EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)

Arnd-Michael Nohl
Politische Sozialisation, Protest und Populismus
Weinheim: Beltz Juventa 2022
(276 S.; ISBN 978-3-7799-6997-6; 24,95 EUR)
Politische Sozialisation, Protest und Populismus Innerhalb des breiten Forschungsfeldes politischer Sozialisation werden Fragen der individuellen Politisierung ebenso behandelt wie solche nach dem VerhĂ€ltnis von Individuum und (politischer) Gesellschaft. Allzu hĂ€ufig rekurrieren einschlĂ€gige Studien dabei auf die Notwendigkeit einer Tradierung der politischen Ordnung und sog. „BĂŒrgerorientierungen“ [1]. Im Band des Hamburger Professors fĂŒr Erziehungswissenschaft Arnd-Michael Nohl wird eine ForschungslĂŒcke dieser Subdisziplin der Soziologie behandelt, die, so Nohl, mit ihrem bestehenden Theoriebesteck nicht in der Lage ist, politische Sozialisation jenseits der Institutionen der reprĂ€sentativen Demokratie zu denken. Um diese LĂŒcke zumindest anfĂ€nglich zu schließen, arbeitet sich Nohl mit dem Instrumentenkasten rekonstruktiver Sozialforschung durch eine Reihe von SekundĂ€ranalysen narrativer Interviews und Gruppendiskussionen mit AnhĂ€nger*innen linker und rechter Protestgruppen in Deutschland sowie AnhĂ€nger:innen der AKP in der TĂŒrkei und der Tea Party-Bewegung in den USA. Im Falle der linksalternativen Aktivist:innen greift der Autor dabei auf Material seiner Mitarbeiterin Sarah Thomsen [2] zurĂŒck, beim restlichen Datenmaterial handelt es sich um Zweitverwertungen einiger bereits erschienener Studien internationaler Forscher:innen. Das Interviewmaterial wird von Nohl anhand der Dokumentarischen Methode neu ausgewertet.

Mit dem Ziel, eine „nicht-staatsaffirmative Theorie politischer Sozialisation zu entwickeln“ (13) beginnt Nohl (Kapitel 2) mit einer theoretischen Herleitung des Sozialisationsbegriffs ĂŒber G.H. Mead und K. Mannheim und konstatiert, dass aus den in Kindheit und Jugend erlernten Herangehensweisen an Fragen des Politischen ein je spezifischer Habitus erwĂ€chst, der fĂŒr die politische Weltanschauung und Rollenorientierungen im Erwachsenenleben prĂ€gend ist. Als ‚politisch‘ werden (Kapitel 3) in Anlehnung an A. Nassehis Definition [3] „all jene Komponenten von Sozialisation verstanden [
], bei denen Interaktionen, konjunktive ErfahrungsrĂ€ume und Rollenorientierungen einen Bezug zu ein Kollektiv bindenden, durch Macht durchsetzbaren Entscheidungen haben“ (47). DemgegenĂŒber erscheint es als unpolitisch, die symbolische Ordnung der Gesellschaft als statisch hinzunehmen bzw. als protopolitisch, wenn Entscheidungen nicht ĂŒber die jeweilige peer group hinausgehen. Die in den Kapiteln 4 bis 7 untersuchten Aktivist:innen bzw. ParteianhĂ€nger:innen werden nun in ihrer politischen Weltanschauung unterschieden, welche wiederum danach definiert ist, inwiefern diese Menschen grĂ¶ĂŸere oder kleinere Teile der symbolischen Ordnung als politisierbar wahrnehmen. Ihnen wird außerdem eine je spezifische politische Rollenorientierung zugeschrieben, die auf der Habituierung dessen beruht, was Nohl als „politisches Können“ (75) bezeichnet und das auf ein kontingentes SelbstverstĂ€ndnis als politische Akteur:in verweist.

Beginnend mit der Analyse dreier Interviewtranskripte von Forschungssubjekten aus linksalternativen Protestmilieus (Kapitel 4) zeichnet Nohl bei zweien von ihnen einen transformativen Bildungsprozess nach, unter dem er die „eigenstĂ€ndige Transformation von Lebensorientierungen“ (82) versteht. Davon abzugrenzen ist der fĂŒr den Autor zentrale Begriff der „Sozialisation als dem unauffĂ€lligen, seitens der Akteure selbst nahezu unbemerkten Entfalten von Orientierungen“ (ebd.). Aus den Interviews mit einem Friedensaktivisten der sog. ‚68er-Bewegung‘ und einer Anti-Atom- und Frauenrechtsaktivistin rekonstruiert Nohl eine stark ausgebildete FĂ€higkeit zur Übernahme pluraler Perspektiven in linken Protestmilieus, was ihren AnhĂ€nger:innen Bildung in Form einer Habitustransformation ermögliche. Gleichsam zeigt er anhand eines Greenpeace-Aktivisten, dass ein solcher Bildungsprozess kein notwendiger Bestandteil linkspolitischen Engagements ist. Die politischen Orientierungen der drei Genannten fĂŒhren zu einer Definition „außerinstitutionelle[r] politische[r] Handlungsorientierungen“ (140), die Nohl „auf die habituierte Art und Weise, eine kollektiv bindende Entscheidung herbeizufĂŒhren“ (ebd.) bezieht, „ohne aber auf politische Rollen und Institutionen zurĂŒckzugreifen“ (ebd.).

In Kapitel 5 wendet sich Nohl einer Theorie des Populismus zu, wobei er diesen als „Ausdrucksmittel eines Habitus in der AbwĂ€rtsspirale“ (148) begreift: In eindrĂŒcklicher Weise kommt Nohl zu dem Befund, dass Populist:innen ein „allenfalls ausgehöhltes VerstĂ€ndnis der reprĂ€sentativen Demokratie“ (157) zugeschrieben werden muss, was sich in einer „Entgegensetzung von Elite und einem als homogen gedachten Volk, Antipluralismus und [der] Untergrabung der Gewaltenteilung“ (ebd.) niederschlĂ€gt. Nohl greift hier auf Befunde aus ‚Die Gesellschaft des Zorns‘ der DarmstĂ€dter Soziologin Cornelia Koppetsch zurĂŒck. Deren Problematik hinsichtlich der bereits zum Erscheinen des hier rezensierten Werkes belegten PlagiatsvorwĂŒrfe rĂ€umt Nohl ein, begrĂŒndet die Verweise auf Koppetsch jedoch mit „der OriginalitĂ€t des ihr unterliegenden Ansatzes“ (149). Er bezieht sich hier insbesondere auf Koppetschs These einer linksliberalen Diskurshegemonie, nach der konservative und rechte Artikulationen aus dem Diskurs ausgeschlossen werden und auf diesen Ausschluss mit populistischem Protest reagieren. Die Problematik dieser These hat F. Biskamp an anderer Stelle herausgearbeitet [4], wichtig ist hier, dass Nohl von Koppetsch den Begriff der „Re-SouverĂ€nisierung“ (151) als ErklĂ€rungsmuster fĂŒr rechtspopulistischen Protest ĂŒbernimmt. Über linkspopulistische Varianten – das betont Nohl in einer Fußnote (162) selbst – wird an dieser Stelle leider nicht gesprochen.

Vor diesem Hintergrund erfolgt zunĂ€chst (Kapitel 6) eine gemeinsame Analyse von AKP- und Tea Party-AnhĂ€nger:innen. Hierzu rezipiert Nohl verschiedene bereits im englischen [5] und tĂŒrkischen [6] erschienene Studien. Den Tea Party AnhĂ€nger:innen attestiert er eine unbewegliche, an der amerikanischen Verfassung orientierte Rollenorientierung, nach der jegliche Änderung der tradierten symbolischen Ordnung als falsch erscheint. Als vorwiegend der lĂ€ndlichen Bevölkerung zuzurechnende WĂ€hler:innen unterstĂŒtzen sie populistische Oppositionelle, die ihnen einen schlanken Staat versprechen, der aufhört, die stĂ€dtischen Eliten zu bevorzugen. Dem gegenĂŒber positioniert Nohl AnhĂ€nger:innen der tĂŒrkischen Regierungspartei AKP. Anders als im Falle der Tea Party wird das Politische hier nicht zurĂŒckgedrĂ€ngt; stattdessen kommt es aufgrund des extrem hohen parteipolitischen Engagements der AKP-AnhĂ€nger:innen zu einer „Einebnung der Grenze zwischen Politik und alltĂ€glicher LebensfĂŒhrung“ (193), wodurch das Politische hier einen „ausufernden Charakter“ (203) erhĂ€lt. AKP- wie Tea Party-AnhĂ€nger:innen erscheinen so als populistisch, da sie einen einheitlichen Volkswillen gegen eine elitĂ€re Minderheit behaupten. Da sie sich zu dessen Durchsetzung der Institutionen der reprĂ€sentativen Demokratie bedienen, handelt es sich in beiden FĂ€llen um einen innerinstitutionellen Populismus. Gemein ist ihnen außerdem die UnfĂ€higkeit zur Übernahme ihnen fremder politischer Perspektiven.

Um rechtspopulistischen Protest in Deutschland zu untersuchen rezipiert Nohl eine Studie von Geiges et al. [7], deren Rohdatenmaterial er neu analysiert. Diese Protestform erscheint Nohl als „SelbstverstĂ€ndlichkeitsaufbrecher“ (218): hier findet eine radikale Politisierung nicht inner- oder außerhalb der, sondern gegen die Institutionen der reprĂ€sentativen Demokratie statt. Die interviewten ‚Pegida‘-Aktivist:innen unterstellen ‚den Politiker:innen‘ eine grundlegende UnfĂ€higkeit, aus vermeintlich objektiven Informationen die korrekten SchlĂŒsse zu ziehen. Hier kommt Nohl zu dem Schluss, dass den ‚Pegida‘-Aktivist:innen eine Übernahme anderer politischer Perspektiven somit nicht möglich ist: es gehört zu ihrer politischen Rollenorientierung, dass es grundsĂ€tzlich nur eine – und zwar ihre – korrekte Perspektive auf Wahrheit gibt. Nohl fĂŒhrt diese UnfĂ€higkeit auf die Sozialisation der Aktivist:innen in der ehemaligen DDR zurĂŒck, wonach diese zu einer Idealisierung des reprĂ€sentativ-demokratischen Systems gefĂŒhrt hat, die nun enttĂ€uscht wird. Hier bleibt jedoch offen, wie sich damit Ă€hnliche Protestgruppen auf dem Gebiet der sog. ‚alten‘ BundeslĂ€nder erklĂ€ren lassen.

Abschließend fasst Nohl die von ihm forcierte Erweiterung der Theorie politischer Sozialisation damit zusammen, dass er den ‚Pegida‘-Aktivist:innen mit Koppetsch eine „politische Re-SouverĂ€nisierung“ (251) zuschreibt, die sich in einer ErschĂŒtterung der vermeintlich kosmopolitischen Hegemonie niederschlĂ€gt. Ebenso wie bei den AnhĂ€nger:innen der AKP und der Tea Party-Bewegung erscheint ihnen der jeweilige politische Gegner als „Feind, der nur (und sei es durch Wahlen) bekĂ€mpft, mit dem aber kein Kompromiss geschlossen werden kann“ (254), wobei die beiden letzteren ihren Protest innerhalb der politischen Institutionen artikulieren. Ebenso außerhalb, aber nicht gegen, sondern lediglich jenseits der Institutionen ist der Protest der linkspolitischen Aktivist:innen angesiedelt. Nohl schließt damit, dass sich linksalternativer Protest dadurch von Populismus abgrenzt, dass er plurale Perspektiven einschließt. Dies ist auf eine politische Rollenorientierung zurĂŒckzufĂŒhren, bei der bereits im Elternhaus produktiver Streit gelernt wurde. Dieser eher der Adoleszenz zuzuschreibende Protest grenzt sich dann auch dadurch von Populismus ab, dass letzterer eher auf EnttĂ€uschungserfahrungen im Erwachsenenalter zurĂŒckgefĂŒhrt werden kann.

In sehr leserlicher Weise gelingt es Nohl, plurale politische Spielarten des PhĂ€nomens Populismus in einer international angelegten Studie zu bĂŒndeln. Der Erkenntnisgewinn hinsichtlich einer Erweiterung des Begriffs der politischen Sozialisation um nicht-staatsaffirmative Sozialisationsformen ist gegeben, obgleich Nohl selbst betont, dass die empirischen Daten auf einer „nur bedingt gegebenen Vergleichbarkeit“ (259) beruhen. Sie sind jedoch imstande, den gegenwĂ€rtigen Diskurs um politische Sozialisation im besten Sinne „nachhaltig zu irritieren“ (ebd.). Das Buch kann damit allen einschlĂ€gig interessierten Leser:innen empfohlen werden, die sich fĂŒr eine Theorie politischer Sozialisation jenseits der Institutionen der reprĂ€sentativen Demokratie interessieren.

[1] Soßdorf, A. (2021). Politische Sozialisation. In Andersen, U., Bogumil, J., Marschall, S., Woyke, W. (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland (S. 755–759). Springer.
[2] Thomsen, S. (2019). Biographische Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen – Empirische Typisierungen und normativitĂ€ts- und bildungstheoretische Reflexionen. Springer VS.
[3] Nassehi, A. (2003). Der Begriff des Politischen und die doppelte NormativitĂ€t der ‚soziologischen‘ Moderne. In Ders., M. Schroer (Hrsg.), Der Begriff des Politischen. Soziale Welt Sonderband (S. 133–169). Nomos.
[4] Biskamp, F. (2019). Hegemonie? Welche Hegemonie? Teil IV einer Kritik an Cornelia Koppetschs Gesellschaft des Zorns. SozBlog https://blog.soziologie.de/2019/08/hegemonie-welche-hegemonie-teil-iv-einer-kritik-an-cornelia-koppetschs-gesellschaft-des-zorns/
[5] Kumkar, N.C. (2018). The Tea Party, Occupy Wall Street, and the Great Recession. Palgrave Macmillan; Hochschild., A.R. (2016). Strangers in their own Land. Anger and Mourning on the American Right. The New Press.; Cramer, K.J. (2016). The Politics of Resentment. Rural Consciousness in Wisconsin and the Rise of Scott Walker. University of Chicago Press.
[6] Doğan, S. (2017). Mahalledeki AKP. Parti İƟleyiƟi, Taban Mobilizasyonu ve Siyasal YabancılaƟma. Istanbul: iletiƟim.; Özet, Ä°. (2019). Fatih-BaƟakƟehir. MuhafazakĂąr Mahallede Ä°ktidar ve DönĂŒĆŸen Habitus. iletiƟim.; Akçaoğlu, A. (2019). Zarif ve Dinen MakbĂ»l. Muhafazakar Üst-Orta Sınıf Habitusu. iletiƟim.
[7] Geiges, L., Marg, S., Walter, F. (2015). Pegida – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? transcript.
Daniel Lieb (Jena)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Lieb: Rezension von: Nohl, Arnd-Michael: Politische Sozialisation, Protest und Populismus. Weinheim: Beltz Juventa 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996997.html