoretisch aufarbeiten und Praxis reflektieren. Silke Schreiber-Barsch und Sabine Schmidt-Lauff (145-148) verorten die politische Figur von BĂŒrger:innen. Freie Demokratien fördern politische Bildung, um Rechte ebenso wie Verantwortung offenzulegen und aktive Partizipation zu ermöglichen, so das zentrale Argument von Elisabeth Meilhammer (149-162). Eine Struktur fĂŒr die lokale Umsetzung einer so verstandenen Bildung bietet die internationale Agenda 21. In Projekten können solidarische Lebens- und Handlungsweisen als Kontrast zur ĂŒblichen neoliberalen Praxis entwickelt, ausprobiert und geĂŒbt werden. Michael Schemmann (163-178) betont das hohe Potential zur aktiven StĂ€rkung von BĂŒrger:innen und zur Initiierung von regionalen VerĂ€nderungen in diesen Prozessen.

Die Einordnung der Textsorte als Festschrift mag erklĂ€ren, dass der rote Faden des Bandes nicht immer ganz deutlich zu Tage tritt. Jedoch erschließt sich durch die LektĂŒre der „Nachrede“ (181-204) der inhaltlich enge Zusammenhang. Christine Zeuner zeigt anhand der Entwicklungsgeschichte des Antigonish Movements in Nova Scotia, Kanada, wie mittels Bildung lokale, gesellschaftliche Utopie realisiert werden kann. Ausgangspunkt der ins Zentrum gerĂŒckten sozialen Bewegung waren schlechte ökonomische Bedingungen fĂŒr große Teile der dortigen Bevölkerung. Eine bĂŒrgerschaftliche Partizipation an der Gemeinschaft war diesen Gruppen dadurch nicht möglich, bot jedoch den Anlass, soziale und politische Mitgestaltungsmöglichkeiten aktiv zu fördern. An diesem Beispiel arbeitet Zeuner die Verbindung von Erwachsenenbildung, Partizipation, Negation, kritischer Reflexion, dem Denken in Utopien und aktivem politischen Wirken klar heraus, wodurch die Verbindungslinien zwischen den BeitrĂ€gen des Bandes ersichtlich werden.

Die LektĂŒre dieses Sammelbandes ist sowohl fĂŒr die Erwachsenenbildungspraxis als auch fĂŒr die Erwachsenenbildungsforschung anregend. Insgesamt gesehen bietet der Band eine schlĂŒssige Darstellung der Diskussion, wie sich Erwachsenenbildung positionieren kann, um auf aktuelle Krisensituationen zu reagieren. Die BeitrĂ€ge konfrontieren Praktiker:innen wie Forscher:innen mit der Frage, unter welchem Paradigma die eigenen Bestrebungen stehen. Es wird Anschluss an die Frage hergestellt, welchen Beitrag Bildung leisten kann, um Gesellschaft und Zukunft mitzugestalten. Die LektĂŒre kann darin bestĂ€rken, sich selbst in einem kritisch-emanzipatorischen Paradigma zu verorten, eigene Werte und die Handlungspraxis in dem beschriebenen Spannungsfeld zwischen Eingliederung in und Anpassung an bestehende VerhĂ€ltnisse zu reflektieren. Kritisch-emanzipatorische Erwachsenenbildung greift diese gesellschaftlichen Spannungsfelder und kontrĂ€ren Forderungen auf und die Autor:innen dieses Bandes fordern dazu auf, Utopie in Theorie und Praxis als Element einer so verstandenen Bildung voranzubringen.
Cornelia Malojer (Klagenfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Cornelia Malojer: Rezension von: Schreiber-Barsch, Silke / Benz-Gydat, Melanie / Schmidt-Lauff, Sabine / Pabst, Antje / Petersen, Katja / Schmidt, Katja (Hg.): Erwachsenenbildung als kritische Utopie?, Diskussionen um MĂŒndigkeit, Gerechtigkeit und Verantwortung. Frankfurt: Wochenschau Verlag 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978373441148.html