EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)

Jakob Benecke (Hrsg.)
Die Hitler-Jugend 1933 bis 1945
Programmatik, Alltag, Erinnerungen. Eine Dokumentation
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2013
(418 S.; ISBN 978-3-7799-2651-1; 39,95 EUR)
Die Hitler-Jugend 1933 bis 1945 Quelleneditionen gehören zum Standard historischer Forschung. Angesichts der FĂŒlle der Forschung zum Nationalsozialismus mag man es kaum glauben, dass die nun von Jakob Benecke, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl fĂŒr PĂ€dagogik an der UniversitĂ€t Augsburg, vorgelegte Quellensammlung tatsĂ€chlich die erste umfassende Edition fĂŒr die gesamte mĂ€nnliche HJ ist. Wer sich bislang quellenorientiert mit der HJ beschĂ€ftigen wollte, war angewiesen auf die ausgezeichneten Quellensammlungen zum BDM, die Gisela Miller-Kipp 2001 und 2007 vorgelegt hat [1], auf die verstreut publizierten Quellen z.B. bei Arno Klönne (2003/2008) [2] oder musste die Quellen selbst recherchieren. Diese Arbeit hat Benecke jetzt in vorbildlicher Weise erledigt und das Ergebnis in einem Band gebĂŒndelt. Entstanden ist diese Quellensammlung wohl im Kontext seiner Dissertation zur Sozialisation wĂ€hrend der NS-Zeit. Herausgekommen ist eine Edition von 201 Quellen unterschiedlicher Provenienz und Gattung: 127 Dokumente, 24 Abbildungen, 23 Fotos, 9 Plakate und 18 autobiographische Berichte. Die Sammlung umfasst Dokumente zur Propaganda, Programmatik und zum Dienstalltag sowie Erfahrungsberichte ehemaliger HJ-Angehöriger. Neben wenigen bereits hinlĂ€nglich bekannten und unverzichtbaren Standardquellen zur HJ (z.B. das HJ-Gesetz samt DurchfĂŒhrungsverordnungen, verschiedene Schaubilder zur Struktur der HJ, ein Auszug aus Hitlers Reichenberger Rede oder auch Dokumente zum Umgang mit abweichendem Jugendverhalten, etwa der Swing-Kids) hat der Herausgeber den grĂ¶ĂŸten Teil der Quellen in Archiven neu erschlossen bzw. aus zeitgenössischen Publikationen herausgezogen und hier erstmalig abgedruckt. Das macht den besonderen Wert dieser Quellensammlung aus.

Die Quellendokumentation umfasst gut 300 Seiten. Sie wird durch eine rund 90-seitige systematische Einleitung, durch ein gegliedertes Verzeichnis sĂ€mtlicher abgedruckter Quellen (8 Seiten), durch Quellennachweise, einige ausgewĂ€hlte Kurzbiographien zu HJ-FĂŒhrern sowie ein Literaturverzeichnis sorgfĂ€ltig und gewissenhaft erschlossen.

Nicht mit dem naheliegenden und vollkommen hinreichenden Argument, dass Quelleneditionen unverzichtbar sind fĂŒr historische Forschung, begrĂŒndet Benecke seine Edition. Sein Hauptargument ist vielmehr ein didaktisches. Vor dem Hintergrund der schon lange andauernden Debatten in der politischen Bildung und in der SchulpĂ€dagogik zur Frage, wie intensiv und vor allem in welchem Lernarrangement die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erfolgen solle, um wirklich aufklĂ€rende Effekte und nicht bloß Halbwissen oder Ressentiments zu evozieren, gibt Benecke seiner Quellensammlung folgende (ĂŒberraschende) BegrĂŒndung: Diese Debatten und entsprechende Studien hĂ€tten deutlich gemacht, „dass ein schlichtes Mehr an Faktenvermittlung und moralischer Urteilsvorgabe allein nicht zielfĂŒhrend sind [
]. Es wird demnach stĂ€rker auf das Wie der Vermittlung ankommen. Als Beitrag hierzu versteht sich die vorliegende Sammlung, durch die Bereitstellung von authentischen Quellen, die gleichermaßen das politische Herrschaftsgebaren des Regimes als auch dessen subjektive Wahrnehmung durch Zeitzeugen dokumentieren“ (19). So sinnvoll und nachvollziehbar eine solche didaktische BegrĂŒndung auch ist, die Quellensammlung samt Einleitung gibt – jenseits der vorgenommenen Gliederung der Quellen – keine Antwort auf die Frage nach dem Wie der Vermittlung. Auch benennt der Herausgeber keine spezifische Zielgruppe der Dokumentation direkt. Dass in der Schule oder der außerschulischen politischen Bildung mit dieser Quellensammlung gearbeitet wird, dĂŒrfte eher die Ausnahme sein. In erster Linie ist es zweifellos ein Studienbuch fĂŒr die universitĂ€re Seminararbeit und eine Grundlage fĂŒr eine quellenorientierte BeschĂ€ftigung mit der HJ.

Mit der Einleitung in seinen Quellenband legt Benecke zugleich einen komprimierten und kenntnisreichen Überblick ĂŒber den gegenwĂ€rtigen Forschungsstand vor, der auch die Auswahl und PrĂ€sentation der Dokumente bestimmte (90). Der klar argumentierende Text ist fĂŒr Neulinge eine gute EinfĂŒhrung ins Thema und verdeutlicht zudem die systematischen Überlegungen, die hinter der Quellensammlung stehen. In den sieben Kapiteln der Einleitung verweist der Herausgeber jeweils auf die abgedruckten Quellen, die fĂŒr die dargestellten ZusammenhĂ€nge ausgewĂ€hlt wurden. So sinnvoll diese VerknĂŒpfung von Forschungskontext und Quellen in der Einleitung auch ist, verkompliziert diese Herangehensweise doch die Arbeit mit dem vorliegenden Quellenband. Denn die Quellen werden im Anschluss nahezu ohne einordnende Kommentare und lediglich mit den jeweiligen Quellennachweisen abgedruckt. FĂŒr thematisch informierte Nutzer sicher kein Problem, verlangt dies aber von denjenigen, die sich erst ins Thema einarbeiten wollen, einen permanenten RĂŒckgriff auf den Text der Einleitung. Zwar folgt die Anordnung der Quellen weitgehend der Gliederung der Einleitung, vor dem Hintergrund des primĂ€r didaktischen Impetus fĂŒr die Zusammenstellung dieser Quellendokumentation wĂ€re es aber ebenso naheliegend wie sinnvoll gewesen, die Quellen durch wenige Hinweise jeweils kurz zu kontextualisieren.

Es sind „drei Quellengattungen“ (19ff), die der Sammlung zugrunde liegen: SelbstĂ€ußerungen des Regimes (1), Stimmungsbilder aus der Bevölkerung (2) und autobiographische Texte (3). Die weitere Strukturierung der Quellenedition beschreibt und begrĂŒndet Benecke einleitend mit einer Unterscheidung von vier Jahrgangs-Kohorten der HJ und deren unterschiedlicher Erfahrungshorizonte (Kapitel 2) sowie einer Unterscheidung von drei Entwicklungsphasen der NS-Herrschaft und der HJ (Kapitel 3). In Anlehnung an das eingefĂŒhrte Phasenschema von Harald Scholtz unterscheidet Benecke die Phase der Formierung (1933/34), die Phase der Konsolidierung 1935-1938 und die Phase der Radikalisierung (1938-1945) (25). TatsĂ€chlich löst die Dokumentenanordnung nach dieser Phasenstruktur den Anspruch des Herausgebers ein, „die besondere Entwicklungsdynamik der NS-Herrschaft im Allgemeinen und bezogen auf deren Jugendorganisation deutlich werden zu lassen“ (26).

Einleitend folgt dann in Kapitel 4 eine Darstellung der Entwicklung und der TĂ€tigkeitsfelder der HJ ĂŒber diese Phasen hinweg (Die Kampfzeit der HJ 1922-1933; Die Durchsetzungsphase der HJ 1933-1936; Die Konsolidierungsphase der HJ 1936-1939; Die HJ im Krieg; Die Beteiligung der HJ an den Straftaten und Verbrechen des NS-Regimes). WĂ€hrend hier die weithin bekannten ZusammenhĂ€nge in enger Anlehnung an die Forschungsliteratur zusammengefasst werden, fĂŒhrt Benecke in Kapitel 5 eine weitere ausgesprochen konstruktive Differenzierung ein, indem er den Dualismus von Inklusion und Exklusion in Struktur und TĂ€tigkeitsfeldern der HJ unterscheidet und systemtheoretisch begrĂŒndet. Diese Differenzierung ist in der Tat sehr erkenntnisfördernd in der Auseinandersetzung mit der HJ, ermöglicht sie doch eine Interpretation der Dokumente nach diesen realitĂ€tsnahen Beziehungsmustern. Zu Recht verwendet der Herausgeber auf diesen Dualismus grĂ¶ĂŸte Sorgfalt und den grĂ¶ĂŸten Raum der erschließenden Einleitung. Der Dualismus von Inklusion und Exklusion, von ‚Schönem Schein‘ und Gewalt, ist ein konstituierendes Merkmal der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und erklĂ€rt AttraktivitĂ€t und Zustimmung ebenso wie Distanz und Widerstand. Insofern gelingt es durch diese analytische Unterscheidung bei der PrĂ€sentation der Quellen auch, „Grauzonen der Erfassung“ (Klappentext) durch die HJ zu dokumentieren. Dass damit natĂŒrlich auch abweichendes und widerstĂ€ndiges Jugendverhalten wĂ€hrend der NS-Zeit in den Blick gerĂ€t, liegt auf der Hand.

Konzis werden in Kapitel 6 die autobiographischen Texte als subjektive Wahrnehmung der HJ durch ihre Mitglieder in den Kategorien „AttraktivitĂ€t und distanzschaffende Erfahrung“ (82) systematisch eingeleitet. AusgewĂ€hlt und in die Sammlung aufgenommen wurden ausschließlich Erfahrungsberichte einfacher HJ-Mitglieder und keine Selbstdarstellungen hochrangiger HJ-FunktionĂ€re, um eine „Tendenz zur apologetischen Darstellung“ (91) zu vermeiden. Abschließend verortet der Herausgeber seine Dokumentation im Kontext anderer Quellensammlungen und gibt Hinweise auf weiterfĂŒhrende Literatur.

Die Quellen werden nach der schlĂŒssig und systematisch begrĂŒndeten Phaseneinteilung schließlich in vier Kapiteln abgedruckt und innerhalb dieser Gliederung weiter nach den Merkmalen Inklusion und Exklusion strukturiert und gebĂŒndelt. Das ist fĂŒr die Arbeit mit den Quellen ausgesprochen sinnvoll und erschließt die KomplexitĂ€t der historischen ZusammenhĂ€nge gut.

Aufschlussreich fĂŒr den Alltag zwischen attraktiven Angeboten und Kriegserziehung ist z.B. eine Unfallstatistik ĂŒber TodesfĂ€lle in der HJ. FĂŒr die Jahre 1933 bis 1939 hĂ€lt Baldur von Schirach insgesamt 649 TodesfĂ€lle fest, darunter 139 durch Ertrinken, 43 durch Sportunfall, 14 durch GelĂ€ndespiele und 27 durch Schusswaffengebrauch (211). Die ‚Erziehung zum Tode‘ in nĂŒchternen Zahlen ausgedrĂŒckt. Interessant in Bezug auf Inklusion und Exklusion sind auch Dokumente zur Bildung von HJ-Sondereinheiten fĂŒr Körperbehinderte, GehörgeschĂ€digte und Blinde (186) sowie auch die abgedruckten Berichte des Sicherheitsdienstes der SS (SD) und der Exil-SPD (SOPADE).

Was man bislang mĂŒhsam zusammentragen musste, ist hier nun in einem Band gebĂŒndelt. So umfassend Beneckes verdienstvolle Dokumentation auch ist, manche Bereiche der HJ-Arbeit deckt auch sie nicht ab. WĂŒnschenswert wĂ€ren z.B. auch Quellen zur Auslandsarbeit der HJ gewesen, ĂŒber die wir bislang fĂŒr die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nur rudimentĂ€r informiert sind. Welche Dimensionen der Faschisierung Europas mit dieser Auslandsarbeit verbunden waren, ließe sich z.B. zeigen an den Kontakten nach Spanien oder Italien oder auch den Initiativen fĂŒr einen EuropĂ€ischen Jugendverband. Unter der Perspektive der Ziele, Formen, Methoden und Effekte nationalsozialistischer Formationserziehung in der HJ wĂ€re zudem auch eine breitere Dokumentation der symbolischen und emotionalisierenden Inszenierungen in der HJ wĂŒnschenswert gewesen. Zwar setzt sich Benecke mit diesen ZusammenhĂ€ngen systematisch auseinander (72ff) und verweist auf „erhebliche ForschungslĂŒcken“ (74) in Bezug auf die Wirkungsforschung. Quellen, mit denen sich diese ForschungslĂŒcke perspektivisch schließe ließe, hat er indes nicht systematisch zusammengestellt. Am ehesten noch finden sich in den autobiographischen Texten solche ZusammenhĂ€nge. Um aber die Wege, Mittel und Effekte von Indoktrination jenseits der bekannten und oft platten Schulungsmaterialien der HJ (320f) besser verstehen und analysieren zu können, wĂ€re eine Zusammenstellung von Quellen zu diesem Themenfeld, das nicht nur fĂŒr die nationalsozialistische Diktatur zentral ist, wĂŒnschenswert gewesen.

Abschließend kann man vor dem Hintergrund der vorliegenden Quellen auch fragen, ob das Geschlecht tatsĂ€chlich eine sinnvolle Kategorie ist, um ein Alleinstellungsmerkmal der Quellensammlung zu konstruieren. Abgesehen von den spezifischen VorwĂŒrfen von HomosexualitĂ€t, in der HJ wie insgesamt im NS ein verbreitetes juristisches Mittel zur Disziplinierung (360ff), und abgesehen von Quellen zur Waffenausbildung oder zu HJ-Sondereinheiten wie Motor-HJ oder Flieger-HJ treffen die meisten Quellen auch auf den BDM zu. Fotographien von Fahnenappellen oder WehrsportĂŒbungen in HJ-Lagern (116f) sind z.B. auch fĂŒr den BDM in nahezu identischer AusprĂ€gung ĂŒberliefert. Vielleicht ist die Betonung des Bezugs auf die mĂ€nnliche HJ aber auch eher ein verlagsstrategisches Marketinginstrument, um die Quellensammlung auf dem Markt zu platzieren.

Fazit: Die vorliegende Quellendokumentation ist in der Tat eine „exemplarische Dokumentation“ (21), die die Differenz zwischen Intention und Wirkung, zwischen Normierung und RealitĂ€t gut fassbar macht und die ebenso kenntnisreich wie konzentriert eingeleitet wird. Angesichts der meist bescheidenen Absatzchancen fĂŒr solche Quelleneditionen kann man dem Beltz-Juventa-Verlag nur gratulieren fĂŒr den Mut, diese Dokumentation publiziert zu haben. Überlegenswert wĂ€re sicher auch eine digitale Ausgabe, die sich perspektivisch recht einfach erweitern und ergĂ€nzen ließe.

Insgesamt hĂ€lt der Band, was der Klappentext verspricht: Er dokumentiert „Anspruch, RealitĂ€t und subjektive Wahrnehmung des Dienstes in der HJ“, „Erfassungsdruck“ und Ausgrenzungstendenzen und bildet in der Tat ein „reprĂ€sentatives Bild der Jugendorganisation“ in „Anbindung an den aktuellen Stand der HJ-Forschung“ ab. Zusammen mit den Quellensammlungen zum BDM liegt nun ein großer Quellenfundus vor, der zur quellenorientierten BeschĂ€ftigung mit dem Thema herausfordert.

[1] Miller-Kipp, G.: „Auch Du gehörst dem FĂŒhrer“. Die Geschichte des Bundes Deutscher MĂ€del (BDM) in Quellen und Dokumenten. Weinheim, MĂŒnchen: Juventa 2001. – Dies.: „Der FĂŒhrer braucht mich“. Der Bund Deutscher MĂ€del (BDM): Lebenserinnerungen und Erinnerungsdiskurs. Weinheim, MĂŒnchen: Juventa 2007.
[2] Klönne, A.: Jugend im Dritten Reich. Die Hitlerjugend und ihre Gegner. 3., aktual. Aufl. Köln: PapyRossa 2008.
Jörg-W. Link (Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg-W. Link: Rezension von: Benecke, Jakob (Hg.): Die Hitler-Jugend 1933 bis 1945, Programmatik, Alltag, Erinnerungen. Eine Dokumentation. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377992651.html