EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)

Katrin Peyerl / Ivo ZĂĽchner
Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe
Anspruch, Ziele und Formen der Partizipation von Kindern und Jugendlichen
Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022
(228 S.; ISBN 978-3-7799-6707-1; 24,95 EUR)
Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe Partizipation gehört heute zwingend zum Verständnis eines gelingenden Alltags in der Kinder- und Jugendhilfe und öffentliche sowie freie Träger sind zur Umsetzung von Beteiligungsrechten verpflichtet. Im Fachdiskurs um Angebote der Kinder- und Jugendhilfe hat Partizipation konstant Konjunktur und laut Liane Pluto gibt es kaum ein Thema, das „immer wieder eine solche Aufmerksamkeit erhält wie das Thema Partizipation von Adressat*innen“ [1a]. Beteiligungsmöglichkeiten werden als pädagogisches Leitmotiv sowie als Kernmoment des professionellen Selbstverständnisses von Fachkräften anerkannt. Demgegenüber zeigen empirische Studien immer wieder, dass eine konsequente Umsetzung von Partizipation hinter den programmatischen Erwartungen, die an die Implementierung von Beteiligungsstrukturen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gestellt werden, nach wie vor zurückbleibt [1b].

Dieses „Umsetzungsdefizit“ (161) verweist auf Widersprüche, Paradoxien und Ambivalenzen des Partizipationskonzepts, die in den Fokus der fachlichen Debatten um Partizipation rücken müssen, wenn Kinder und Jugendliche als Gestalter:innen ihrer Lebensverhältnisse ernst genommen und ihre Interessen konsequent berücksichtigt werden sollen. Der von Katrin Peyerl und Ivo Züchner herausgegebene Band stellt einen kritischen Beitrag zu den notwendigen Debatten in Aussicht, indem er nicht nur „die vielfältigen Ansätze und Partizipationsformen in den heterogenen Handlungsfeldern“ (8) der Kinder- und Jugendhilfe darstellt, sondern darüber hinaus auf „zentrale Herausforderungen und Diskussionslinien“ (8) verweist.

Der Sammelband umfasst insgesamt 16 Beiträge und ist in fünf Teile gegliedert, die ihren inhaltlichen Schwerpunkt auf jeweils einen zentralen Leistungsbereich des SGB VIII legen. In der Einleitung stellen die Herausgeber:innen einerseits heraus, dass die Kinder- und Jugendhilfe die Aufgabe habe, „Bemächtigungs-„ und Bildungsprozesse […] im öffentlichen und politischen Raum“ (7) zu initiieren. Andererseits seien Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe ihrerseits dafür zuständig, Kindern und Jugendlichen „faktisch Einflussnahme und Mitbestimmung“ (7) zu ermöglichen. Damit legen Peyerl und Züchner dem Sammelband ein sehr umfassendes Partizipationsverständnis zugrunde, das sich sowohl im gesellschaftspolitischen Zusammenhang (Makroebene), im organisationalen Raum (Mesoebene) als auch im konkreten pädagogischen Verhältnis zwischen Fachkraft und Adressat:innen (Mikroebene) realisiert und seine Wirksamkeit unter Beweis stellen muss. Die einzelnen Beiträge entsprechen diesem breiten Verständnis von Beteiligung und Mitbestimmung und bilden dadurch die inhaltliche Vielfalt und Komplexität des Themas ab.

Im Folgenden wird aus jedem Abschnitt des Buches die Argumentationslinie jeweils eines Beitrags kurz exemplarisch skizziert. Die Auswahl beruht darauf, dass die jeweiligen Beiträge die aktuellen Herausforderungen und zentralen Diskussionslinien von Partizipation besonders veranschaulichen.

Im ersten Abschnitt des Sammelbandes werden zunächst handlungsfeldübergreifende Fragestellungen und Diskurse verhandelt. Albrecht Rohrmann beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Partizipation von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen. Vor dem Hintergrund der Novellierung des SGB VIII durch das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, KJSG) ist dieser Beitrag sowohl von dringender Aktualität als auch ein notwendiges Plädoyer für noch ausstehende Praxisentwicklungen. So stellt Rohrmann fest, dass Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen zwar „in allen Handlungsfeldern zu den Adressat:innen der Kinder- und Jugendhilfe“ zählen; ihr gesetzlich verankertes Recht auf Teilhabe und Mitbestimmung sei aber „nur unzureichend im Blick“ (40). Aus dieser Feststellung leitet Rohrmann zwei zentrale Aufgaben für die inklusive Kinder- und Jugendhilfe ab. Einerseits seien empirische Forschungsprojekte nötig, die die Umsetzung von Partizipation in der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe in den Blick nehmen. Andererseits gelte es, praxistaugliche Konzepte zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen zu entwickeln.

Der zweite Abschnitt des Sammelbandes versammelt Beiträge, die sich mit Partizipation im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit beschäftigen. Benedikt Sturzenhecker betont in seinem Beitrag zu demokratischer Partizipation in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA), dass die Aufgabe „einer politischen Bildung als Demokratiebildung“ (56) in der OKJA eine lange Tradition habe und „tief in der theoretischen Debatte seit den 1960er Jahren verankert“ (56) sei. Der Autor vertritt die – zwar nicht neue, aber in der (kommunalen) Praxis oft vernachlässigte – These, dass es zum pädagogischen Kerngeschäft der OKJA gehöre, Kindern und Jugendlichen Freiräume zur Verfügung zu stellen, die es ihnen ermöglichen, jenseits pädagogischer Inszenierung authentische Erfahrungen mit demokratischer Selbst- und Mitbestimmung zu machen. Sturzenhecker kommt aufgrund der Ergebnisse einer von ihm selbst durchgeführten Sekundäranalyse zur OKJA zu dem Schluss, dass „eine strukturierte Demokratiepraxis, in der Kinder und Jugendliche ihre Rechte und die formellen Strukturbedingungen auf Mitentscheidung in der OKJA erkennen und umsetzen, selten anzutreffen ist“ [2].

Im dritten Abschnitt des Sammelbandes versammeln sich Beiträge zu Partizipation im Bereich der Tageseinrichtungen und Kindertagespflege. Teresa Lehmann und Elisabeth Richter eröffnen den thematischen Schwerpunkt mit einem Beitrag zu Demokratischer Partizipation in der Kindertagesbetreuung. Sie stellen die Bedeutung der Umsetzung von Partizipation im frühkindlichen Feld mit dem Verweis auf „Kindertagesbetreuung als Kinderstube der Demokratie“ (103) heraus. Gleichzeitig stellen sie fest, dass die Anstrengungen, „Kinder an Entscheidungen zu beteiligen, mit der gesellschaftlichen Realität von ungleichen Machtverhältnissen zwischen Kindern und Erwachsenen konfrontiert“ (106) werden. Ziel müsse deshalb – neben der Implementierung von Partizipationsinstrumenten – die Entwicklung einer „antipaternalistischen Erziehungs- und Bildungspraxis“ (109) sein. Um die Erziehungsverhältnisse zwischen Fachkraft und Adressat:innen zu reflektieren und zu demokratisieren, gelte es, die Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften in allen Felden der frühkindlichen Bildung entsprechend zu qualifizieren.

Der vierte Abschnitt verfolgt das Ziel, den aktuellen Stand der Debatten zu Partizipation in den Hilfen zur Erziehung darzulegen. Daniela Reimer und Klaus Wolf diskutieren in ihrem Beitrag die Partizipation von Pflegekindern in der Pflegekinderhilfe. Auch sie verweisen auf Studienergebnisse, die zu dem Schluss kommen, dass „die Notwendigkeit von Partizipation oft anerkannt, aber ihre Umsetzung nur punktuell und halbherzig erfolgt und Pflegekinder sich bis heute in vielen Situationen nicht oder nicht ausreichend beteiligt fühlen“ (153). In Bezug auf diese Adressat:innengruppe schätzen sie die Konstruktion des Pflegekindes als „beschädigtes Kind“ (162) als besonders folgenreich ein. Die Annahme, Pflegekinder seien sowohl Opfer hochbelasteter Eltern als auch besonders auffällige und störende Kinder, liefert nach Meinung der Autor:innen die argumentative Grundlage für einen paternalistischen Zugriff auf Pflegekinder.

Der Band schließt mit Beiträgen zu Partizipation in Feldern der sogenannten anderen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe, für die insgesamt eine noch begrenzte Auseinandersetzung mit Partizipation festzustellen sei. Ulrike Urban-Stahl zeigt in ihrem Beitrag zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen in Ombudsstellen der Kinder- und Jugendhilfe, dass sich die strukturelle Machtasymmetrie zwischen Helfer:innen und Nutzer:innen der Kinder- und Jugendhilfe, die durch Ombudschaft ausgeglichen werden soll, notwendigerweise innerhalb des Angebots fortsetzt. Das macht Partizipation zu einer Herausforderung auch in der ombudschaftlichen Beratung. Das Beratungsformat komme laut Urban-Stahl nicht gänzlich ohne die Expertise von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe aus und stehe damit immer in der Gefahr, die strukturelle Machtasymmetrie zwischen Fachkraft und Adressat:in zu reproduzieren. Es sei deshalb unerlässlich, „die daraus resultierenden Machtpotenziale zu reflektieren und einen transparenten Umgang damit zu gestalten“ (224).

Viele der Beiträge liefern nicht nur einen überzeugenden Einblick in die jeweils spezifischen Herleitungen der Notwendigkeit der Umsetzung von Partizipation in unterschiedlichen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe, sondern führen auch grundständig in das jeweilige Arbeitsfeld ein. Die Lektüre des Sammelbandes kommt zwar ohne große theoretische Vorkenntnisse aus, verspricht aber auch für versierte Leser:innen immer wieder ertragreiche Erkenntnismomente.

Der entscheidende Beitrag des Bandes besteht aber nicht nur in einer sehr umfassenden und gründlichen Auseinandersetzung mit den theoretischen und konzeptionellen Grundlagen von Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe. In der Gesamtschau auf alle Beiträge des Sammelbands zeigt sich eine gemeinsame zentrale Erkenntnis, die den eigentlichen Mehrwert der Lektüre bildet: der Stand der Umsetzung von Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe ist unzureichend und die Potenziale, die eine konsequente Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – insbesondere für deren Selbst- und Weltverhältnisse – bedeuten können, sind bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Laut den Autor:innen mangelt es an den entsprechenden strukturellen Bedingungen, an methodischem Handwerkszeug und auch an einer entsprechenden partizipationsfreundlichen und damit machtsensiblen Haltung von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe. Benedikt Sturzenhecker kommentiert den in allen Beiträgen empirisch begründeten Befund einer unzureichenden Umsetzung von Partizipation ebenso treffend wie sarkastisch mit den Worten: „Schade eigentlich“ (65).

Die Erkenntnis, dass Partizipation im pädagogischen Alltag immer wieder an Grenzen stößt, ist selbstverständlich nicht neu, wird aber in der aktuellen politischen Debatte im Zusammenhang mit dem Ausbau der Adressat:innenrechte im KJSG häufig vernachlässigt. Die Erkenntnis, dass das Umsetzungsdefizit wie ein roter Faden alle Arbeitsfelder durchzieht, demaskiert die schillernden Erwartungen an Partizipationskonzepte und lädt zu einer systematisch-analytischen Auseinandersetzung mit der Umsetzung von Partizipation ein, die sich jenseits normativer Erwartungen vollzieht.

Eine kritische Anmerkung müssen sich einige der Beiträge zum Abschluss aber doch noch gefallen lassen. Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen finden immer wieder (und explizit im Beitrag von Albrecht Rohrmann), aber nicht systematisch und nicht in dem Maße wie es vor dem Hintergrund einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe angezeigt wäre, Berücksichtigung.

[1] Pluto, L. (2021). Institutionelle Beteiligungsgelegenheiten für junge Menschen in der Heimerziehung in Deutschland: Ein quantitativer Blick auf die vergangenen 20 Jahre aus der Sicht von Einrichtungen. In Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, Heft 2. S. 161–175; hier a): S. 161; b): S. 171.
[2] Sturzenhecker, B. (2011). Demokratiebildung – Auftrag und Realität in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. In H. Schmidt (Hrsg.), Empirie der Offenen Kinde-r und Jugendarbeit (S. 131–146, hier S. 138). Springer VS.
Nina Jann (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nina Jann: Rezension von: Peyerl, Katrin / ZĂĽchner, Ivo: Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe, Anspruch, Ziele und Formen der Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996707.html