EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)

Anna Brake / Helmut Bremer / Andrea Lange-Vester (Hrsg.)
Empirisch Arbeiten mit Bourdieu
Theoretische und methodische Überlegungen, Konzeptionen und Erfahrungen
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2013
(302 S.; ISBN 978-3-7799-1587-4; 29,95 EUR)
Empirisch Arbeiten mit Bourdieu Der vorliegende Sammelband geht auf eine in den 1980er Jahren entstandene Idee fĂŒr ein Buchprojekt von Steffani Engler zurĂŒck, in dem ForschungsansĂ€tze vorgestellt werden, die sich dem theoretischen Instrumentarium Pierre Bourdieus verpflichten und dieses fĂŒr die empirische Forschung nutzbar machen, so die Herausgeber/innen im einleitenden Beitrag. In diesem Sinne nehmen alle neun BuchbeitrĂ€ge ihren gemeinsamen Ausgangspunkt in einer Auseinandersetzung mit Bourdieus Denkwerkzeugen, die die Erforschung von Praxis in spezifischer Weise beeinflussen.

Auftakt des Bandes bildet der Wiederabdruck eines Interviews von Beate Krais mit Pierre Bourdieu im Jahr 1988, in dem Bourdieus wissenschaftstheoretische Reflexionen im Fokus stehen. Ziel sei es, so Bourdieu, den positivistischen sowie theoretizistischen Strömungen in der Soziologie „eine theoretisch begrĂŒndete empirische Soziologie“ (21) entgegenzustellen. Dies geschieht, so Bourdieu, indem die Konstruktion des zu untersuchenden Objekts als der grundlegende wissenschaftliche Akt verstanden wird, der wiederum nicht von den Instrumenten der Objektkonstruktion zu trennen ist. So besteht die Möglichkeit sich als Forscher/in der RealitĂ€t – die bei Bourdieu immer relational gedacht ist – zu nĂ€hern.

Steffani Englers bisher unveröffentlichter Beitrag zum „wissenschaftlichen Beobachter“ als Produzent von Wissenschaft schließt thematisch nahtlos an das Interview an. Im Beitrag wird die Notwendigkeit einer konsequenten Bewusstmachung der eigenen SozialitĂ€t durch die Forschenden selbst diskutiert. Bei der Betrachtung der Rolle des „wissenschaftlichen Beobachters“ in klassischen und gegenwĂ€rtigen soziologischen Diskursen kritisiert sie u.a. das Verschwinden des Beobachterstandpunkts durch den Glauben an wissenschaftliche ObjektivitĂ€t. Dem hĂ€lt sie die Arbeiten von Luhmann und Bourdieu entgegen, die dem wissenschaftlichen Beobachter eine zentrale Rolle einrĂ€umen. Mit Bourdieu gebe es keine neutralen Wahrnehmungsschemata des Wissenschaftlers, lediglich die intellektuellen Werkzeuge ihrer Kontrolle.

Der erste Beitrag, der die methodische Umsetzung einer theoretisch begrĂŒndeten empirischen Soziologie (s.o.) forschungspraktisch verdeutlicht, stammt von Anna Brake. Das methodologische Grundprinzip einer „Konversion des Blicks“ (59), d.h. der Außerkraftsetzung alltĂ€glicher PrĂ€konstruktionen, die die GegenstĂ€nde von sich aus vorzugeben scheinen, zeigt sie am Beispiel der Habitusanalyse von Familienphotographien im Marburger Mehrgenerationenprojekt zu bildungs- und kulturbezogenen Austauschprozessen zwischen Großeltern, Eltern und Enkeln auf. Ihre Überlegungen entwickelt sie ausgehend von den photographischen Arbeiten Bourdieus, die jedoch kaum systematisch ausgearbeitet worden seien. In Abgrenzung zu phĂ€nomenologisch geprĂ€gten bildtheoretischen Überlegungen definiert sie Photographieanalyse im Anschluss an Bourdieu als ein Gegenprogramm, in dem die Gebrauchsweisen von Photographie in ihrer sozialen, ĂŒberindividuellen Standortgebundenheit aufzuzeigen seien.

Helmut Bremer und Christel Teiwes-KĂŒgler skizzieren den Ansatz der Habitushermeneutik als ein durch zahlreiche Interviews und ForschungswerkstĂ€tten entwickeltes Instrument, um Muster des Habitus – verstanden als einheitsstiftendes Prinzip und als Verbindungsglied mentaler und sozialer Strukturen – aus der sozialen Alltagspraxis von Individuen zu erschließen. Methode und Analysevorgehen – die ausfĂŒhrlich am Beispiel einer Interviewauswertung sowie einer Gruppenwerkstatt mit Collagen vorgestellt werden – leiten sich aus dem methodologischen Prinzip des doppelten, d.h. zweifachen erkenntnistheoretischen Bruchs ab. So gelte es, die subjektive Perspektive aus Sicht der Akteure zu rekonstruieren, um Konstruktionsprinzipien der sozialen Welt zu entdecken und zeitgleich bewusst zu halten, dass dies unter wissenschaftlichen und damit „privilegierten Bedingungen der Distanz zum Alltagsgeschehen“ (99) geschehe.

Mit einer praxeologischen Klassenanalyse nach Bourdieu setzt sich Michael Vester auseinander. Dabei legt er die GrundzĂŒge einer solchen Analyse in Abgrenzung zu linearen Kausalmodellen und einem dogmatischen MarxverstĂ€ndnis dar, dem er eine „unorthodoxe, kritische Denktradition“ (134) entgegenhĂ€lt, die auf Marx‘ historische Analysen gesamtgesellschaftlicher VerĂ€nderungen zurĂŒckgeht. Mit der Frage nach den historischen VerĂ€nderungen von Klassengliederungen erweitert er Bourdieus Frage nach der Reproduktion sozialer Klassen zu einer Analyse von Reproduktion und Wandel von Klassengesellschaften. Die ausfĂŒhrliche Darstellung des komplexen Untersuchungsdesigns bietet einen Einblick in das Vorgehen der Forschergruppe und die Analysestrategien zur Exploration von Feld, Habitus und sozialem Raum. Im Ergebnis hĂ€lt Vester fest, dass sich KlassenwidersprĂŒche reproduzieren und durch neue Strukturdynamiken pluralisieren.

Andrea Lange-Vester zeigt am Beispiel der Analyse einer Familiengeschichte vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, wie historische Habitusforschung konkret umgesetzt werden kann. Sie greift damit u.a. die in der Literatur kontrovers diskutierte Frage auf, inwieweit Handlungsmuster ĂŒber Generationen hinweg fortgesetzt, verĂ€ndert oder gar aufgelöst werden. Durch die Explikation der einzelnen Schritte unter RĂŒckgriff auf Instrumente der Habitushermeneutik und des Ansatzes von Vester (s.o.) zur analytischen Trennung der Handlungsebenen, ermöglicht Lange-Vester Einblicke in die Beharrlichkeit und Transformation eines klassenspezifischen Familienhabitus.

Der Analyse feldspezifischer MachtverhĂ€ltnisse wenden sich Sandra BeaufaĂżs und Valerie Moser am Beispiel des Feldes der Bildenden Kunst in Berlin zu. Durch die systematische Betrachtung von u.a. qualitativen Interviews mit Akteuren, die unterschiedliche Positionen im Feld besetzen, gelingt es den Autorinnen die „sozialen Wurzeln“ (245) von im Feld bedeutsamen Konzepten wie „individuelle KreativitĂ€t‘ freizulegen. Die TrĂ€ger wichtiger Feldpositionen werden als Ergebnis und Konstrukteure feldspezifischer Praxis sichtbar. Im Ergebnis, so die Autorinnen, kann das Konzept der individuellen KreativitĂ€t als diffuse Waffe im Kampf um Verteilungsressourcen im Feld gelesen werden.

In einer wissenschaftlichen Selbstvergewisserung (256) und einer Reflexion zum VerhĂ€ltnis von Theorie und Empirie bei Bourdieu, blickt Barbara FriebertshĂ€user auf die eigenen Arbeiten zur Fachkultur- und Habitusforschung in den 1980er Jahren und die Forschungserfahrungen in diesem Kontext zurĂŒck. Die Möglichkeiten einer biographischen Analyse mit den Werkzeugen Bourdieus macht sie am Beispiel der Studie von Steffani Engler („In Einsamkeit und Freiheit“) zum individuellen Gewordensein von Professor/innen im jeweiligen Feld nachvollziehbar.

Anna SchlĂŒter erörtert im abschließenden Kapitel wie das Konzept der Biographie mit Bourdieu verstanden werden kann. Dabei konfrontiert sie Bourdieus Sichtweise auf Biographien als Produkte sozialer VerhĂ€ltnisse mit einem erziehungswissenschaftlich-biographischen Subjektkonzept und arbeitet so Spezifika heraus.

Insgesamt zeichnet sich der vorliegende Sammelband durch eine hohe KohĂ€renz der einzelnen BeitrĂ€ge sowie die konsequente SelbstreflexivitĂ€t der Autor/innen aus. Es wird deutlich, dass die Überlegungen zum empirischen Arbeiten mit Bourdieu das einlösen mĂŒssen, was sie fordern: eine erhöhte SensibilitĂ€t fĂŒr die Konstruktionen der Forschungsobjekte aus der Perspektive der empirisch Forschenden. Dies soll abschließend an zwei Aspekten verdeutlicht werden:

Zum einen nehmen alle BeitrĂ€ge explizit Ausgang in wissenschaftstheoretischen Überlegungen, aus denen heraus die bourdieuschen Konzepte als heuristische Denkwerkzeuge fĂŒr den jeweiligen Forschungskontext konzipiert werden, die sich an der Empirie bewĂ€hren mĂŒssen. Die komplexe VerknĂŒpfung theoretischer und methodischer Überlegungen kann als PlĂ€doyer gegen eine verkĂŒrzt verstandene Übernahme bourdieuscher Konzepte wie „Habitus“ oder „kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital“ ohne theoretische RĂŒckbindung gelesen werden, wie sie nicht selten in der aktuellen empirischen Bildungsforschung vorzufinden ist. Zum anderen zeigen insbesondere diejenigen BeitrĂ€ge, die Einblick in konkrete – z.T. langjĂ€hrige – Forschungsprozesse gewĂ€hren, eine fĂŒr wissenschaftliche Publikationen seltene Offenheit in Bezug auf theoretische und methodische Explorationen und Suchprozesse, die zwar in der schriftlichen Darstellung absolut folgelogisch erscheinen, sich jedoch hĂ€ufig erst im Nachhinein – wie Andrea Lange-Vester schreibt – in „analytisch getrennte Schritte und Ebenen der Forschungsarbeit“ ĂŒbersetzen (211).
Stefanie Bischoff (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stefanie Bischoff: Rezension von: Brake, Anna / Bremer, Helmut / Lange-Vester, Andrea (Hg.): Empirisch Arbeiten mit Bourdieu, Theoretische und methodische Überlegungen, Konzeptionen und Erfahrungen. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991587.html