EWR 16 (2017), Nr. 3 (Mai/Juni)

Karsten Kenklies / Maximilian Waldmann (Hrsg.)
Queer Pädagogik
Annäherungen an ein Forschungsfeld
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017
(238 Seiten; ISBN 978-3-7815-2137-7; 18,90 EUR)
Queer Pädagogik Der englische Begriff queer erfreut sich schon seit einer längeren Zeit auch im deutschsprachigen Raum einer enormen Beliebtheit. Ob in gegenwärtigen Theater- oder Filmproduktionen, in der Literatur, Musik oder in diversen Unterhaltungsformaten, ja sogar im Feuilleton und in verschiedenen Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften: das mit dem Versprechen der Auflösung und Umdeutung von Kategorien wie Gender, Sex, Identität und sexuellem Begehren einhergehende Konzept ist keine Seltenheit mehr. In der Erziehungswissenschaft jedoch verhält es sich anders. Zwar ist es kaum noch möglich, mit dem gegenwärtigen bildungspolitischen Diskurs keine Schlagwörter wie sexuelle Vielfalt, Diversität oder Gender zu assoziieren. Vertreten durch prominente Arbeiten – wie bspw. von Elisabeth Tuider, Jutta Hartmann oder Annedore Prengel – konnte innerhalb der Erziehungswissenschaft eine Fokussierung auf die genannten Themen Einzug erhalten [1]. Als eigenständiges Forschungsfeld jedoch ist eine Queere Pädagogik hierzulande kaum in Erscheinung getreten; und das betrifft sowohl ihren Gegenstand sowie ihre methodische Ausgestaltung und Reflexion. Das zumindest behaupten die Herausgeber des Sammelbandes „Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld“. Karsten Kenklies und Maximilian Waldmann – und mit diesem Befund, als dessen Gegenentwurf sich die Beiträge der vorliegenden Publikation verstehen, scheinen sie durchaus Recht zu behalten.

In ihrem knappen Vorwort skizzieren Kenklies und Waldmann neben den unterschiedlichen Ausrichtungen der einzelnen Aufsätze des Bandes ihr generelles Anliegen: Zur Frage steht, was eine Queere Pädagogik überhaupt im Gegensatz zu möglicherweise sinnverwandten Forschungsansätzen auszeichne und wie ein so neu eröffnetes Forschungsfeld abgesteckt werden könne. Auf die Frage nach den Markierungen eines solchen Forschungsbereichs geben im Folgenden sechs verschiedene Beiträge eine Antwort. Gerahmt werden diese Versuche von einer historischen und systematischen Einführung in den Begriff queer und einer Abschlussreflexionen aller Texte, die die Probleme, Dilemmata und Potentiale einer Queeren Pädagogik akzentuiert. Mit dieser inhaltlichen Dreiteilung und Verzahnung versuchen beide Herausgeber auch dem gerecht zu werden, was sie selbst unter queerem Denken als Reflexionsbewegung verstehen: „Es geht um die Eröffnung eines Gesprächs, nicht um seine Schließung.“ (8)

In ihrem umfangreichen Aufsatz über den Begriff, die Geschichte und die Politik von queer formuliert Franziska Förster eine materialreiche und stark informierende Einführung in die Zusammenhänge der Theoriefigur. Das Ergebnis dieser Untersuchung fördert einen Begriff von queerem Denken zutage, der ebenso umfassend wie mehrdeutig gestaltet ist. In aller Kürze seien hier einige Grundmerkmale zitiert: „Queeres Denken versucht zu zeigen, welche Vorannahmen unserem Denken zugrunde liegen. Wer queer denkt, verlässt sich nicht auf bereits Gedachtes. [...] Als verunsicherndes Denken vermutet Queer in den Kategorien, Binaritäten und Setzungen, die in den meisten Kontexten als Grundlagen vorausgesetzt werden, immer schon Machtwirkungen. [...] Queeres Denken setzt Normativität entsprechend [in Bezug auf ein ‚Ich’ oder ein ‚souveränes Subjekt’, C. B.] nicht an den Ausgangspunkt, sondern versucht, sie gerade als Resultat der Unverfügbarkeit des Subjekts zu denken. Dies bedeutet nicht, auf normative Urteile zu verzichten, sondern es bedeutet den Verzicht darauf, diese an eine letzte Wahrheit zu binden“ (52). Die hier anklingenden Dilemmata und Paradoxien – bspw. das Verhältnis von normativer Urteilsbildung und dem Verzicht auf Wahrheit oder der strukturanalogen Verfasstheit eines Subjekts, das selber unverfügbar aber weder Ausgangs- noch Endpunkt von Theorie und Praxis sein kann – werden von der Autorin selbst reflektiert und als Kontingenzversprechen und als Möglichkeit von Kritik verteidigt. Im Gegensatz dazu wären Begriffe wie Vielfalt, Toleranz, Pluralismus oder Akzeptanz dem Verdikt queeren Denkens ausgesetzt, bloß normalisierend zu wirken und ohne eine Reflexion auf soziale Ein- und Ausschlüsse zu reagieren (53).

Einen ersten Forschungszugang im Band zu diesen theoretisch fundierten Ansprüchen versucht der Beitrag von Marcus Felix zu leisten. Mittels sozialpsychologischer Grundlagenforschung untersucht er dabei die negativen Einstellungen gegenüber diskriminierten Lernenden innerhalb des schulischen Kontextes und leitet dabei mithilfe der „Kontakthypothese“ (F. Weymar, 63) Handlungsmöglichkeiten ab, die eben jene verletzenden Urteile abbauen sollen. Diskutiert und unterschiedlich bewertet werden hierbei konkrete Praktiken mit Kleingruppen im Unterricht sowie der Vorschlag Felix’, Kontakt mit betroffenen Leher/-innen oder mit externen Vertreter/-innen sog. salienter oder minorisierter Gruppen herzustellen.

Robert Pfützner wiederum widmet sich dem Thema unter einer raumtheoretischen Perspektive (H. Lefebvre / B. Werlen), die einen Bildungsbegriff (H.-J. Heydorn) mit einer pädagogischen Deutung queerer Raumaneignung miteinander verbinden will. Einen dezidiert politischen Standpunkt nimmt Pfützner dabei in Bezug auf die Ermöglichung menschlicher Subjektivität und gesellschaftlicher Utopien ein, deren Verwirklichung er mithilfe einer schlüssigen Argumentation und facettenreichen Darlegung verschiedener Raumbegriffe an den an Heydorn orientierten bildungstheoretischen Dreischritt von Unterwerfung, Aneignung und Verfügung knüpft.

Nadezda Krasniqi und Steff Kraut weisen in ihrem Aufsatz darauf hin, dass queeres Denken, auch wenn es in pädagogischen Handlungsfeldern praktische Auswirkungen zeitigen soll, nicht ohne eine kritische Sichtweise auf spezifisch weiße und westliche Privilegien auskommen kann. Rassismus erhält da ungehinderten Einzug in queeres Denken, wo sich ohne eine intersektionale Perspektive – also ohne eine Mitbetrachtung der Kategorien race und class bspw. – auf Queer bezogen wird. Polemisch und ohne weitere Argumente spitzt Kraut in ihrem Teil des Beitrages die Ursache für diese Tendenz wir folgt zu: „Als Queer in die Wissenschaft Einzug erhielt, wurde der Begriff weiß.“ (123)

Ein vierter Forschungszugang spiegelt sich in dem Artikel von Alexander Zwickies in Form einer qualitativen Studie über die Lebenslagen älterer schwuler Männer in Verbindung mit einer Auseinandersetzung über die Herausforderungen für die soziale Altenarbeit und Altenbildung wider. Zwickies stellt überzeugend seine eigens durchgeführte Studie in Hinblick auf ihre Fragen, Ergebnisse und ihren Forschungskontext dar. Anschließend formuliert er dabei einige Reflexionsmodi für eine sich weiterentwickelnde Altenarbeit und -bildung, die mittels sog. „Idealitäts-Realitäts-Dilemmata“ älterer schwuler Männer auf den Begriff zu bringen sind (164).

Maximilian Waldmann wählt für seine Herangehensweise an den Topos einer Queeren Pädagogik einen sozialphilosophischen Streifzug durch die voraussetzungsreichen Gefilde der Leibphänomenologie (K. Meyer-Drawe / M. Merlau-Ponty) sowie der Alteritäts- und Fremdheitsforschung (B. Waldenfels/T. Bedorf). In nicht immer klar zu verfolgenden Setzungen, Motiven und Begriffsbildungen versucht Waldmann Konzepte wie eine queere pädagogische Ethik, ein queer reading und einen queeren Bildungsbegriff zu umreißen. Betont wird in fast allen theoretischen Annäherungen die Verknüpfung eines leiblichen Selbst – das sich ständig entzieht – mit einer responsiven Struktur, die sich auf etwas Unverfügbares oder Nicht-Sagbares/Nicht-Sichtbares (Fremdes) bezieht. Oder, in den Worten Waldmanns: „Dies heißt für einen bildungstheoretischen Zugang wiederum, das dieser von der Offenheit einer leiblichen Disposition gegenüber dem Unerwarteten lebt.“ (193)

Der letzte Forschungszugang wird von Karsten Kenklies in einer wissenschaftstheoretischen Ausrichtung unternommen. Eine graue Pädagogik sei nach Kenklies dazu in der Lage, die systematische Unentscheidbarkeit verschiedener Fachtermini wach zu halten: „Sie würde dort Erziehung aufdecken, wo Bildung behauptet wird; sie würde Bildung behaupten, wo Erziehung allmächtig erscheint – und sich sogar fragen, wann und ob die Behauptung der Existenz des Pädagogischen relevant und wichtig wäre. Sie bliebe in diesem Sinne ein kritisches Geschäft, das in der Unentschiedenheit das Heilsame utopischer Möglichkeiten sieht.“ (216) Queer, so die Pointe des Beitrags, sei eine solche Pädagogik deshalb, da sie, in Anschluss an den Queer-Begriff Försters, ein Bewusstsein von der historischen, konstruierten und ambigen Qualität von Kategorien und Begriffen besitze; und das schließt nach Kenklies vor allem auch Überlegungen zu einer gequeerten Allgemeinen Pädagogik sowie einer pädagogischen Ethik und Anthropologie mit ein.

Der Sammelband endet mit einem ausführlichen Reflexionsbericht zu den einzelnen Beiträgen, der sich als Diskussionsvorschlag und als Medium der Sichtbarmachung verschiedener Dilemmata und Potentiale einer Queeren Pädagogik versteht. In diesem Sinne haben die Autor/-innen Maia George Luna und Maximilian Waldmann die Aufgaben eines Rezensenten fast vollständig antizipiert. Profund und luzide werden hier die verschiedenen Aufsätze rekapituliert, auf ihre möglichen Potentiale befragt und gelegentlich auch kritisiert. Den eingangs formulierten Ansprüchen – einerseits das Theorem der Queer Pädagogik auf seine Bedeutung hin zu befragen und andererseits die unterschiedlichen Forschungszugänge im Modus eines nicht geschlossenen Gesprächs oder Diskussionsraumes zu präsentieren – wird an dieser Stelle des Buches Rechnung getragen. Adressiert werden nicht nur Leser/-innen aus der Erziehungswissenschaft, sondern auch aus Disziplinen wie der Sozialpsychologie und -philosophie, der Raumforschung oder der qualitativen Sozialforschung. Für praktisch orientierte Zwecke scheint der Band allerdings einige Probleme zu beinhalten, was sich schon anhand der Beiträge und den oftmals redundant vorgetragenen Theoriefiguren des Bandes deutlich machen lässt. Während die Beiträge von Förster, Waldmann und Kenklies auf dem unabgeschlossenen (und unabschließbaren), offenen und zugleich unverfügbaren Fixpunkt – etwa in Form von Identitäts- oder Subjektvorstellungen und normativen Ansprüchen – queeren Denkens insistieren, scheinen dagegen die Forschungszugänge von Pfützner, Marcus oder Zwickies keine Probleme mit Subjekt- oder Identitätsmarkierungen zu besitzen: Nicht verwirklichte menschliche und gesellschaftliche Möglichkeiten, die Diskriminierung sog. salienter und minorisierter Gruppen in Schulen oder die problematischen Lebenslagen älterer schwuler Männer beanspruchen einen Begründungszusammenhang, der bspw. von Leid- oder Gewalterfahrung ausgeht und somit auch über ethische Kategorien verfügt. Das ist ein klarer Vorteil gegenüber denjenigen Forschungsansätzen, die die unabschließbaren Schwierigkeiten mit einfachen Identifizierungen von Personen betonen. Pädagogische Praktiker/-innen könnten jedoch, würden sie sich auf den vorgeschlagenen Arbeitsbegriff von queer beziehen, vor lauter Entzügen, Möglichkeiten, Unverfügbarkeiten und Infragestellungen von Kategorien in eine wenig aussichtsreiche Handlungsstarre geraten. Sicher, auch diesen Zusammenhang reflektieren einzelnen Beiträge und der abschließende Diskussionsvorschlag. Doch es bleibt zu hoffen, dass die Dilemmata, Dualismen und Problemstellungen des Buches nicht einfach „an diesem Punkt innehalten“ (235), sondern dem eigenen Anspruch gemäß zu produktiven und möglicherweise sogar politischen Diskussionen beitragen, die nicht nur in skeptizistischen Reflexionsschleifen um ihre eigenen unverfügbaren und nicht zu kategorisierenden Subjektbezüge kreisen.

[1] Hier wären etwa die folgende Arbeiten zu nennen: Prengel, A.: Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik. Opladen: Leske und Budrich 1993; Hartmann, J.: Vielfältige Lebensweisen: Dynamisierungen in der Triade Geschlecht-Sexualität- Lebensform. Kritisch-dekonstruktive Perspektiven für die Pädagogik. Opladen: Leske und Budrich 2002; Timmermanns, S. / Tuider, E.: Sexualpädagogik der Vielfalt: Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit. Weinheim / München: Juventa 2008.
Clemens Bach (Jena/Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Clemens Bach: Rezension von: Kenklies, Karsten / Waldmann, Maximilian (Hg.): Queer Pädagogik, Annäherungen an ein Forschungsfeld. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152137.html