EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)

Andreas Hinz / David Jahr / Robert Kruschel (Hrsg.)
Inklusive Bildung und Rechtspopulismus
Grundlagen, Analysen und Handlungsmöglichkeiten
Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2023
(297 S.; ISBN 978-3-7799-7495-6; 48,00 EUR)
Inklusive Bildung und Rechtspopulismus Seit über zehn Jahren verpflichtet sich Deutschland inklusive Bildung umzusetzen. So diffus der Begriff teilweise auch verwendet wird, so herrscht – im Verständnis von inklusiver Bildung als einem Menschenrecht – Konsens darüber, dass inklusive Bildung die Gesamtheit der Bildungsprozesse adressiert und allen Menschen in ihrer Verschiedenheit die Teilhabe an gemeinsamen Bildungsprozessen ermöglichen soll [1]. Inklusive Bildung wendet sich damit gegen jede Form der Diskriminierung [2]. Zugleich ist derzeit insbesondere unter jungen Menschen eine deutliche Zunahme rechtspopulistischer und antidemokratischer Tendenzen zu beobachten, was unlängst in der Mitte-Studie herausgestellt wurde [3]. Rechtspopulismus ist mittlerweile in der europäischen Parteienlandschaft allerorts vertreten [4]. Die Verbindung zu Inklusion und inklusiver Bildung ist bis dato allerdings im Diskurs kaum explizit thematisiert.

Der 2023 erschienene Sammelband „Inklusive Bildung und Rechtspopulismus“ von Andreas Hinz, David Jahr und Robert Kruschel schließt hieran an und leistet Pionierarbeit. Ausgehend von Tagungserfahrungen der Autor*innen widmet sich der Band der Zusammenschau von Inklusion und Rechtspopulismus, indem Rechtspopulismus vor der Reflexionsfolie inklusiver Bildung bearbeitet wird. Ziel des Bandes ist es, ausgehend von den theoretischen Grundlagen zu inklusiver Bildung und Rechtspopulismus, Varianten rechtspopulistischen Denkens und Handelns näher zu beleuchten und Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf den Umgang mit Rechtspopulismus aufzuzeigen.

Der Band versammelt 18 Beiträge, die zur übersichtlichen Strukturierung drei Teilen des Sammelbands zugeordnet werden, den Grundlagen (Teil 1), den Analysen (Teil 2) und den Handlungsmöglichkeiten (Teil 3): Während im ersten Teil die begrifflich-theoretischen Grundlagen zu Rechtspopulismus und dessen Forschungsperspektiven in den Blick genommen werden sowie der Frage nach dem Verhältnis von inklusiver Bildung und Rechtspopulismus nachgegangen wird, beinhalten die Beiträge des zweiten Teils vor allem empiriebasierte Analysen. Im dritten Teil finden sich handlungsorientierte Beiträge, die aufzeigen, wie präventiv oder interventiv, vorrangig bezogen auf den Bildungsbereich, mit Rechtspopulismus umgegangen werden kann.

Die Beziehung zwischen inklusiver Bildung und Rechtspopulismus wird von den Herausgebenden in der Einführung vor dem Hintergrund der diskursiven Verbindung von Inklusion und Demokratie erörtert und damit der Sammelband insgesamt legitimiert. Inklusion und Demokratie werden als nicht getrennt voneinander denkbar vorangestellt, weshalb die Frage nach inklusiver Bildung eine hochpolitische Fragestellung darstellt, die es herrschafts- und machtkritisch zu reflektieren gilt und die im Widerspruch zu spaltenden Tendenzen in der Gesellschaft steht (Andreas Hinz, David Jahr, Robert Kruschel).

Dem Populismus-Begriff nähern sich in Teil 1 Frank Decker, Philipp Adorf und Marcel Lewandowsky an, indem sie seine Erfolgsgeschichte im Zusammenhang der Klimapolitik und Corona-Pandemie skizzieren und die Gefährdung der Demokratie durch Rechtspopulismus diskutieren. Die in diesem Beitrag stärker am europäischen Parteienvergleich ausgerichtete politische Perspektive ergänzen Christopher Hempel und Johannes Kiess durch eine Betrachtung von Rechtspopulismus als gesellschaftlichem Phänomen, das bis in die Schulen hineinwirkt, und diese durch autoritäre Logiken, rechtspopulistischen Druck auf Curricula und/oder eine rechtspopulistische Argumentation herausfordern. (Rechts-)Populismus wird schließlich im dritten Beitrag von Teil 1 macht- und herrschaftskritisch beleuchtet und normativ politische Bemühungen werden auf einer menschenrechtlichen Folie hinterfragt (Andreas Hinz, Clemens Dannenbeck).

In Teil 2 werden mehrere Varianten rechtspopulistischen Denkens und Handelns vorgestellt.
Peter Tiedeken greift beispielsweise verschwörungsideologisches Denken im Kontext der Corona-Pandemie auf und analysiert, inwiefern sich der pädagogische Diskurs auf Verschwörungsideologien bezieht, das Phänomen verklärt, entpolitisiert und auf die Gefühlsebene reduziert, womit die Chance vergeben wird, ideologisches Denken unter Einbezug der gesellschaftlichen Ordnung zu reflektieren. Als weitere Variante wird der von Wunsch und Monecke [5] skizzierte pädagogische Populismus thematisiert (Andreas Hinz). Unter Bezug auf Wockens Analysen werden den Argumentationen von Inklusionskritikern populistische Tendenzen bescheinigt, während ebenso selbstkritisch die Inklusionsforschung unter Bezug auf Georg Feusers Theorie der allgemeinen Pädagogik mit der entwicklungslogischen Didaktik [6] und dessen Aussagen einer „einzig richtigen“ Theorie in kritischer Perspektive im Hinblick auf die Weiterentwicklung inklusionspädagogischer Theorie und Praxis hinterfragt werden. Zudem werden ihr Tendenzen zu einem quasi erziehungswissenschaftlichen Populismus mit einer unproduktiven Polarisierung attestiert, den es kritisch zu reflektieren gilt. Mit Ausnahme des Beitrags von Gertraud Kremsner und Kolleg*innen, die das dialektische Spannungsfeld institutioneller Öffnung und normativer Verbindlichkeit in Hochschule aufgreifen, fokussieren alle weiteren Beiträge von Teil 2 Varianten des Rechtspopulismus im konkreten Schulalltag. So beispielsweise wird Hatespeech in Schule in den Blick genommen (Michael May), Populismus als Eigenschaft von Interaktionssystemen analysiert (David Jahr), unter Bezug auf das Prinzipienmodell [7] werden die Herausforderungen im inklusiven Umgang mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit skizziert (David Jugel, Anja Besand) und antidemokratische Äußerungen von Schüler*innen sowie die Frage des Umgangs mit ihnen thematisiert (Lisa Marie Mast, Christopher Hempel). Übergeordnet verdeutlichen die Beiträge, wie alle empirisch dargestellten Phänomene eine inklusive politische Bildung bzw. sachorientierte demokratische Unterrichtskultur unterlaufen. Die Stärke, insbesondere der beiden letztgenannten Beiträge besteht darin, klare Worte dafür zu finden, wie sich Inklusion wehrhaft verhalten kann bzw. „muss“, um demokratie- und menschenverachtenden Tendenzen entgegenzutreten.

Ausgehend von den in Teil 2 skizzierten Herausforderungen werden in Teil 3 konkrete Handlungsperspektiven im Umgang mit rechtspopulistischen Tendenzen eröffnet. Eine Möglichkeit wird im Partnerismus gesehen, der als Navigationshilfe für den Umgang mit Rechtspopulismus dienen kann (Ines Boban, Andreas Hinz). Weiter wird, vor dem Hintergrund eines multidimensionalen Anerkennungsprozesses, die prinzipielle Möglichkeit der Trennung von Person und Ideologie bei gleichzeitiger Anerkennung der Person und Delegitimierung ihrer Ideologie beschrieben (Marie-Louis Zucker). Während mit beiden Ansätzen letztlich eine Art schul- und unterrichtsübergreifender Haltungen als Umgangsweisen präsentiert werden, bietet Teil 3 zudem konkrete (unterrichtliche) Instrumente bzw. Methoden im Umgang mit Rechtspopulismus: So wird aus der Perspektive der Schulentwicklungsforschung beschrieben, wie über sog. Change Agents wirksam gegen antisemitische Tendenzen vorgegangen werden kann (Stefan E. Hößl, Michael Stralla), wie Narrative Interviews als Instrument dienen können, menschenfeindliche Haltungen im Rahmen des schulischen Regelunterrichts zu bearbeiten (Christopher Fritzsche, Harald Weilnböck) und wie in einer otheringsensiblen Auseinandersetzung Rassismus im Unterricht wahrgenommen und damit präventiv und interventiv gegen Rechtspopulismus vorgegangen werden kann (Anja Seifert). Wie konkret der Umgang in der Gesamtheit einer Schule aussehen kann, wird im Zusammenhang eines Beitrags aus der Freien Schule Güstrow (Hanka Gatter mit Charlotte, Martin, Roxanne) sowie über die Mostar Rock School (Ines Boban, Lucia Božić) in internationaler Perspektive, unter Einbezug von Interviews mit Schüler*innen und Lehrpersonen, eindrücklich beschrieben. Die in Teil 3 darstellten Beiträge eröffnen Lesenden in einer pragmatischen Perspektive, wie auf die Frage reagiert werden kann, wie inklusiv Inklusion selbst gegenüber diskriminierenden und menschenverachtenden Strategien und Tendenzen sein kann bzw. darf.

Deutlich wird im Band, vermutlich dem Herausgeberteam geschuldet, ein stark schulpädagogischer Fokus, der das Potenzial bietet, im weiteren Diskurs stärker hin zu außerunterrichtlichen/-schulischen Lernorten geöffnet werden zu können. Auch stellt sich die Frage, ob es Zufall ist, dass die im Band vorgestellten staatlichen Schulen vorrangig als „Negativbeispiele“ fungieren, die im Zusammenhang der empirischen Analysen diskriminierende, rechtspopulistische Tendenzen ausweisen, während sich die im Zusammenhang von Teil III vorgestellten Handlungsmöglichkeiten auf zwei nicht-staatliche Schulen beziehen. Zudem zeichnet sich in der Summe der Einzelbeiträge ein insgesamt relativ einstimmiger Tenor mit stark systemkritischer Perspektive ab, der vor dem Hintergrund des Anliegens, Vielfalt im Band zu repräsentieren, an Grenzen stößt; was die Herausgebenden jedoch selbstkritisch reflektieren (16).

Insgesamt bietet der Sammelband eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Schnittfeld und der Beziehung inklusiver Bildung und Rechtspopulismus, insbesondere in einer schulpädagogischen Perspektive. Die Autor*innen eröffnen wertvolle Einsichten und Handlungsoptionen für den Umgang mit Rechtspopulismus vor der Reflexionsfolie inklusiver Bildung und sie machen deutlich, dass inklusive Bildung auch bedeutet, Wehrhaftigkeit und Positionierung gegenüber einer menschenverachtenden Praxis zu zeigen, und das in einer grundsätzlich „inklusiven Offenheit“. Damit dürfte der Band sowohl für Rezipient*innen mit dem Fokus Inklusion und inklusive Bildung interessant sein, da er den Blick für das Politische in der inklusiven Bildung eröffnet. Zugleich erscheint er für Leser*innen aus der Politischen Bildung anschlussfähig, die Anregungen und Handlungsmöglichkeiten aus der inklusiven Bildung zum Umgang mit Rechtspopulismus erhalten. Schließlich lohnt er sich auch für Pädagog*innen, politische Entscheidungsträger*innen und alle, die sich für die Schnittmenge und Verknüpfung von inklusiver Bildung, Demokratie/Politik und Gesellschaft interessieren und sich mit der Kontroversität der Thematik auseinandersetzen möchten. Der Band schließt damit eine im Diskurs längst überfällige und doch weitgehend unbeleuchtete Lücke, indem er einerseits für die Grenzen der Kontroversität sensibilisiert und andererseits die Notwendigkeit aufzeigt, kontroverse Diskussionen zu entwickeln, ohne antidemokratische Positionen als gleichberechtigte Positionen anzuerkennen und ohne, dass ein von Ausgrenzung und Abwertung geprägtes (Unterrichts-, Schul-, Gesellschafts-)Klima entsteht - darin liegt die zentrale Stärke des Bandes.

[1] Köpfer, A., Powell, J. J., & Zahnd, R. (2021). Entwicklungslinien internationaler und komparativer Inklusionsforschung. In A. Köpfer, J. J. W. Powell & R. Zahnd (Hrsg.), Handbuch Inklusion international (S. 11–45). Barbara Budrich.
[2] Kroworsch, S. (2017). Das Recht auf inklusive Bildung: Allgemeine Bemerkung Nr. 4 des UN-Ausschusses für die Recht von Menschen mit Behinderungen. Deutsches Institut für Menschenrechte, Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention. In A. Besand, T. Hölzel & D. Jugel (2018). Inklusives politisches Lernen im Stadion. Politische Bildung mit unbekanntem Team und offenem Spielverlauf. C. Adelmann.
[3] Zick, A., Küpper, B., & Mokros, N. (2023). Die Distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Dietz.
[4] Decker, F. (2018). Was ist Rechtspopulismus? Politische Vierteljahresschrift, 59(3), 63–67.
[5] Wunsch, R., & Monecke, I. (2022). Pädagogischer Populismus. Beltz Juventa.
[6] Feuser, G. (1989). Allgemeine integrative Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik. Behindertenpädagogik, 28(1), 4–48.
[7] Besand, A., Hölzel, T., & Jugel, D. (2018). Inklusives politisches Lernen im Stadion. Politische Bildung mit unbekanntem Team und offenem Spielverlauf. C. Adelmann.
Juliana Gras (Weingarten)
Zur Zitierweise der Rezension:
Juliana Gras: Rezension von: Andreas, Hinz / David, Jahr / Robert, Kruschel (Hg.): Inklusive Bildung und Rechtspopulismus, Grundlagen, Analysen und Handlungsmöglichkeiten. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377997495.html