EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)

Christiane Thompson / Jörg Zirfas / Wolfgang Meseth / Thorsten Fuchs (Hrsg.)
Erziehungswirklichkeiten in Zeiten von Angst und Verunsicherung
Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2021
(286 S.; ISBN 978-3-7799-6193-2; 34,95 EUR)
Erziehungswirklichkeiten in Zeiten von Angst und Verunsicherung Als die Vertreter:innen der Sektion der „Allgemeinen Erziehungswissenschaft“ dazu aufrufen, sich im MĂ€rz 2019 an der UniversitĂ€t zu Köln zu versammeln, um das Thema „Erziehungswirklichkeiten in Zeiten von Angst und Verunsicherung“ gemeinsam zu bearbeiten, ahnt noch niemand, wie virulent jene zwei Schlagworte zur Veröffentlichung des hier zu besprechenden Titels werden wĂŒrden. Diese Beobachtung teilen auch die Herausgeber:innen des gleichnamigen Tagungsbands. Sie halten in ihrem Vorwort, datiert mit „April 2020“, also nur wenige Wochen nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie, fest: „Dass Angst und Verunsicherung wichtige Themen fĂŒr Erziehungswissenschaft und PĂ€dagogik darstellen, ist wohl kaum so deutlich wie in der aktuellen Situation.“ (7) Die Themenwahl scheint daher aus heutiger Perspektive kaum ĂŒberraschend, umso bemerkenswerter ist es, dass die Mitglieder der Sektion auch schon Jahre vor dem globalen Ausbruch der Viruserkrankung – im Mai 2017 wurden die ersten Schritte zur Tagungsvorbereitung gesetzt – die Dringlichkeit erkannten, „‚Angst‘ und ‚Verunsicherung‘ erziehungswissenschaftlich zu erschließen.“ (8, Herv. i. O.)

In dem knappen Einstieg explizieren Christiane Thompson, Jörg Zirfas, Wolfgang Meseth und Thorsten Fuchs, je Vertreter:innen der beteiligten vier Kommissionen der Sektion (Bildungs- und Erziehungsphilosophie, PĂ€dagogische Anthropologie, Wissenschaftsforschung, Qualitative Bildungs- und Biografieforschung), das Anliegen der Herausgeber:innenschaft: Systematische und grundlagentheoretische Überlegungen zu „Angst“ und „Verunsicherung“ sollen fĂŒr die Erziehungswissenschaft fruchtbar gemacht sowie die Formierung pĂ€dagogischer Wirklichkeiten im Licht aktueller gesellschaftlicher Transformationen diskutiert werden. Dass es zu dem Themenfeld Angst „keine eigene Forschungstradition in der Erziehungswissenschaft gebe“ (7), lassen die Autor:innen nicht als Gegenargument fĂŒr ein derartiges Unterfangen gelten, sondern nehmen den möglichen Einwand als Anlass fĂŒr ihr Vorhaben, das einen „gehaltvolle[n] Ausgangspunkt fĂŒr weitere erziehungswissenschaftliche Analysen und BeitrĂ€ge“ (9) darstellen soll.

Um sich diesem Ziel anzunĂ€hern, werden in dem Band die VortrĂ€ge der Sektionstagung „nahezu vollstĂ€ndig versammelt“ (8): 15 BeitrĂ€ge, segmentiert in drei ĂŒbergeordnete Kapitel („Erziehungswissenschaftliche und pĂ€dagogische Dimensionen von Angst und Verunsicherung“, „Formierungen der Erziehungswirklichkeit durch Angst und Verunsicherung“, „Gesellschaftliche Transformationen im Kontext von Globalisierung, Migration und Populismus“), nĂ€hern sich auf facettenreiche Weise der umrissenen Problemstellung. Dabei variieren die AufsĂ€tze hinsichtlich ihrer theoretischen BezĂŒge und empirischen Vorgehensweisen. Arbeiten am Begriff stehen hier nicht sĂ€uberlich getrennt von sozialwissenschaftlichen Studien, sondern werden durch den Aufbau des Bands auf produktive Weise zueinander in VerhĂ€ltnis gesetzt: Unter RĂŒckgriff auf Lacan wird die Bedeutung von Angst und Verunsicherung fĂŒr Bildungs- und IdentitĂ€tsbildungsprozesse diskutiert (Mayer & Wittig, Wulftange), anthropologische Arbeiten mit Blick auf pĂ€dagogische PhĂ€nomene (professionelles Wissen und Handeln bei Dederich & Zirfas, prĂ€ventive Gesundheitsmaßnahmen bei Schmidt, Zeitregime in der frĂŒhen Kindheit bei Bilgi & Stenger) stehen neben der psychoanalytisch-pĂ€dagogischen Re-LektĂŒre Platons (Boger). Auf die Untersuchung der literarischen Figur „Schulangst“ (KrĂŒger) folgen die Analysen von Affektökonomien (Sorgo) und rechtspopulistischer Vereinnahmung erziehungswissenschaftlichen Wissens (Haker & Otterspeer) in zeitdiagnostischer Absicht. Die politische Dimension von Angst und Unsicherheit wird auch in den BeitrĂ€gen zu Wissensvermittlung in einer globalisierten, (post-)migrantischen Gesellschaft (Engel) sowie zu (narrativen) Strategien der extremen Rechten (Burghardt) und der RadikalisierungsprĂ€vention (Milbradt & Pausch) fokussiert. Der Band endet mit zwei AufsĂ€tzen, die sich auf je spezifische Weise der Bedeutung von Angst und Verunsicherung im Kontext von Flucht(-erfahrungen) widmen (Wischmann, Abedi Farizani).

WĂ€hrend im bereits skizzierten Vorwort der erziehungswissenschaftliche Diskurs ĂŒber Angst eingeordnet wird, bleiben die DebattenstrĂ€nge zu „Verunsicherung“ eingangs unerwĂ€hnt. Was versprechen sich die Herausgeber:innen von der Doppelung? Welchen Erkenntnisgewinn erhoffen sie sich? Diesen und weiteren grundlegenden Fragen nehmen sich Thompson und Zirfas in ihrem den Sammelband einleitenden Eröffnungsbeitrag an, indem sie auch die anfĂ€ngliche Leerstelle hinsichtlich der Verunsicherung aufschlussreich bearbeiten. In dem theoretisch sehr dichten, an vielseitigen BezĂŒgen reichen Beitrag konkretisieren die Autor:innen ihr Anliegen, plausibilisieren den Aufbau des Bands und begeben sich auf eine begriffstheoretische Spurensuche mit Zwischenhalten bei Nietzsche, Deleuze, Freud, Heidegger, Kierkegaard, Foucault, Adorno und Nussbaum. Deutlich wird dabei die „anthropologische Fundierung und Problematisierung“ (11) von sowohl „Angst“ als auch „Verunsicherung“, sowie ihre „historischen, politischen und sozialen Rahmungen“ (ebd.), welche mithin das Erkenntnisinteresse der Autor:innen konturieren.

Insbesondere vor dem Hintergrund modernisierungstheoretischer Perspektiven sehe sich die Erziehungswissenschaft mit Fragen nach „der Bedeutung von Kontingenz und Unsicherheit fĂŒr pĂ€dagogische Ziele, Legitimationen, Prozesse und pĂ€dagogisches Handeln“ (15) konfrontiert. Welche erziehungswissenschaftlichen und praktisch-pĂ€dagogischen Konsequenzen davon zu erwarten sind, „dass sich gegenwĂ€rtig zwar die Unsicherheiten potenzieren, doch auch die Gewissheiten, dass man [
] spezifische ZukĂŒnfte vermeiden will“ (24), wird in den folgenden Artikeln sachkundig diskutiert. Das Tableau an BeitrĂ€gen ist dabei durchzogen von zentralen Begriffen, die bisweilen zu Fluchtpunkten der Debatte werden: Risiko, Optimierung, Sorge und VulnerabilitĂ€t. Die VerhĂ€ltnisse jener Themen zu Angst und Verunsicherung systematisch auszuloten, könnte Gegenstand aufbauender Arbeiten sein.

Dem Band gelingt, woran andere erziehungswissenschaftliche Projekte gelegentlich scheitern: Politik wird hier nicht als etwas den Erziehungswirklichkeiten Äußerliches verstanden, sondern als unweigerlich mit Fragen von Bildung, Erziehung und PĂ€dagogik verstrickt. Insbesondere die BeitrĂ€ge, die unter den Schlagworten „Globalisierung, Migration und Populismus“ (Kapitel III) verhandelt werden, bewĂ€ltigen diese Herausforderung auf beachtliche Weise, aber auch andere BeitrĂ€ge schlagen diese BrĂŒcke in instruktiver Manier.

Mit Blick auf den Forschungsstand zu „Angst“ und „Verunsicherung“ scheint es mir zukĂŒnftig gewinnbringend, vermehrt Anschluss auch an jene Debatten zu suchen, die sich unter dem Etikett des „emotional turn“ versammeln lassen. Insbesondere praxistheoretische Konzeptionen von GefĂŒhlen könnten dazu beitragen, der affektiven Verfasstheit jener PhĂ€nomene verstĂ€rkt Rechnung zu tragen. Kulturwissenschaftliche EinwĂŒrfe, wie Monique Scheers Interpretation von Bourdieus Perspektiven [1] oder auch Sara Ahmeds feministische BeitrĂ€ge [2] bieten hierfĂŒr wichtige Anregungen. Letztere hat spĂ€testens mit ihrem Keynote-Beitrag am 28. DGfE-Kongress in Bremen im Jahr 2022 die BĂŒhne der Disziplin betreten und animiert dazu, das begriffliche Instrumentarium des Themenfelds weiter auszubuchstabieren.

Seit dem Erscheinen des Tagungsbands vor ĂŒber zwei Jahren sind zudem einige erziehungswissenschaftliche Forschungen, Kongresse und Themenhefte [3] erarbeitet worden, die sich dezidiert im Forschungsbereich zu Emotionen, GefĂŒhlen und Affekten verorten. Man kann gespannt sein, welche Dialoge sich hier in Zukunft ergeben und wie sie die hochdynamische Debatte um „Angst“ und „Verunsicherung“ weitertreiben werden.

[1] Scheer, M. (2019). Emotion als kulturelle Praxis. In: Kappelhof, H., Bakels, J.-H., Lehmann, H. & Schmitt, C. (Hrsg.). Emotionen: Ein interdisziplinĂ€res Handbuch (S. 352–362). Stuttgart: Metzler.
[2] Ahmed, S. (2004). The Cultural Politics of Emotion. New York: Routledge.
[3] z.B. LĂŒtgens, J., Petrik, F. & Brehm, A. (Hrsg.) (2024). 'Once more, with feeling' – (Anti-)emanzipatorisches Transformationspotential von GefĂŒhlen. Themenheft. GISo 1/2024.
Flora Petrik (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Flora Petrik: Rezension von: Thompson, Christiane / Zirfas, Jörg / Meseth, Wolfgang / Fuchs, Thorsten (Hg.): Erziehungswirklichkeiten in Zeiten von Angst und Verunsicherung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2021. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996193.html