EWR 14 (2015), Nr. 6 (November/Dezember)

Ursula Stenger / Doris Edelmann / Anke König (Hrsg.)
Erziehungswissenschaftliche Perspektiven in frühpädagogischer Theoriebildung und Forschung
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2015
(286 S.; ISBN 978-3-7799-3251-2; 26,95 EUR)
Erziehungswissenschaftliche Perspektiven in frühpädagogischer Theoriebildung und Forschung Rasante politische und praxisbezogene Entwicklungen im Feld der Frühpädagogik fordern die erziehungswissenschaftliche Pädagogik der frühen Kindheit heraus, sich ihrer Selbst und der eigenen Theoriebestände und Forschungszugänge zu vergewissern, neue Perspektiven auszubilden und damit zur Entwicklung der Disziplin beizutragen. Dabei geht es auch darum, dezidiert erziehungswissenschaftliche Perspektiven in einem Feld zu verorten bzw. zu verankern, welches sich durch eine hohe Interdisziplinarität und Paradigmenvielfalt auszeichnet. Der von Ursula Stenger, Doris Edelmann und Anke König herausgegebene Sammelband „Erziehungswissenschaftliche Perspektiven in frühpädagogischer Theoriebildung und Forschung“ nimmt vor dem Hintergrund dieser disziplintheoretischen und -politischen Ansprüche seinen Ausgang und ist so konzipiert, dass theoretische und empirische Auseinandersetzungen entlang der Kernbegriffe „Bildung“, „Erziehung“ und „Lernen“ vorangetrieben werden. Dabei entfalten die insgesamt zwölf Beiträge eine reichhaltige Varianz an Forschungszugängen, Theoriebezügen, sensibilisierenden Konzepten und Methodologien.

Claus Stieve bietet eine bildungstheoretische Grundlegung der Frühpädagogik an, innerhalb der er dafür plädiert, vorrangig die Brüche zu analysieren, die mit dem Bildungsbegriff einhergehen, um daraus Erkenntnisse für das Handlungsfeld und den Gegenstand der Pädagogik der frühen Kindheit zu gewinnen. Anders zeigt Ursula Stenger aus einer phänomenologischen Perspektive auf, wie „Erziehung“ als ein Vollzugsgeschehen zu verstehen ist, welches sich – vielfach relationiert – unter anderem in einem Wechselspiel zwischen den Generationen sowie in der Verflechtung von gesellschaftlichen und institutionellen Kontextualisierungen vollzieht und mit differenten Bildsamkeitserfahrungen einhergeht. Eine weitere Perspektive bringt Cornelie Dietrich mit ein, indem sie die Vergegenständlichungen, die mit dem Prozess des Lernens einhergehen, dekonstruiert und damit eine Skepsis gegenüber einer homogenisierenden Verdinglichung von Welt zu pädagogischen Zwecken vorträgt. Marc Schulz geht der Frage nach, wie das Konzept des „Informellen Lernens“ angesichts dessen, dass informelles Lernen in bildungspolitischen Dokumenten als zentraler Lernmodus der frühen Kindheit hervorgehoben wird, für eine praxeologische Forschung in der Frühpädagogik nutzbar gemacht werden kann. Vor dem Hintergrund eines Forschungsprojektes zu kulturellen Erziehungsmilieus in Familien stellen Hans-Rüdiger Müller und Dominik Krinninger vor, wie anhand eines figurationstheoretischen Zugangs Interdependenzen zwischen Akteuren, Akteurskonstellationen und deren gesellschaftlichem Umfeld sichtbar gemacht und in erziehungs- und bildungstheoretische Perspektiven eingebettet werden können.

Abgerundet und komplettiert wird der Band durch das Aufgreifen weiterer Themenkomplexe, mit denen sich die Frühpädagogik derzeit konfrontiert sieht. Hierdurch gelingt es, an weitere aktuelle erziehungswissenschaftliche Diskurse anzuschließen. So bietet Ulrich Wehner eine Systematisierung unterschiedlicher Raumkonzepte an, um raumpädagogische Überlegungen für die Frühpädagogik sowie vice versa frühpädagogische Überlegungen für die Raumpädagogik fruchtbar zu machen. Petra Jung beschreibt Praktiken der Grenzziehung als Konstitutionsmomente des frühpädagogischen Feldes, indem durch diese unter anderem pädagogische und generationale Ordnungen strukturiert werden und ein funktionaler, politisch-gesellschaftlicher Auftrag an die Frühpädagogik formuliert wird. Nina Hogrebe erläutert die Bedeutung einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive für die Finanzierung von Kindertageseinrichtungen, wobei die Erziehungswissenschaft in der Verantwortung gesehen wird, wissenschaftlich fundierte frühpädagogische Expertisen in eine finanzpolitische Handlungslogik zu überführen. Ausgehend von den Ergebnissen einer empirischen Studie zeigen Iris Nentwig-Gesemann und Katharina Nicolai an Arbeiten zur pädagogischen Beziehung anschließend, wie sich die Beziehungs- und Interaktionsqualität zwischen Kindern und Fachkräften anhand von dokumentarischen Videointerpretationen rekonstruieren lässt und in ihrer Eigendynamik und Eigensinnigkeit verstehbar gemacht werden kann. Ebenfalls anhand von Studienergebnissen beleuchtet Tanja Betz, wie externe Erwartungen das Selbstverständnis von frühpädagogischen Fachkräften anleiten und knüpft damit an professionstheoretische Perspektiven an. Unter Zuhilfenahme der grounded theory methodology hat Katharina Gerarts ein Kategorieschema aus empirischen Forschungsdaten entwickelt, welches die Machtverhältnisse, die in die generationale Ordnung eingeschrieben sind, aus der Perspektive der Kinder in den Blick nimmt, wodurch sich unter anderem Anknüpfungspunkte zur neueren Kindheitsforschung ergeben. Juliane Engel schließlich untersucht die Kooperation von Erzieher_innen und Lehrer_innen beim Übergang vom Elementar- in den Primarschulbereich und arbeitet heraus, dass sich die Fachkräfte selbst in einem Übergangsprozess befinden, welcher durch die Brüchigkeit ihrer Erfahrungen gekennzeichnet ist.

Die Vielfalt an Themen, die in den einzelnen Beiträgen diskutiert und bearbeitet werden, deutet die hohe Relevanz erziehungswissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung für die Frühpädagogik an. Als gewinnbringend stellt sich dabei besonders die hohe Varianz an elaborierten Forschungszugängen, Methodologien und Theorieangeboten heraus, welche in den Beiträgen zum Einsatz gebracht werden. Wenig nachvollziehbar erscheint hingegen die Gliederung der Beiträge in einen theoretischen und einen empirischen Schwerpunktteil, da sich – wie die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung selbst bekunden – empirische und theoretische Perspektiven innerhalb der einzelnen Beiträge vielfach miteinander verschränken. So bieten die sieben Beiträge, die unter dem Schwerpunkt „Theoretische Zugänge“ versammelt sind, theoretische Verortungen der Kernbegriffe „Bildung“, „Erziehung“ und „Lernen“ sowie Systematisierungen für weitere disziplinrelevante Topoi an, wobei sie jedoch oftmals empirische Forschungsergebnisse miteinbeziehen. Ähnlich rekurrieren die fünf Beiträge, die im zweiten Schwerpunktteil „Empirische Zugänge“, von empirischen Forschungserfahrungen ausgehend, Perspektiven für Forschungszugänge in der Frühpädagogik bereitstellen auf unterschiedliche Theorien und Konzepte. In der Gliederung spiegelt sich damit eine überwunden geglaubte Dualität von Theorie und Empirie wider, die so nicht recht zu den fortschrittlichen Wissenschaftsverständnissen zu passen scheint, die in der Einleitung und in den einzelnen Beiträgen sichtbar werden. Hier stellt sich die Frage, ob z.B. eine Gliederung entlang der drei Kernbegriffe zuzüglich weiterer Themen unter Umständen eine konsistente Zuordnung der Beiträge ermöglicht hätte.

Dem Anspruch, eine disziplintheoretische wie -politische Selbstvergewisserung des derzeitigen Status Quo vorzulegen und dabei gleichzeitig neue Perspektiven für die Weiterentwicklung der Disziplin aufzuzeigen, wird der Sammelband in hohem Maße gerecht. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass in den einzelnen Beiträgen – teils explizit, teils implizit – immer wieder bedeutsame disziplintheoretische und auch politische Positionierungen und Perspektivierungen erörtert werden. Aus der Lektüre des Bandes lassen sich auf diese Weise konkrete „Funktionsbeschreibungen“ und „Aufgaben“ herleiten, die wiederum zu gewinnbringenden Diskussionen, im Sinne eines „sich dazu Verhaltens“, innerhalb wie außerhalb der Disziplin einladen. Oder anders ausgedrückt: auf die Frage, ob und wozu das System frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung ausgerechnet eine erziehungswissenschaftliche Perspektive benötigt, liefert der Sammelband wissenschaftlich elaborierte und zukunftsweisende Antworten.
Dominik Farrenberg (Vechta)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dominik Farrenberg: Rezension von: Stenger, Ursula / Edelmann, Doris / König, Anke (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Perspektiven in frühpädagogischer Theoriebildung und Forschung. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377993251.html