EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Jan Schiller
Bildung fĂĽr eine ungewisse Zukunft
Temporale Agenden im Kontext der Hochschulweiterbildung
Bielefeld: wbv Publikation 2022
(272 S.; ISBN 978-3-7639-7046-9; 49,90 EUR)
Bildung für eine ungewisse Zukunft Die Studie von Jan Schiller „Bildung für eine ungewisse Zukunft. Temporale Agenden im Kontext der Hochschulweiterbildung“ ist 2022 beim Verlag wbv Publikation in der Reihe „Erwachsenenbildung und lebensbegleitendes Lernen – Forschung & Praxis“ erschienen. Die Dissertationsschrift entspringt dem Projekt „Open Competence Center for Cyber Security C³S“, welches innerhalb des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausgeschriebenen Wettbewerbs „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“ gefördert wurde. Sie beschäftigt sich ausgehend von einer zeittheoretischen Analyse mit dem Verhältnis von bildungspolitischen, organisationalen sowie individuellen temporalen Agenden zueinander. Ausgangspunkt der Studie ist neben dem Drittmittelprojekt auch die „Notfall-Digitalisierung“ (13) der Hochschullehre aufgrund der Corona-Pandemie im Jahr 2020. Im Fokus der Betrachtung stehen die damit verbundenen zeittheoretischen Phänomene. Schiller beschäftigen konkret die Fragen, „auf Grundlage welcher Annahmen und Verständnisse heutige Bildungspolitik Zeit begreift, wie sie diese als temporale Agenden mit Blick auf Bildungsorganisationen und -teilnehmende formt – und ob diese ganz ähnliche temporale Agenden in ihren Bildungsbestrebungen aufweisen“ (15).

Die Publikation gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil widmet sich Schiller ausführlich einer interdisziplinären Analyse verschiedener Zeittheorien (z.B. Sabine Schmidt-Lauff, David Harvey, Hermann Lübbe oder Mario Kaiser) sowie der Bildungspolitik in der Postmoderne. Die bildungspolitischen Betrachtungen bezieht er insbesondere auf den instrumentellen Vernunftbegriff von Max Horkheimer sowie auf das von Licinio C. Lima und Paula Guimarães [2] entwickelte Modell sozialer Bildungspolitik, welches das demokratisch-emanzipatorische, das Modernisierungs- und Staatskontroll- sowie das Humanressourcen-Management-Modell unterscheidet.

Daran anschließend entwickelt er den Begriff der temporalen Agenden, der als Analyseinstrument auf der Makro-, Meso- und Mikroebene der wissenschaftlichen Weiterbildung dient: „Temporalität ist damit ein Explanans des historischen Prozesses. Dieser ist von menschlichen intentionalen Handlungen geprägt, die sich als Versuch beschreiben lassen, der Zeit eine bestimmte Ordnung zu geben. In ihrer Summe werden diese Ordnungsversuche als temporale Agenden greifbar. Im Begriff der temporalen Agenda kommen auf diese Weise die epochenspezifischen Temporalitäten von Gesellschaft inhaltlich zum Ausdruck.“ (30) Vier Annahmen zur kollektiven temporalen Agenda schließen den ersten Teil des Buches ab:

(1) Wissenschaftliche Weiterbildung ist stark von der Temporalität des Humanressourcen-Management-Modells geprägt, welches davon ausgeht, dass aufgrund der unvorhersehbaren zukünftigen (technologischen) Entwicklungen (wissenschaftliche) Weiterbildung einer „Obsoleszenz berufsbezogenen Wissens“ (118) entgegenwirken und das Fachkräftepotential sichern kann.

(2) Die ungewisse Zukunft und das instrumentelle Bildungsverständnis sind Grundzüge einer chronopolitisch präemptiven Bildungspolitik. „Zentrales Element [der Präemption] ist dabei die Setzung einer scheinbar alternativlos eintretenden unerwünschten Zukunft, zu deren Abwendung eine Anpassung der Gegenwart als unumgänglich gefolgert wird.“ (119) Diese Bildungspolitik produziert rekursive Logiken, denn aufgrund des Mangels an alternativen Zukunftsprognosen erscheinen die gegenwärtigen Forderungen als gesetzt.

(3) Ferner wird die Bildungspolitik durch Horkheimers Begriff der instrumentellen Vernunft geprägt. Hiernach ist „vernünftige“ Bildung (122) meist auf das höhere Ziel einer gesteigerten Produktivität ausgerichtet.

(4) Aus den Empfehlungen des Wissenschaftsrates (2019) [3] wird ersichtlich, dass idealmodelltypische und temporale Ambivalenzen der EU-Bildungspolitik – insbesondere das Spannungsverhältnis von Selbstzweck und ökonomischer Verwertbarkeit von Bildung – im deutschen Bildungssystem nicht zu finden sind. „Vielmehr scheint es, als entsprächen die maßgeblichen Elemente jener postmodernen Bildung umfänglich den Ausprägungen des Humanressourcen-Management-Modells […] und daran anknüpfend einem subjektivierten und instrumentellen Vernunftbegriff sowie der Logik einer präemptiven Chronopolitik.“ (128)

Zunächst diskursanalytisch auf der bildungspolitischen Makroebene als kollektive temporale Agenda eingeordnet, werden nun im zweiten Teil die bildungspolitischen Zielsetzungen der kollektiven temporalen Agenden in einer triangulierten Analyse von Angebotsformaten (Dokumentenanalyse), die der Mesoebene der Hochschulorganisation zugeordnet sind und Befragungsdaten nicht-traditionell Studierender [4] der wissenschaftlichen Weiterbildung (Evaluationsdatenanalyse) auf der Mikroebene als organisationale bzw. individuelle temporale Agenden in Beziehung zueinander gesetzt. Es wird demnach die Umsetzung der kollektiven temporalen Agenda in den organisationalen und individuellen temporalen Agenden anhand des empirischen Materials analysiert. Das erhobene Datenmaterial entstammt den wissenschaftlichen Weiterbildungsangeboten aus dem Bereich der IT-Sicherheit des genannten Projektes „Open C³S“.

Das in der zeittheoretischen Analyse des ersten Abschnitts herausgearbeitete präemptive Bildungsverständnis ist im Bereich der IT-Sicherheit in konzentrierter Form vorzufinden. Fachkräftemangel und Digitalisierung werden insbesondere im IT-Sektor als gegebene Zukunft gesetzt. Auf organisationaler Ebene schlägt sich dies in berufsbegleitenden, praxis- und anwendungsorientierten Formaten, der Adressierung nicht-traditioneller Studierender, in Anerkennungs- und Anrechnungsmodellen sowie in Blended-Learning-Formaten nieder. Auf der individuellen Ebene zeigt sich die Temporalität anhand der Demographie sowie der Bildungsziele der Teilnehmenden an Weiterbildungsangeboten. Schiller arbeitet heraus, dass temporale und „subjektiv-vernünftige“ (243) Setzungen (der Bildungspolitik) ein selbst perpetuierendes rekursives Denkmuster aufweisen, was dazu führt, dass die wissenschaftliche Weiterbildung im Bereich der IT-Sicherheit Züge eines hochinstrumentellen Bildungssektors annimmt.

Im dritten Teil beschäftigt sich Schiller abschließend mit der Frage, wie „ein akzelerationistischer Bildungsbegriff aussehen [könnte], der nicht einer rein subjektiven Vernunft entspringt“ (245) und wie entsprechende temporale Agenden gestaltet sein müssten. „Die Gestaltung der Zukunft der globalisierten Menschheit kann letztendlich zufriedenstellend für alle nur präventiv auf Grundlage von Werten, nicht präemptiv durch marktorientierte Prognosen entschieden werden, auch wenn diese dazu zunächst in einen spekulativen Zeitkomplex hinein akzeleriert werden müssen.“ (247) Seine Antwort ist eine „emanzipatorische präemptive Chronopolitik“ (248), die Zeit für eine individuelle Bildungsentfaltung unabhängig von kollektiven (wirtschaftsorientierten) temporalen Agenden zulässt. Darin werden „Ideen einer lebenslangen Bildung und des Humanismus“ (94) verbunden und soziale Entwicklung und Verantwortung betont. Ob diese Überlegungen angesichts des voranschreitenden Neoliberalismus realistisch sind, stellt der Autor selbst in Frage.

Mit der Studie „Bildung für eine ungewisse Zukunft“ gelingt es Jan Schiller, ein Konzept für die postmoderne Gesellschaft und im Besonderen für das (postmoderne) Bildungssystem im Bereich der wissenschaftlichen Weiterbildung mit einer (interdisziplinären) zeittheoretischen Analyse – insbesondere durch das im deutschsprachigen Raum kaum betrachtete Phänomen der präemptiven Chronopolitik – zu verbinden. Er liefert mit dem Begriff der temporalen Agenda einen gelungenen Anschluss vor allem an die zeittheoretische Forschung Sabine Schmidt-Lauffs und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur zeitbezogenen Forschung in der Erwachsenenbildung und wissenschaftlichen Weiterbildung. Seine Arbeit hebt sich von anderen in diesem Segment ab, da er politische Zeitnormen mit organisationalen Zeitstrukturen und individuellen Zeitverhältnissen ins Verhältnis setzt und deren Verflechtung untereinander verdeutlicht. Dabei arbeitet Schiller die zeitpolitische Einflussnahme und das Wechselspiel auf den Ebenen der Hochschule und der nicht-traditionell Studierenden im Weiterbildungsbereich besonders heraus.

Die Studie folgt einer klaren Argumentationskette, die sich auch im empirischen Teil immer wieder ihren theoretischen Ansätzen rückversichert. Die Dissertationsschrift von Jan Schiller kann somit jenen empfohlen werden, die sich mit zeittheoretischen Fragestellungen und deren Auswirkungen auf den unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft wie auch des postmodernen Bildungssystems (mit Fokus auf den Bereich des IT-Sektors in der wissenschaftlichen Weiterbildung) beschäftigen.

Trotz seines Gegenentwurfs einer emanzipatorischen Bildungsagenda zum neoliberalen Bildungsmodell ist der Blick des Autors auf die Zukunft des Bildungssystems – wie er selbst feststellt – von wenig Hoffnung bis gar „dystopisch“ (247) geprägt. An dieser Stelle zeichnet sich die Grenze seiner Publikation ab. Das analysierte Segment der IT-Sicherheit bildet – wie dargelegt – aufgrund seiner Schnelllebigkeit der technischen Neuerungen, taktischen Bewertungen und strategischen Entwicklungen sowie in Verbindung mit der Nachfrageorientierung im wissenschaftlichen Weiterbildungsbereich ein Paradebeispiel für ein präemptives Bildungsverständnis. Hier bietet die Studie viele Anknüpfungspunkte für andere Bereiche in der wissenschaftlichen Weiterbildung und im (grundständigen) Bildungssystem allgemein. Insbesondere die mit der Covid-19-Pandemie beschleunigte Digitalisierung hat zu veränderten Zeitordnungen vieler Lebensbereiche geführt. Interessant wäre daher zu überprüfen, inwieweit oder ob der beschriebene Übergang zum Human-Ressourcen-Management-Modell und das damit hervorgerufene präemptive System auch in weiteren Feldern der wissenschaftlichen Weiterbildung im Speziellen, des (hochschulischen) Bildungssystems im Allgemeinen oder weiterführend in anderen Lebensbereichen vorzufinden ist.

[1] Wolter, A., Dahm, G., Kamm, C., Kerst, C. & Otto, A. (2015). Nicht-traditionelle Studierende in Deutschland: Werdegänge und Studienmotivation. Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojektes. In U. Elsholz (Hrsg.), Beruflich Qualifizierte im Studium: Analysen und Konzepte zum Dritten Bildungsweg. W. Bertelsmann.
[2] Lima, L. C. & GuimarĂŁes, P. (2011). European strategies in lifelong learning: A critical introduction. Barbara Budrich Publishers.
[3] Wissenschaftsrat (2019). Empfehlungen zu hochschulischer Weiterbildung als Teil des lebenslangen Lernens. Vierter Teil der Empfehlungen zur Qualifizierung von Fachkräften vor dem Hintergrund des demographischen Wandels. https://www.wissenschaftsrat.de/download/2019/7515-19.html
[4] Schiller definiert nicht-traditionell Studierende in seiner Arbeit als Personen, die „nach der ersten Bildungsphase an originär als Weiterbildung konzipierten Angeboten der Hochschulweiterbildung“ (24) teilnehmen. Es wird darauf verwiesen, dass diese Gruppe von Studierenden vor allem auf durch ihre Heterogenität und Diversität gekennzeichnet ist. Auf weitere Differenzierungen wie etwa nach Wolter et al. (2015) [1] wird verzichtet.
Sarah Präßler (Wetzlar)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sarah Präßler: Rezension von: Schiller, Jan: Bildung fĂĽr eine ungewisse Zukunft, Temporale Agenden im Kontext der Hochschulweiterbildung. Bielefeld: wbv Publikation 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978376397046.html