EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)

Carsten Bünger / Charlotte Chadderton / Agnieszka Czejkowska / Martin Dust / Andreas Eis / Christian Grabau / Andrea Liesner / Ingrid Lohmann / David Salomon / Susanne Spieker / Jürgen-Matthias Springer / Anke Wischmann (Hrsg.)
Jahrbuch für Pädagogik 2022
30 Jahre und kein Ende der Geschichte
Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023
(252 S.; ISBN 978-3-7799-7315-7; 42,00 EUR)
Jahrbuch für Pädagogik 2022 Wozu Historische Pädagogik und die Auseinandersetzung mit Geschichte im pädagogischen Feld? Der Frage nach Nutzen (und Nachteil) einer historisch forschenden Perspektive für die Erziehungswissenschaft lässt sich anhand der Beiträge dieser Jubiläumsausgabe nachgehen, die mit unterschiedlichen Ansätzen ‚Möglichkeitsräume‘ der Beschäftigung mit Geschichte sichtbar machen. Dem Titel des Jahrbuchs folgend widersprechen die Beiträge der Großthese Francis Fukuyamas vom Ende der Geschichte und dem ihr inhärenten Fortschrittsglauben mal mehr, mal weniger explizit und setzen stattdessen auf kritische Genealogie und Unabgeschlossenheit von Geschichte.

Florian Heßdörfer liest die Dekade ab 1964 als „Gelenkstelle zwischen zwei Zeitordnungen“ (31) und thematisiert in diesem Zeitraum entstehende Bildungskonzepte. Er widmet sich zunächst verschiedenen Zukunftsdiskursen und identifiziert drei Bildungsszenarien, die zu diesem Zeitpunkt die Bühne betreten: Dazu zählt er jene Entwürfe, die Bildung eine zentrale Rolle in einem Transformationsgeschehen zuschrieben, das gleichsam als pädagogische Aufgabe „globalisierten Regierungshandelns“ (38) begriffen wurde und mit der Verdatung von Bildung und ihrer Ökonomisierung durch neue Akteure wie der OECD einherging. Es entwickelten sich aber auch Gegenentwürfe, die mit dem „Motiv der radikalen Umkehr“ (41) operierten – der Autor findet diese im Bericht des Club of Rome und der Kinderladenbewegung. Die Spannungen zwischen diesen Bildungsentwürfen seien durch das Aufkommen des Kompetenzkonzepts gewissermaßen kanalisiert worden. Das Kompetenzmodell habe die Möglichkeit geboten, tradierte psychometrische Mess- und Machbarkeitspostulate zwar fortzuschreiben, gleichzeitig aber über die Kompetenzen kein „feststellendes Urteil“ (42) auszusprechen und Gesellschaften wie Individuen auf eine offene Zukunft hin zu orientieren. Die Ausführungen bieten einige Anregungen dazu, wie sich die vielfältigen und widerstreitenden Diskurse der ‚langen 1960er Jahre‘ in Beziehung setzen lassen. Aber der Anspruch ist umfassend, und oftmals vermag der grobe Pinselstrich, mit dem Kinderläden, der Club of Rome, Dutschkes Bildungsvisionen und globale Bildungsakteure verknüpft werden, nicht restlos zu überzeugen. Dass der Kompetenzbegriff mitnichten erst in den 1970er Jahren aufkommt, sei wenigstens am Rande erwähnt. Als störend erweist sich zudem, dass der Autor durch den Rückgriff auf sattsam bekanntes Quellenmaterial suggeriert, er schlage eine erste Schneise durch die unübersichtlichen Diskurse dieser Zeit. Kein einziger Beitrag der mittlerweile umfangreichen historischen Bildungsforschung zu den von Heßdörfer aufgegriffenen Themenkomplexen ist ihm eine Erwähnung wert.

Annika D'Avis und David Salomon zeigen in ihrer Auseinandersetzung mit der Funktion von Bildung in den Demokratiekonzepten von John Stuart Mill und Julius Fröbel, dass Bildung im liberalen Denken des 19. Jahrhunderts eine ambivalente Rolle spielte. Sie sollte zwar gesellschaftlich integrierend wirken, wurde aber vom aufstrebenden Bürgertum gleichzeitig als Exklusionsmechanismus etabliert, um diejenigen, die nicht zur demokratischen Partizipation fähig schienen, aus politischen Entscheidungsprozessen herauszuhalten. Auf dieses wirkmächtige, historisch gestiftete „Argumentationsmuster“ (71) griffen auch gegenwärtige Debatten zurück: Bildung werde in diesen Diskussionen häufig gleichzeitig als Antwort auf Politikverdrossenheit und als Verteilungsschlüssel für politische Partizipation gesetzt. Man muss der dann doch recht umstandslosen Parallelisierung von Geschichte und Gegenwart nicht zustimmen, um den Nutzen dieser kritisch gewendeten Ideengeschichte anzuerkennen: Die oftmals erstaunlich geschichtslosen Diskussionen der Gegenwart können von solchen Impulsen zur historischen Reflexion nur profitieren. Jedoch bleibt letzten Endes offen, warum ausgerechnet die beiden von den Autor:innen herangezogenen Debatten, die historische Argumentationsmuster geschichtsvergessen wiederholen, dazu geeignet sind, aus dem Blick in die Vergangenheit „‚Lernprovokationen‘“ (72) abzuleiten.

Anhand ihrer Analyse literarischer Texte des 21. Jahrhunderts, die sich mit der DDR beschäftigen, zeigen Meike Sophia Baader und Sandra Koch, dass diese eine Brückenfunktion innerhalb einer fehlenden gemeinsamen Ost-West-Erinnerungskultur im Umgang mit der DDR-Vergangenheit einnehmen können. Sie weisen zudem darauf hin, welches reflexive Potenzial einer historischen Pädagogik innewohnt, die sich interdisziplinär orientiert und nach anderen Formen des Geschichtenerzählens sucht. Eine historisch arbeitende Pädagogik, die fiktionale Texte als Quellen sowie als Modi des Erzählens berücksichtigt, kann Leerstellen in einer vielstimmigen Geschichte füllen, wie u.a. die Diskussion von Lukas Rietzschels Roman Raumfahrer (2021) zeigt (99ff.). Ein solches Verständnis von Geschichte als narrativer ‚Raum‘, in dem sich mehrere Generationen gemeinsam bewegen, demonstriert anschaulich, dass Geschichte unabgeschlossen ist und Historiographie als kollektive Praxis begriffen werden muss. Literarische Texte könnten, so die Autorinnen, Unaussprechliches aus der Geschichte zur Sprache bringen und eine Verbindung zwischen Generationen stiften. Jene ermögliche es, das (Be- und Ver-)Schweigen der Vergangenheit zu überwinden und eine kollektive intergenerationale Erinnerungs- und Kommunikationskultur zu etablieren. Die Chancen, die sich durch das Anders-Denken von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Spiegel fiktionaler Texte bieten, hätten durch die Anbindung an bereits vorhandene Literatur jedoch weiter entfaltet werden können: Wie einige neuere Arbeiten gezeigt haben, kann die Verknüpfung von Fakt und Fiktion das Schreiben von Bildungsgeschichte provozieren und bereichern [1].

Die Potenziale von Hayden Whites Monumentalwerk `Metahistory` für die pädagogische Historiographie diskutiert Clemens Bach. „Pädagogische Historiographien“, so Bachs Forderung im Anschluss an White, seien „als literarische Kunstwerke“ zu begreifen (163). Er demonstriert überzeugend, welchen Mehrwert eine solche Konzeption birgt: Zum einen kann pädagogische Historiographie so auf die ihr zugrundeliegende narrative Strukturierung hin untersucht und kritisiert werden, zum anderen gerät auf diese Weise der Zusammenhang zwischen der ästhetischen Darstellung historischer Fakten und pädagogischen Absichten in den Blick. Drittens ermöglicht sie eine gleichsam doppelte Reflexion: auf die eigene Verortung beim Schreiben von Geschichte ebenso wie auf den Stellenwert der Kritik innerhalb der pädagogischen Geschichtsschreibung.

Dass es gewinnbringend ist, Geschichte als prinzipiell unabgeschlossen auszuweisen, lässt sich an dem Beitrag von Johannes Bretting nachvollziehen. Der Autor stellt am Beispiel der Gedenkstättenpädagogik und unter Rückgriff auf Ansätze von Astrid Messerschmidt heraus, dass eine solche Konzeption von Geschichte den Vorteil bietet, vermeintlich Vergangenes in der Gegenwart aktiv verhandeln zu können. Anders als das häufig recht naive Postulat des Lernens aus der Geschichte, das einen sehr eindimensionalen, statischen und passiven Wissensbegriff anlegt, eröffnet sich so die Möglichkeit, Erinnerung als andauernden und aktiven Konstruktionsprozess zu begreifen. In diesem Sinne ist Geschichte eben nicht vorbei: im Gegenteil fungiert sie als wichtiges Scharnier zwischen Vergangenheit und Gegenwart und erweist sich als aufgeschlossen für unterschiedliche Formen des Wissens und Erinnerns – besonders bedeutsam in pluralistischen Gesellschaften, die Multiperspektivität auch mit Blick auf die Vergangenheit ernst nehmen. Wünschenswert wäre es dabei, auch die Vielfalt der Opfergruppen mitzubedenken und an neueste historische Forschungen anzuschließen – dies ist in der Gedenkstättenpädagogik nicht immer gegeben.

Jana Sämann arbeitet heraus, dass vordergründig überwunden geglaubte Vergangenheit – in diesem Fall rechtsextreme und antisemitische Bewegungen und deren Argumentationsmuster – im Kontext der COVID-19-Pandemie eine Konjunktur erfuhr. Sie macht eine perfide semantische Umdeutung zentraler demokratischer Konzepte und strategischen Geschichtsrevisionismus unter Anhänger:innen antisemitischer Verschwörungserzählungen aus. Daraus ergibt sich eine besondere Herausforderung für die historisch-politische Bildung: Denn gerade weil die Akteur:innen durchaus auf historisches Wissen zurückgreifen können, reicht es nicht aus, lediglich auf die Vermittlung von historischen Tatsachen zu setzen, wie dies die politische Bildungsarbeit lange Zeit tat. Zwar zeigt die Autorin anschließend einige mögliche Ansatzpunkte politischer Bildungsarbeit auf, vergisst darüber aber die Möglichkeiten einer dezidiert historisch-politischen Bildung. Jene müsste sich nicht nur mit einer auf Informationen beschränkten Vermittlung von geschichtlichem Wissen begnügen, sondern gegenwärtige gesellschaftliche Problemlagen als Anlass für historische Reflexion nehmen.

Wie wichtig gerade eine kritische Erinnerungskultur mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit ist, zeigt Aslıhan Özcan in ihrem Beitrag über die Externalisierung von antisemitischen Angriffen als „muslimisches Problem“ (124). Sie kann schlüssig demonstrieren, welche tiefgreifenden Folgen die aus dem Wunsch der deutschen Gesellschaft nach Freispruch von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit gewachsene Tabuisierung von Antisemitismus für deutsche Muslim:innen hat: Die Homogenisierung und Konstruktion von muslimischen Personen als ‚the other‘ verschleiern nicht nur weitreichenden antimuslimischen Rassismus, sondern verlagern auch die Verantwortung für sekundären Antisemitismus auf ebendiese ‚Anderen‘. Ihr Rekurs auf das Konzept der Intersektionalität lässt jedoch eine eindeutige Bestimmung dessen offen, was eine intersektionale Perspektive in Abgrenzung zu anderen Ansätzen der Diskriminierungsforschung in der Erfassung von antimuslimischen Rassismen leisten kann.

Die Jubiläumsausgabe wird ihrem Anspruch, Geschichte in der Tradition des Jahrbuchs als ihr „Schlüsselthema“ (9) zu entfalten, nur teilweise gerecht. Zwar eröffnen einzelne Beiträge ungewöhnliche Blickwinkel auf Geschichte oder machen theoretische Ansätze für die pädagogische Historiographie gewinnbringend nutzbar. Das alles ist aber mehrheitlich weder völlig neu noch wird das Potenzial einer reflexiven und multiperspektivischen Historischen Pädagogik voll ausgeschöpft. So kranken die meisten Artikel daran, dass sie nicht an aktuelle (internationale) Forschungsdiskussionen anschließen. Ertragreich wäre es auch gewesen, die unterschiedlichen Vorstellungen von Historischer Pädagogik/Bildungsforschung sowie die spezifischen Geschichtsverständnisse der Autor:innen zu reflektieren – zumal in einem Jahrbuch, das die Unabgeschlossenheit der Geschichte bereits im Titel trägt. Dieser Titel zieht sich zwar als poröser roter Faden durch die einzelnen Texte. Kritische Auseinandersetzungen findet man jedoch nur vereinzelt; einige Beiträge greifen den Titel schlicht gar nicht auf. Die Frage, die sich die Rezensentinnen bei der Lektüre gestellt haben, fokussiert allerdings ohnehin auf ein anderes Problem: Sollte die mehrheitlich konstatierte Unabgeschlossenheit von Geschichte nicht auch dazu verleiten, die Frage nach der Möglichkeit des Ver-lernens von Geschichte als wirkmächtiges und machtvolles Element der Gegenwart zu stellen?

[1] Grabau, Ch., & Janssen, A. (2021). Die Chancen vieler Geschichten. Wie im Kontext von Rassismus, Feminismus und (Post-)Humanismus die Gegenwart und Zukunft anders erzählen. In L. Böckmann, S. Engelmann, P. Reichrath & A. Rohstock (Hrsg.), Creativity, Courage, Chances. Festschrift zu Ehren von S. Karin Amos (S. 285–313). Tübingen Library Publishing. Pfützner, R., & Engelmann, S. (Hrsg.). (2022). Science Fiction Bildung. Pädagogische Interpretationen. Tübingen University Press.
Jasmin Bentele & Anne Rohstock (Kassel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jasmin Bentele & Anne Rohstock: Rezension von: Bünger, Carsten / Chadderton, Charlotte / Czejkowska, Agnieszka / Dust, Martin / Eis, Andreas / Grabau, Christian / Liesner, Andrea / Lohmann, Ingrid / Salomon, David / Spieker, Susanne / Springer, Jürgen-Matthias / Wischmann, Anke (Hg.): Jahrbuch für Pädagogik 2022, 30 Jahre und kein Ende der Geschichte. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377997315.html