EWR 9 (2010), Nr. 5 (September/Oktober)

Axel Gehrmann / Uwe Hericks / Manfred Lüders (Hrsg.)
Bildungsstandards und Kompetenzmodelle
Beiträge zu einer aktuellen Diskussion über Schule, Lehrerbildung und Unterricht
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010
(262 S.; ISBN 978-3-7815-1733-2; 18,90 EUR)
Bildungsstandards und Kompetenzmodelle Seit dem mittelmäßigen Abschneiden deutscher Schüler in internationalen Schulleistungsstudien sind die Themenfelder Kompetenzen und Standards verstärkt in die bildungswissenschaftliche sowie bildungspolitische Diskussion getreten: Die KMK hat die Standards für den mittleren Schulabschluss sowie die Standards für die Lehrerbildung verabschiedet. Die einzelnen Bundesländer erarbeiteten neue Rahmenrichtlinien/Kerncurricula etc., in denen Standards auf verschiedene Art und Weise aufgenommen oder gänzlich von der KMK übernommen wurden. Lehrer an den einzelnen Schulen sind aufgefordert, schulinterne Curricula zu entwickeln oder bestehende zu ändern und so Bildungsstandards in die Unterrichtsplanung zu integrieren. Neben diesen bildungspolitischen Implementationsversuchen wächst die erziehungswissenschaftliche sowie fachdidaktische Forschung zum Themenbereich Kompetenzen/Standards enorm. Für all jene, die entweder einen Einstieg in den Diskurs oder eine Übersicht über ausgewählte Forschungsvorhaben dazu erhalten wollen, bietet das hier zu rezensierende Buch eine große Hilfe.

Der vorliegende Band bildet die Beiträge einer gleichnamigen Tagung der Kommission Professionsforschung und Lehrerbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft an der PH Heidelberg ab. Bereits der Titel zeigt die inhaltliche Dreiteilung auf, die sich auch im Inhaltsverzeichnis wiederfindet: Jeweils mehrere Beiträge werden unter folgenden Überschriften zusammengefasst: 1. Standards als Steuerungsinstrumente im Schulsystem, 2. Standards im Kontext der Professionalisierung des Lehrerberufs und 3. Standards im fachbezogenen Unterricht. Diese Dreiteilung bietet eine schnelle Orientierung für Leser mit unterschiedlichen professionellen Hintergründen und Erkenntnisinteressen. Erfreulich ist, dass innerhalb der Tagung dem Anspruch Rechnung getragen wurde, gemeinsame Diskussionen zwischen Forscherinnen und Forschern aus der pädagogischen Psychologie, der Erziehungswissenschaft sowie verschiedenster Fachdidaktiken zu ermöglichen, was auch im Tagungsband seine Entsprechung findet. Im Folgenden werde ich ausschnitthaft auf einzelne Beiträge aus jedem der genannten drei Bereiche eingehen.

Im ersten Beitrag des Sammelbandes zeigen Sigrid Zeitler, Olaf Köller und Bernd Tesch auf, was unter Standards zu verstehen ist, wie sie formuliert sind und welche Ziele mit ihnen verfolgt werden. Sie grenzen Standards vom Kompetenzbegriff ab und rezipieren die Weinertsche Kompetenzdefinition [1]. An einem Beispiel aus dem Mathematik-Elementarbereich zeichnen die Autoren die empirische Entwicklung eines Kompetenzstufenmodells nach und gehen in ihrem letzten Unterkapitel der Frage nach, inwieweit sich durch die Implementierung von Bildungsstandards Unterricht verändert. Auf der Grundlage eigener empirisch-qualitativer Unterrichtsforschung weisen sie darauf hin, dass die mit der Einführung der Bildungsstandards intendierte Freiheit in der inhaltlichen und methodischen Unterrichtsgestaltung von den Lehrerkollegien nicht immer aufgenommen wird.

An die Frage nach den Auswirkungen von Bildungsstandards auf den Unterricht schließt Walter Herzog mit seinem Beitrag an. Er geht auf Studien aus den USA ein, wo Standards bereits in den 1980er-Jahren eingeführt wurden und umreißt danach Entwicklungen im deutschsprachigen Raum. Teaching-to-the-test, eine Wirkung standardbasierter Schulreform in den USA, äußere sich in der didaktischen und methodischen Verengung der Unterrichtsgestaltung: Aufgabenformate aus zentralen Vergleichstests werden im Unterricht übernommen und anstatt Kompetenzen im Weinertschen Sinne zu fördern, wird vermehrt Wissen „eingepaukt“.

Herzog dokumentiert das Bestreben, nach dem für die Steuerung des deutschen Bildungswesens vor allem Kompetenzmodelle entwickelt werden sollen, die die Stufen einer Kompetenzentwicklung abbilden. Bislang gibt es solche Modelle kaum. Herzog sieht in ihnen gleichwohl die Gefahr, dass sie den Unterricht, ähnlich wie Vergleichstests in den USA, didaktisch einschränken. In welchem Grad und unter welchen Umständen es zu einer didaktischen Verengung kommt, diskutiert Herzog leider nicht. Für eine weiter führende Diskussion wäre dies aber wichtig, denn: Wenn Kompetenzmodelle aufzeigen, was Schüler für welche Kompetenzstufe können müssen, ist es bis zur Unterrichtsgestaltung noch ein langer Weg, den wiederum Lehrer gehen können (müssen).

Der zweite Teil des Sammelbandes thematisiert in verschiedenen Beiträgen, wie die Kompetenzentwicklung von Lehramtsstudenten optimiert und wie Ergebnisse von Ausbildungsprozessen gemessen werden können. Margarete Dieck, Diemut Kucharz, Oliver Küster, Katharina Müller, Tanja Rosenberger und Stefanie Schnebel stellen hier ihre Untersuchungen zur Kompetenzentwicklung von Lehramtsstudierenden in verlängerten Praxisphasen vor. An der PH Weingarten wurde in einem Modellversuch ein Praxisjahr für Lehramtsstudenten eingerichtet. Ziele dabei waren, Theorie und Praxis stärker miteinander zu verbinden sowie eine Kooperation zwischen Hochschullehrenden, Seminarleitern sowie Lehrern an der Schule zu ermöglichen.

Leider wurde das Erreichen dieser Ziele, soweit die Autoren in ihrem Artikel angeben, nicht überprüft. Vielmehr wurden im Modellversuch die Entwicklung der professionsspezifischen Kompetenzen sowie die Entwicklung des fachdidaktischen Planungsdenkens der Studierenden evaluiert. Daneben wurden Beratungsgespräche zwischen den Mentoren an den Schulen und den Lehramtspraktikanten analysiert. In ihrem Beitrag legen die Autoren ihre Definition des Kompetenzbegriffs dar, gehen danach kurz auf die Stichprobe ein und erläutern etwas genauer den Versuchsaufbau: Sie haben in zwei Experimentalgruppen (Studenten/innen, die ein Praxisjahr absolvierten) sowie in zwei Kontrollgruppen (Studenten/innen, die studienbegleitende Schulpraktika absolvierten) Daten erhoben.

Im Vergleich zur Kontrollgruppe wirkte das Praxisjahr positiv auf die Entwicklung des fachdidaktischen Planungsdenkens. So zeigten die „Praxisjahrteilnehmer/innen eine größere Bandbreite an didaktischen Überlegungen zum Unterricht und dessen Planung sowie eine bewusste Konzentration auf die im Unterricht ablaufenden Schülerprozesse, die für deren Lernen fundamental sind“ (108). Des Weiteren zeigen die Autoren, dass vor allem die Unterrichtsnachbesprechungen zwischen Mentoren und Praktikanten in Hinblick auf eine stärkere Verzahnung der Unterrichtsreflexion mit theoretischem Wissen zu verbessern wäre. Wie eine solche Theorie-Praxis-Verbindung praktisch aussehen kann, bleibt bislang offen. Die Zusammenarbeit zwischen Hochschule, Seminar und Lehrern wird in dem von Dieck et.al. vorgestellten Projekt nicht analysiert. Dies wäre jedoch eine notwendige Konsequenz, um Möglichkeiten eines inhaltsvollen Kooperierens aufzeigen zu können.

Die Entwicklung der Reflexionskompetenz von Lehramtsstudierenden während des Praktikums steht im Zentrum des Beitrags von Tobias Leonhard, Norbert Nagel, Thomas Rihm, Veronika Strittmatter-Haubold und Petra Wengert-Richter. Unter Reflexionskompetenz verstehen die Autoren die „Fähigkeit, in der Vergegenwärtigung typischer Situationen des schulischen Alltags durch aktive Distanzierung eine eigene Bewertung und Haltung sowie Handlungsperspektiven auf der Basis eigener Erfahrung in Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Wissensbeständen argumentativ zu entwickeln und zu artikulieren“ (114). Sie stellen das von Ihnen entwickelte Instrumentarium zur Messung von Reflexionskompetenz vor und gehen kurz auf die Auswertungsmethoden der erhobenen Daten ein.

In der Hauptsache wurden Reflexionsbögen genutzt, in denen unterrichtliche Situationen entweder beschrieben oder als Fotografie dargestellt werden, zu denen sich die an der Datenerhebung teilnehmenden Studenten unter spezifischen Fragestellungen äußern sollten. Die Reflexionsbögen wurden bislang in zwei an der PH Heidelberg verschieden organisierten Schulpraktika eingesetzt. Die mit Hilfe des Reflexionsbogens erhobenen schriftlichen Äußerungen sollen nach Reflexionstiefe sowie nach Reflexionsbreite im Vergleich der beiden Praktikaformate ausgewertet werden. Hierbei wird der Frage nach der Wirkung der Praktika mit ihren verschiedenen Begleitformaten auf die Ausbildung der Reflexionskompetenz bei Lehramtsstudierenden nachgegangen. Die Darstellungen von Leonhard et.al. machen neugierig auf die in diesem Forschungsprojekt gewonnenen Ergebnisse, die im Sammelband noch nicht vorgestellt werden konnten.

Die Beiträge im dritten und letzten Teil des Buches beziehen sich auf die Unterrichtsebene in der Institution Schule. In einigen Artikeln steht die Kompetenzentwicklung der Schüler im Fachunterricht und deren Messbarkeit im Mittelpunkt. Hierbei werden die Fächer bzw. Fachbereiche Geschichte, Naturwissenschaften, Sport, Musik und evangelische Religion betrachtet. Deutlich wird hierbei, dass jedes Fach auch zur allgemeinen Entwicklung von Kompetenzmodellen beitragen kann. Neben dem Schüler selbst hat unter anderem der unterrichtende Lehrer einen Einfluss auf die Kompetenzentwicklung der Schüler.

Marc Kleinknecht und Thorsten Bohl beschäftigen sich aus diesem Grund mit der Aufgabenkultur im Hauptschulunterricht. Unter Aufgabenkultur verstehen sie „die Art und Weise der Aufgabengestaltung und des aufgabenbezogenen, methodischen Handelns in Phasen der Aufgabeneinführung, der Begleitung von Arbeitsphasen und der Aufgabenbesprechung“ (251). In diesem Verständnis stehen nicht allein durch die Lehrkraft gestellte Arbeitsaufträge im Mittelpunkt. Vielmehr wird Aufgabenkultur weiter, eher im Sinne eines lernförderlichen Handelns der Lehrkraft im Unterricht, gefasst.

In ihrem Forschungsprojekt an der Universität Tübingen wurden 40 Unterrichtsstunden an 39 Hauptschulen in vier verschiedenen Unterrichtsfächern videographiert. Zusätzlich fanden nach den videographierten Stunden Leitfadeninterviews mit den Lehrkräften zur aufgenommenen Unterrichtsstunde sowie zu den allgemeinen Einstellungen des Lehrers/der Lehrerin statt. Um nun Aussagen zur Aufgabenkultur machen zu können, wurde das Datenmaterial nach zwei Dimensionen hin analysiert: der kognitiven Aktivierung sowie der Strukturierung.

Dabei kommen die Autoren unter anderem zu dem Ergebnis, dass überwiegend Aufgaben eingesetzt werden, die auf Reproduktion bzw. auf Wissenstransfer setzen. Problemlöseaufgaben kommen dagegen seltener zur Anwendung. Die Hauptphase im analysierten Hauptschulunterricht ist die Schülerarbeit. Sie nimmt im Unterricht mehr Raum ein als Einführungsphasen und gemeinsame Besprechungen. Für die Auswahl der Arbeitsaufgaben antizipieren die Lehrkräfte vor allem, so die Autoren, die von den Schülern benötigte Bearbeitungszeit und weniger adaptive Maßnahmen und Strukturierungsnotwendigkeiten. Die Ergebnisse von Kleinknecht und Bohl führen in aller Deutlichkeit vor Augen, dass zum Thema Kompetenzentwicklung der Schüler immer auch die Entwicklung der Unterrichtskompetenz der Lehrer berücksichtigt werden muss. Schüler müssen Lernangebote selbst aufgreifen und bearbeiten, doch Lehrer müssen Lernangebote bereitstellen, die ihre Schüler weder unter- noch über-, sondern herausfordern.

Meiner Ansicht nach ist die wichtigste Erkenntnis des Buches darin zu sehen, dass eine Zusammenarbeit von Professions- und Unterrichtsforschung, von Erziehungswissenschaft, pädagogischer Psychologie und Fachdidaktiken sowie eine Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis (z.B. im Sinne von praxisbegleitender Forschung) unbedingt notwendig ist, wenn Kompetenzmodelle nicht nur entwickelt und Kompetenzen von Schülern gemessen, sondern wenn die Kompetenzen der Schüler und Lehrer selbst gefördert werden sollen. Insofern ist der Sammelband nicht nur eine inhaltlich umfassende Informationsgrundlage zum Diskurs über Kompetenzen und Bildungsstandards, sondern er zeigt auch mögliche Entwicklungsrichtungen der empirischen Forschung auf.

[1] Weinert, F. E. (2001): Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Ders. (Hrsg.): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim, Basel: Beltz, 27-28.
Elke Kurth-Buchholz (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elke Kurth-Buchholz: Rezension von: Gehrmann, Axel / Hericks, Uwe / Lüders, Manfred (Hg.): Bildungsstandards und Kompetenzmodelle, Beiträge zu einer aktuellen Diskussion über Schule, Lehrerbildung und Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 9 (2010), Nr. 5 (Veröffentlicht am 13.10.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151733.html