EWR 22 (2023), Nr. 4 (Oktober)

Miriam Grüning / Sabine Martschinke / Julia Häbig / Sonja Ertl
Mitbestimmung von Kindern
Grundlagen fĂĽr Unterricht, Schule und Hochschule
Weinheim: Beltz Juventa 2022
(256 S.; ISBN 978-3-7799-6558-9; 29,95 EUR)
Mitbestimmung von Kindern Der Sammelband, herausgegeben von Miriam Grüning, Sabine Martschinke, Julia Häbig und Sonja Erlt, nähert sich sowohl aus einer theoretischen, als auch empirischen Perspektive der „Mitbestimmung von Kindern“ und verspricht mit dem Untertitel „Grundlagen für Unterricht, Schule und Hochschule“, Basiswissen für eine breite Leser:innenschaft bereitzuhalten.

Der Band gliedert sich in drei Kapitel: Das erste beinhaltet theoretische Beiträge zur rechtlichen Verankerung der Mitbestimmung von Kindern u. a. in der UN Kinderrechtskonvention (UN KRK) und bietet damit eine rechtliche, aber auch gesellschaftliche Grundlage hinsichtlich der Thematisierung der Partizipationsmöglichkeiten von Kindern. Das Kapitel enthält drei Beiträge, die jeweils mit einer schulpädagogischen Perspektive neben der Begriffsbestimmung von „Mitbestimmung“ (56) verschiedene Möglichkeiten und Facetten dieser in Hinblick auf Kinder in der Schule und im Unterricht untersuchen. Daran anknüpfend werden im zweiten Kapitel des Bandes in sechs Beiträgen empirische Studien zur Umsetzung der in der UN KRK implementierten Rechte zur Mitbestimmung von Kindern vorgestellt – vor allem im schulischen, aber auch im familiären Kontext. Dabei werden neben den Sichtweisen von Schüler:innen auch die Perspektiven anderer Akteur:innen des schulischen Feldes wie Lehrerpersonen oder Lehramtsstudierende betrachtet. Der Fokus dieser Beiträge liegt vor allem auf der Primarstufe, auch wenn in einigen Beiträgen darüber hinaus auch andere Schulformen wie Gesamtschulen und Gymnasien Berücksichtigung finden. Den theoretischen und empirischen Befunden des zweiten Teils folgend identifizieren die Herausgeberinnen dann im dritten Kapitel, bestehend aus einem Beitrag, unterschiedliche Stellschrauben für die Mitbestimmung in Unterricht, Schule und Hochschule und verdeutlichen diese an konkreten Beispielen.

Um einen Einblick in konkrete Aspekte des Bandes zu geben, werden nachfolgend einzelne Beiträge vorgestellt: Aus dem ersten Kapitel bleibt vor allem der zweite Beitrag (Kittel) im Gedächtnis, der neben einem Status Quo der aktuellen Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland auch die Instrumente zur Erfassung und Überprüfung dieser erläutert. Dabei überraschend ist der Verweis auf eine gravierende Bildungslücke: Denn tatsächlich zeigt die Studienlage, dass sowohl Kinder als auch Erwachsene über unzureichende Kenntnis von Kinderrechten verfügen.

Vor allem für pädagogisches Personal sollte es selbstverständlich sein, die Rechte ihrer Klient:innen zu kennen, um diese auch schützen zu können. Die Leser:innen werden direkt in ihrer Rolle als Arbeitende im pädagogischen Feld angesprochen und dazu aufgefordert, das eigene Wissen hinsichtlich der Kinderrechte zu überprüfen und Lücken zu identifizieren. Diese sollten „mit Blick auf die Profession der Lehrkräfte [geschlossen werden].“ (35). Durch den Beitrag wird darauf aufmerksam gemacht, dass eine größer angelegte Rechtsbildung vor allem für pädagogisches Fachpersonal erfolgen müsste, also auch für angehende Lehrpersonen in der Lehrer:innenbildung. Ebenfalls hervorzuheben ist der englischsprachige Beitrag (Lunsy, Hanna). Die Autorinnen setzen am praktischen Unterrichtsgeschehen an und stellen wechselseitiges Feedback zwischen Schüler:innen und Lehrerpersonen als Dreh- und Angelpunkt für Mitbestimmung im Unterricht vor. Entsprechend des Beitragstitels „Delivering children’s right to be heard in education“ (92) wird betont, dass Wahrnehmung und Anhörung eine Facette von Mitbestimmung im Unterricht darstellen. Je nachdem, wie die Lehrperson auf die Schüler:innenäußerungen reagiert, werden bestimmte Schüler:innen und deren Relevanzsetzungen mehr oder weniger im Unterricht berücksichtigt. Die Autorinnen plädieren dafür, dass Lehrpersonen sich aufrichtig für die Schüler:innenäußerungen interessieren und ihr Feedback transparenter gestalten. Der Beitrag betont, dass Unterricht ein „safe space (…)“ (92) sein sollte und es für eine Mitbestimmung im Unterricht vertrauensvolle Beziehungen braucht.

Aus dem empirischen Teil werden zwei besonders spannende Beiträge vorgestellt, in denen das Thema der Mitbestimmung einmal aus der Sicht von Schüler:innen (Gerleigner, Winklhofer, Langmeyer) und einmal aus der Perspektive Lehramtsstudierender (Grüning, Martschinke) beleuchtet wird: Im ersteren wird, über die von Schüler:innen wahrgenommene Mitbestimmung in der Grundschule, am Gymnasium und in der Gesamtschule hinaus, auch die innerhalb der Familie empfundene Partizipation in den Blick genommen. Es wird untersucht, ob und inwiefern ein Zusammenhang zwischen kindbezogener Mitbestimmung in der Schule und kindbezogener Mitbestimmung innerhalb der Familie besteht. Die Studie ist sowohl inhaltlich als auch methodisch interessant. Mittels Befragung per Fragebogen und Interviews sowie durch Latent Profile Analysen konnten fünf unterschiedliche Typen von kindbezogener Mitbestimmung entdeckt werden. Ein besonderes Ergebnis ist, dass Schule in zwei von fünf Fällen, nämlich in solchen, wo familiär wenig Mitbestimmungsrecht empfunden wird, als ein Ort der Partizipation erlebt wird. Schule kann also einen kompensatorischen Effekt hinsichtlich der Mitbestimmung von Kindern einnehmen. Demzufolge sollten Lehrkräfte darauf achten, möglichst alle Kinder zu involvieren, um den kompensatorischen Effekt besonders für die Kinder zu erzeugen, die Mitbestimmung im häuslichen Umfeld weniger erfahren. Der zweite empirische Beitrag ist hervorzuheben, da die bisher wenig beforschten Einstellungen von Studierenden des Primarstufenlehramts zu kindlicher Mitbestimmung an Schulen in den Blick genommen werden. Mittels Fragebogenerhebung werden Zusammenhänge zwischen diesen Einstellungen und eigenen Erfahrungen, z.B. im Rahmen eines Praktikums, untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass Studierende hinsichtlich der Partizipation von Schüler:innen überwiegend positiv eingestellt sind. Dem steht u.a. die Sorge vor einem potentiellen Kontrollverlust auf Seiten der berufstätigen Lehrperson gegenüber. Die Autor:innen regen daher an, die Herausforderungen der Implementierung von mehr Mitbestimmung im Unterricht in der Lehrer:innenbildung stärker zu thematisieren. So könnte es für Studierende beispielsweise sinnvoll sein, mit Fallvignetten zu arbeiten, um einerseits Reflexionsprozesse anzuregen und andererseits partizipationshinderliche Einstellungen zu modifizieren. Hier entlarven die Autor:innen womöglich eine wichtige Stellschraube für die Umsetzung von Mitbestimmung von Kindern.

Genau solche „Stellschrauben“ (232) werden im dritten Teil des Bandes durch die Herausgeberinnen in der Bezugnahme auf die Ergebnisse der vorangegangenen Beiträge identifiziert. Außerdem machen sie explizite Vorschläge zur konkreten Umsetzung von kindbezogener Mitbestimmung wie beispielsweise Implementierungen in Leitbildern von Schulen. Die Herausgeberinnen des Bandes sprechen sich dafür aus, Mitbestimmung als Kontinuum aufzufassen und das Ziel, „absolute […] Mitbestimmung“ (234) zu erreichen, abzulegen und stattdessen die bereits bestehenden Möglichkeitsräume effektiver auszuschöpfen.

Abschließend lässt sich sagen, dass der Band durch die Aufteilung in drei Kapitel eine gute inhaltliche Struktur bietet, welche die Orientierung innerhalb des Sammelbandes erleichtert. Zusammen mit dem klaren Vorwort eignet sich der Band sehr gut, um sich schnell und gezielt Informationen zu verschaffen. Er löst zudem das im Untertitel implizierte Versprechen ein, Grundlagen für Unterricht, Schule und Hochschule zu schaffen, da er Mitbestimmung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet und so einen grundlegenden Überblick über das Forschungsfeld eröffnet. Einige Beiträge weisen dabei einen innovativen Charakter auf. Die theoretischen und auf die konkrete Praxis verweisenden Anregungen sind vermutlich besonders für Wissenschaftler:innen aus dem Forschungsfeld Schule interessant. Wer sich hingegen vor allem für konkrete Möglichkeiten der Umsetzung von Mitbestimmung von Kindern v.a. im schulischen Feld interessiert, sollte noch auf den im Fazit angekündigten zweiten Band warten, der sich mit den offen gebliebenen Fragen der Umsetzungsmöglichkeiten auseinandersetzt.
Nicole Megel (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicole Megel: Rezension von: GrĂĽning, Miriam / Martschinke, Sabine / Häbig, Julia / Ertl, Sonja: Mitbestimmung von Kindern, Grundlagen fĂĽr Unterricht, Schule und Hochschule. Weinheim: Beltz Juventa 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996558.html