EWR 13 (2014), Nr. 2 (MĂ€rz/April)

Timo Nolle
Psychosoziale Basiskompetenzen und Lernorientierung bei Lehramtsstudierenden in der Eingangsphase des Lehramtsstudiums
Eine Untersuchung im Rahmen des Studienelements „Psychosoziale Basiskompetenzen fĂŒr den Lehrerberuf“ an der UniversitĂ€t Kassel
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013
(214 S.; ISBN 978-3-7815-1896-4; 32,00 EUR)
Psychosoziale Basiskompetenzen und Lernorientierung bei Lehramtsstudierenden in der Eingangsphase des Lehramtsstudiums Nicht alle Personen, die ein Lehramtsstudium beginnen, verfĂŒgen ĂŒber diejenigen motivationalen und persönlichen Voraussetzungen, die sie fĂŒr eine erfolgreiche BewĂ€ltigung ihrer zukĂŒnftigen beruflichen Anforderungen und Belastungen brauchen. Dennoch existieren im deutschsprachigen Raum kaum akademische Angebote, die die psychosozialen Anteile und Anforderungen des Lehrerberufes thematisieren und psychosoziale Ressourcen und Kompetenzen von Lehramtsstudierenden stĂ€rken. In diesem Zusammenhang stellt Timo Nolle in seiner 2013 erschienenen Dissertation zentrale Ergebnisse einer formativen Evaluation des Kompaktseminares „Psychosoziale Basiskompetenzen fĂŒr den Lehrerberuf“ an der UniversitĂ€t Kassel vor. Im Rahmen eines Mixed Methods Designs versucht der Autor, an einer Stichprobe von 417 Lehramtsstudierenden die Frage zu beantworten, ob und welche Studierenden dieses Seminar konstruktiv fĂŒr ihre eigene Kompetenzentwicklung nutzen konnten und welchen Beitrag das Merkmal Lernorientierung fĂŒr die Analyse der persönlichen Voraussetzungen Lehramtsstudierender beisteuern kann.

Die theoretische Ausarbeitung ist sehr ausfĂŒhrlich angelegt mit dem Ziel, zunĂ€chst ein Konstrukt einzufĂŒhren, welches die verschiedenen Forschungsbefunde zur Lern- und Leistungsmotivation bĂŒndelt und eine Grundlage fĂŒr ein handhabbares Denkmodell in der Lehrerbildung darstellen kann (37). Zu diesem Zweck werden einschlĂ€gige Professionalisierungstheorien zu Berufsaufgaben von Lehrern vorgestellt (Kap. 2.1), die Entwicklung professioneller Handlungskompetenzen im Lehramtsstudium und Lehrerberuf beschrieben (Kap. 2.2) und Facetten eines etwaigen Konstrukts der Lernorientierung betrachtet (Kap. 2.3). Dieses versteht Nolle als die spezifische Haltung einer Person gegenĂŒber ihren Entwicklungsmöglichkeiten und -zielen. Die Lernorientierung umfasse dementsprechend die Annahme einer Person, dass ihre Persönlichkeit verĂ€nderbar sei und dass sich ihre Kompetenzen, Begabungen und Intelligenz steigern ließen (37). Die Operationalisierung dieses Konstrukts im weiteren Verlauf der Untersuchung erscheint allerdings wenig inhaltsvalide, orientiert sich die Studie doch vornehmlich an der individuellen EinschĂ€tzung des persönlichen Nutzens des Kompaktseminares fĂŒr die eigene Lernentwicklung und nicht an der angefĂŒhrten Definition.

Der zweite Teil des Theorieteils beschĂ€ftigt sich mit psychosozialen Basiskompetenzen als Handlungsvoraussetzung fĂŒr Lehrpersonen (38). In diesem Zusammenhang werden unterschiedliche Theorien und Befunde der Lehrerbelastungsforschung (Kap. 2.6.), PrĂ€diktoren des Studien- und Berufserfolges von Lehramtsstudierenden (Kap. 2.7) sowie die Konzeption des Projekts und Seminarmodells „Psychosoziale Basiskompetenzen fĂŒr den Lehrerberuf“ vorgestellt (Kap. 3). Damit einhergehend beschreibt Nolle das diagnostische Vorgehen der Seminarleiter sowie den Aufbau des Seminares und die darin verwendeten Feedback- und GesprĂ€chsmethoden. Zudem stellt er BezĂŒge zu vergleichbaren Angeboten im deutschsprachigen Raum her.

Den Kern der sich anschließenden Darstellung seiner Untersuchung bilden drei Fragen (82f):

(1) Durch welche Determinanten fĂŒr Studien- und Berufserfolg lassen sich Studierendengruppen charakterisieren, die sich in ihren Voraussetzungen fĂŒr den Erwerb und die Weiterentwicklung psychosozialer Kompetenzen (psychosoziales Kompetenzniveau und Lernorientierung) unterscheiden?

(2) Welchen Beitrag kann das Merkmal Lernorientierung bei der Prognose von Studien- und Berufserfolg im Lehramtsstudium liefern?

(3) Welche individuellen Erfahrungsketten wĂ€hrend des Kompaktseminares „Psychosoziale Basiskompetenzen fĂŒr den Lehrerberuf“ fĂŒhren im Einzelfall zu dem als gering respektive hoch wahrgenommenen persönlichen Nutzen fĂŒr die eigene Lernentwicklung?

Schwerpunkt der gesamten Untersuchung sind die Konstruktion und ein anschließender deskriptiver Vergleich von vier Studierendengruppen, die sich in den psychosozialen und lernorientierten Voraussetzungen fĂŒr den Erwerb von psychosozialen Kompetenzen im Rahmen der Lehramtsausbildung unterscheiden (Studierende mit: (1) hoher psychosozialer Kompetenz und hoher Lernorientierung; (2) niedriger psychosozialer Kompetenz und hoher Lernorientierung; (3) hoher psychosozialer Kompetenz und niedriger Lernorientierung; (4) niedriger psychosozialer Kompetenz und niedriger Lernorientierung). Hierzu wurden anhand eines standardisierten Beobachtungsschemas das Verhalten und die gezeigten FĂ€higkeiten der Studierenden im Umgang mit den unterschiedlichen Anforderungssituationen des Kompaktseminares durch die Seminarleiter dokumentiert. Anschließend wurde ein aggregierter psychosozialer Kompetenzindex berechnet. Die psychometrische BegrĂŒndung dieses aggregierten Kompetenzindexes bleibt jedoch unklar. So gibt Nolle zunĂ€chst an, dass hier der Quotient aus den Dokumentationsvermerken fĂŒr problematisches und unproblematisches Verhalten gebildet werde; auf der gleichen Seite berichtet der Autor jedoch, dass „durch eine bestimmte Berechnungsregel“ ein vierstufiger Index gebildet wurde und dass bei „Überschreitung eines bestimmten kritischen Wertes“ das VerhĂ€ltnis von problematischem zu unproblematischem Verhalten einem bestimmten Index zugeordnet wurde. Weder die Berechnungsregel noch der kritische Wert werden dem Leser in irgendeiner Form mitgeteilt (91).

DarĂŒber hinaus wurde die Lernorientierung durch eine Befragung der Studierenden hinsichtlich des selbsteingeschĂ€tzten Nutzens des Kompaktseminares fĂŒr die eigene Lernentwicklung erhoben (83). VerfĂŒgbare Lernbiographien und Seminarreflexionen der Studierenden wurden ferner inhaltsanalytisch in die Studie einbezogen. Zudem wurden auch Determinanten fĂŒr Studien- und Berufserfolg im Lehramtsstudium in Kooperation mit dem Forschungsprojekt STUVE (Studienerfolg- und Verlauf von Kasseler Lehramtsstudenten) zu Beginn des Studiums erhoben.

Warum sich der Autor im folgenden Ergebnisteil keiner Clusteranalyse bedient, bleibt offen. Stattdessen fĂŒhrt Nolle ĂŒber die unimodale, extremlinkssteile Verteilung der psychosozialen Kompetenz einen Mediansplit durch, was dazu fĂŒhrt, dass bereits mittlere SchwĂ€chen in nur einer einzigen Kompetenzfacette bzw. leichte SchwĂ€chen in zwei Kompetenzfacetten extrem hochgewichtet werden. In der Folge entstehen damit zwei kĂŒnstlich dichotomisierte psychosoziale Kompetenztypen, wobei die Gruppe der „Hochkompetenten“ noch homogen erscheinen mag, die Gruppe der „Niedrigkompetenten“ jedoch wenige psychosoziale Gemeinsamkeiten aufweisen sollte. Um damit einhergehend ĂŒber die dichotomisierten Variablen der Lernorientierung und psychosozialen Kompetenz vier gleich große Studierendengruppen zu bilden, verschiebt der Autor die Trennwerte der Gruppenzuordnung so, dass GrenzfĂ€lle in die jeweils kleinere Gruppe fallen. Wie der Autor dabei konkret vorgegangen ist, bleibt allerdings offen. Zumindest die Ergebnisse von Tabelle 33 (112) zeigen, dass eine Ungleichbesetzung der Gruppen vorliegt, was eigentlich vermieden werden sollte. Die zur Gruppenbildung gehörende Abbildung ist nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Abbildungsunterschrift nicht zu interpretieren. Inwiefern dieses Vorgehen zu „greifbaren Typen“ fĂŒhrt, die ĂŒber das Forschungsinteresse dieser Arbeit hinaus auch im universitĂ€ren Lehrbetrieb Praxisrelevanz erhalten könnten, ist fraglich (104). Das hier genutzte Vorgehen fĂŒhrt gegebenenfalls zu einer wenig natĂŒrlichen VarianzschĂ€tzung und somit zu einer Aussage ĂŒber eine nicht natĂŒrlich existente Population.

Es bleibt darĂŒber hinaus im statistischen Teil (Kap. 4.3) unklar, weshalb der Autor varianzanalytisch vorgeht, aber dennoch fĂŒr den Einzelvergleich paarweise t- Test nutzt, ohne die Inflation des Alpha- Fehlers zu berĂŒcksichtigen. Eine Vielzahl deskriptiver Tabellen bezieht sich zudem nicht nur auf unterschiedliche StichprobengrĂ¶ĂŸen, sondern lĂ€sst auch ĂŒber die Anzahl der berichteten Personen in den einzelnen Gruppen nicht erkennen, wie viele und vor allem welche Studierende ĂŒberhaupt am Ende in die Analysen einbezogen wurden. Wie die Studierenden ferner am Anfang des ersten Semesters bereits eine valide SchĂ€tzung ihrer Zufriedenheit mit den Inhalten des Studiums geben können, ist durchaus fragwĂŒrdig.

Um seine Ergebnisse mit „Leben zu fĂŒllen“ (178) und am Einzelfall zu kontrastieren, bedient sich Nolle in einem zweiten Schritt eines inhaltanalytischen Vorgehens (Kap. 4). Hierzu beschreibt der Autor die Ziele sowie die Datenbasis (Kap. 4.5), das methodische Vorgehen (Kap. 4.6) und die Ergebnisse (4.7) seiner qualitativen Inhaltsanalyse von fĂŒnf Seminarreflexionen und diskutiert psychodynamische und entwicklungspsychologische ErklĂ€rungsansĂ€tze seiner vorgenommenen Fallvergleiche und -kontrastierungen. Dabei weist Nolle auf die begrenzte Aussagekraft der vorliegenden Texte und Dokumentationen hin (179). Die abschließende Diskussion (Kap. 5) widmet sich insbesondere der nochmaligen Beschreibung der gebildeten Studierendentypen. Nolle weist auch in diesem Zusammenhang auf die Bedenklichkeit seines methodischen Vorgehens hin, rechtfertigt dieses jedoch mit dem Hinweis darauf, dass es nicht unĂŒblich sei (191). Die anschließenden praktischen Implikationen (Kap. 5.5) erörtern eher affirmativ Möglichkeiten und Nutzen der Ausweitung des Seminars „Psychosoziale Basiskompetenzen fĂŒr den Lehrerberuf“ auf andere universitĂ€re Standorte.

Abgesehen von der ZirkularitĂ€t der empirischen Untersuchung schafft Nolle mit seiner Arbeit eine durchaus interessante Verschiebung des Blickpunktes der Lehrerbelastungsforschung und liefert einen lohnenswerten Ansatzpunkt fĂŒr die Gesundheitsförderung von Lehrerinnen und Lehrern, die bereits im Studium beginnen und an psychosozialen Basiskompetenzen und Ressourcen der Studierenden ansetzen und deren Eignungsvoraussetzungen fĂŒr den Lehrerberuf prĂŒfen muss.
Christoph SchĂŒle (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christoph SchĂŒle: Rezension von: Nolle, Timo: Psychosoziale Basiskompetenzen und Lernorientierung bei Lehramtsstudierenden in der Eingangsphase des Lehramtsstudiums, Eine Untersuchung im Rahmen des Studienelements „Psychosoziale Basiskompetenzen fĂŒr den Lehrerberuf“ an der UniversitĂ€t Kassel. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 2 (Veröffentlicht am 26.03.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151896.html