EWR 22 (2023), Nr. 4 (Oktober)

Sandra Koch
Der Kindergarten als Bildungsort
Subjekt- und Machtanalytische Einsätze zur Pädagogik der frühen Kindheit
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2022
(215 S.; ISBN 978-3-7799-6288-5; 26,00 EUR)
Der Kindergarten als Bildungsort Die Diskussion um Bildung und Bildungsgerechtigkeit bricht seit der ersten PISA-Erhebung nicht ab [1]. Bildung wird im Kontext der frühen Kindheit seitdem als Garant für Bildungsgerechtigkeit aufgegriffen, auch aktuelle Bildungsstudien formulieren in diesem Sinne Forderungen nach mehr frühkindlicher Bildung.

Der Ausgangspunkt der rezensierten Dissertationsstudie von Sandra Koch ist die Problematisierung dessen, was durch die Bezüge auf Bildung im Feld der Frühpädagogik unhinterfragt verhandelt wird (10). Spannend ist der Zugang der Studie, weil sich das Erkenntnisinteresse ausdrücklich nicht auf die Wirkweisen oder Gelingensbedingungen von Bildung im frühpädagogischen Bereich richtet, sondern auf die Weise, wie Bildung im Kontext der Frühpädagogik relevant gemacht wird und unter welchen Bedingungen dies passiert. Und weiter, wie Bildung an den Ort der Kindertageseinrichtung gebunden wird und, wie die Kindertagesbetreuung dadurch eine gesellschaftliche Funktion erhält (17). Dabei wird macht- und subjektivierungsanalytisch an Perspektivierungen der Professionalisierungs- sowie der Kindheitsforschung angeschlossen, wobei die Studie an der Schnittstelle zwischen Allgemeiner Erziehungswissenschaft und Pädagogik der frühen Kindheit verortet wird (18).

Die poststrukturalistisch ausgerichtete erziehungswissenschaftliche Diskursanalyse nimmt sich im ersten Teil des Buches mit dem Fokus auf Bildung einem „erziehungswissenschaftliche[n] Grundbegriff mit langer Tradition“ (48) an und untersucht, wie sich die Institutionalisierung von Bildung im Kontext der Frühpädagogik seit den 2000er Jahren vollzieht. Die vielschichtigen Debatten im Feld der Pädagogik der frühen Kindheit aufgreifend, weist sich Sandra Koch in der Einleitung bereits durch die kenntnisreiche und eingängige Kontextualisierung als ausgesprochene Expertin im Gegenstandsbereich ihrer Studie aus (Kap. 1).

Koch erklärt, keine klassisch aufgebaute Studie vorzulegen, sondern Theorie und Empirie stets jeweils in den Kapiteln zu verzahnen und damit der diskursanalytischen Perspektivierung auch in der Darstellungsweise der Untersuchung zu folgen (18). Diese Verzahnung drückt sich bereits in der Grundlegung des theoretisch-methodischen Ansatzes der Studie aus: zunächst werden die diskurstheoretischen Figuren und das analytische Vorgehen dargelegt (Kap. 2.1), dann die erkenntnistheoretischen Positionen gegenstandsbezogen diskutiert und dabei sowohl die Verortung von Bildung in der KiTa (Kap. 2.2) als auch kategoriale Bestimmungen von Bildung (Kap. 2.3) empirisch erkundet.

Die wechselseitige, kulturwissenschaftlich sensibilisierte Verzahnung von Empirie und Theorie wird in den jeweiligen Kapiteln nachvollziehbar dargelegt und in der empirischen Arbeit konsequent umgesetzt. In Kapitel 3 und 4 werden Auswertungen von Artikeln frühpädagogischer Fachzeitschriften, von Bildungs- und Erziehungsplänen, von Protokollen ethnografischer Beobachtungen im Kontext frühpädagogischer Fortbildungen und von Interviews mit Fortbildner*innen im frühpädagogischen Bereich sowie Analysen von weiterem Material (Tagungsankündigungen, Flyer, Konzeptpapiere, Material von Wohlfahrtsverbänden usw., vgl. S. 36) vorgenommen und mit theoretischen Positionen sowie empirischen Befunden in den Austausch gebracht. Aufschlussreich rekonstruiert werden damit Bedeutungsstrukturen, die an der Oberfläche nicht ohne weiteres sichtbar werden.

Auf diese Weise gelingt es, Bildung als Anforderung und Praxis eines veränderten Aufgabenprofils frühpädagogischer Professionalität in den Blick zu bekommen. Es wird deutlich, wie ein Bildungsnarrativ betreuerische und erzieherische Verantwortungsbereiche der Frühpädagogik, wie Ernährung, Pflege oder Beobachtung und Dokumentation, normativ und wirksam durchzieht und dabei aber stets brüchig und heterogen bleibt. Bildungsereignisse können, so zeigt die Studie von Koch, individualisierenden und entkontextualisierenden Logiken der gesellschaftlichen Verwertbarkeit folgen, bspw. wenn das Essen als Praxis der Lebensführung in der Kindertagesbetreuung mit „der Förderung eines ‚gesunden‘ Lebens verbunden“ (85) und dabei die Gestaltung von Erfahrungs- und Bewusstwerdungsprozessen auf eine diffuse wie allumfassende Weise zur frühpädagogischen Aufgabe wird (Kap. 3). Koch pointiert: „[…] eine Aufwertung und Professionalisierung frühpädagogischer Arbeit vollzieht sich im frühpädagogischen Diskurs dadurch, dass pädagogische Fachkräfte dahingehend autorisiert werden, kindliches Tun und deren Erfahrungsräume als Bildungsräume zu signifizieren und zu indizieren.“ (173)

Im nachfolgenden Kapitel wird historisch nachgezeichnet, wie sich das Entwicklungsparadigma der Kindheit durch die Veränderung der Beobachtungstechnologien, hin zur Bildungskindheit verschiebt. Dabei erscheint das professionelle Beobachten und Verstehen kindlichen Tuns im Lichte einer Förderung von Bildungsverhalten (Kap. 4.1) und vollzieht sich in einem entsprechend gewandelten Verhältnis zwischen Kind und Fachkraft sowie in einem veränderten Normierungs- und Machtgefüge (Kap 4.2). Bildungskindheit legitimiere sich zwar durch die individuelle Beobachtung einzelner Kinder, werde im frühpädagogischen Beobachtungsregime aber erst – wie Koch mithilfe theoretischer Konzepte der Akteur-Netzwerk-Theorie herausarbeitet – im Kontext verallgemeinerter, wirkmächtiger frühpädagogischer Kategorien gültig (Kap. 4.3). Das Zusammenspiel von Bildungskindheit und Beobachtungswissen erscheint als machtvolle Hervorbringung pädagogischer Praxis, in der sich Normierung und Normalisierung vollziehen und in die Kinder wie Fachkräfte gleichermaßen eingespannt sind. In einem weiteren Schritt wird die Frage generationaler Differenz und der grundsätzlichen Differenz von Anliegen und Möglichkeit des Zugangs zum Kind als „doppelte Fremdheit“ gefasst (Kap. 4.4). Die (Un)Zugänglichkeit des kindlichen Anderen stellt dabei Objektivationen infrage und ermöglicht wiederum, so Koch, potenziell einen „produktive[n] pädagogische[n] Raum der Beziehungsgestaltung“ (175).

An Kochs Studie zeigt sich das Potenzial erziehungswissenschaftlicher Diskursanalysen, die das zur Frage stehende Phänomen gerade nicht durch eine vorab festgelegte Erhebungsmethode untersuchen, sondern das der Analyse zugrundeliegende Material stets der Praxis des Diskurses entnehmen und somit Methoden und Design fortwährend hinsichtlich des Erkenntnisinteresses anpassen (29 ff.). In der Studie werden vorliegende Dokumente (Artikel in Fachzeitschriften und Bildungs- und Erziehungspläne) sowie Sprach- und Handlungsvollzüge (Interviews und Beobachtungen) als diskursive und soziale Praktiken gefasst (20). Außerordentlich erkenntnisreich gelingt es im Rahmen der Forschungsarbeit auf diese Weise einen komplexen Gegenstandsbereich an der Schnittstelle allgemein-erziehungswissenschaftlicher und frühpädagogischer Fragen zu explorieren.

Zusammenfassend betrachtet zeigt die Studie, wie es im Sprechen über Bildung in frühpädagogischen Verhältnissen möglich wird, Dimensionen von Macht und Hierarchie oberflächlich weitgehend auszublenden, während die individuelle Lebensführung zum handlungsbestimmenden Zielpunkt frühpädagogischer Praxis wird und ebendiese machtvoll durchzieht. Die Fachkräfte werden dadurch mit einem zugleich umfassenden wie diffusen Anforderungsprofil konfrontiert und die Kinder selbst zunehmend in die Verantwortung für das Gelingen frühpädagogischer Bildungspraxis gesetzt. Im Horizont von Bildungsgelegenheiten gewinnen, so kritisiert Koch, gerade die an die Autonomie der Kinder appellierenden normativen Konzepte der Selbsttätigkeit, Selbstbildung und Akteurschaft als durchmachtete Diskursstrategien an Bedeutung (185).

Kinder und Fachkräfte seien gleichermaßen „eingespannt“ in die diskursive Praxis der Frühpädagogik, so ein Befund Kochs (173). Wie bspw. Selbstregulierung von Kindern praktisch vollzogen wird, bleibt in der Analyse jedoch unberücksichtigt, liegt aber auch nicht direkt im Erkenntnisinteresse Kochs. Aus Perspektive der Kindheitsforschung zeigt sich hier dennoch ein blinder Fleck − gerade, wenn es darum geht, widerständige Pfade der Bearbeitung machtdurchzogener Verhältnisse im Bereich der Frühpädagogik oder grundlagentheoretische Positionen zu erarbeiten. Allerdings wird durch die Zusammenführung von Professionalisierungs- und Kindheitsforschung eine wichtige empirische Grundlage für solcherlei Weiterführungen und kritische Anschlüsse erarbeitet. So stellt Koch durch die bildungs- und sorgetheoretischen Systematisierungen, die die Arbeit abschließen (Kap. 5), sehr deutlich die Notwendigkeit heraus, Bildung als Grundmodus des Pädagogischen im gesellschaftlichen Kontext stärker machtanalytisch in den Blick zu nehmen.

Mit ihrer Monografie legt Sandra Koch eine bemerkenswerte und hochrelevante empirische Studie vor, welche die „Akzentverschiebung hinsichtlich des Bildungsauftrags von Kindertageseinrichtungen“ im Zusammenhang mit der „mittlerweile eingängige[n] frühpädagogische[n] Maxime“ (14), Bildung beginne bereits mit der Geburt, ins Blickfeld rückt. Damit hinterfragt sie auf erhellende Weise, die Selbstverständlichkeit der Institutionalisierung von Bildung in der Pädagogik der frühen Kindheit. Neben diesem wichtigen Beitrag kann die Studie auch als eine grundlegende, empirisch fundierte Perspektivenerweiterung zur (macht)kritischen Adressierung von Bildungsdiskursen in anderen Zusammenhängen bspw. im Feld der Schule gelesen werden.

[1] Faller, C. (2019). Bildungsgerechtigkeit im Diskurs. Eine diskursanalytische Untersuchung einer erziehungswissenschaftlichen Kategorie. Springer.
Lisa Fischer (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lisa Fischer: Rezension von: Koch, Sandra: Der Kindergarten als Bildungsort, Subjekt- und Machtanalytische Einsätze zur Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996288.html