EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)

Ricarda Katrin RĂŒbben
Inklusion als berufsbiografisch bedeutsames Ereignis?
IdentitÀtsentwicklung bei erfahrenen LehrkrÀften
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(294 S.; ISBN 978-3-7815-2457-6; 46,00 EUR)
Inklusion als berufsbiografisch bedeutsames Ereignis? Im Lichte der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen stehen nicht nur Förderschulen, sondern auch Gymnasien in der Kritik und unter einem massiven Transformationsdruck. An Gymnasien kollidiert der Widerspruch zwischen einer leistungsorientierten Selektion auf der einen und einer inklusiven Förderung auf der anderen Seite in ganz besonderem Maße. Mit Blick auf die Umsetzung schulischer Inklusion werden (u.a. neben den Schulleiter:innen) vor allem Lehrer:innen als zentrale und bestimmende Akteur:innen benannt. Die jeweiligen Einstellungen oder Beliefs von Lehrpersonen gelten als eine entscheidende Gelingensbedingung fĂŒr die erfolgreiche Umsetzung schulischer Inklusion. Umgekehrt wird der Anforderung, schulische Inklusion umzusetzen, aber eine wichtige Rolle fĂŒr die persönliche Entwicklung der damit beauftragten Personen zugeschrieben. Diese ĂŒbe nĂ€mlich einen transformatorischen Einfluss auch auf das Schulpersonal aus und das ganz besonders im gymnasialen Kontext. Eine solche Transformation, insbesondere des gymnasialen Lehrer:innenhabitus durch den bildungspolitischen Inklusionsauftrag, wurde in der Diskussion um die Professionalisierung von LehrkrĂ€ften fĂŒr die Umsetzung schulischer Inklusion wiederholt postuliert [1]. In Ricarda RĂŒbbens Dissertation „Inklusion als berufsbiografisch bedeutsames Ereignis?“ widmet sich die Autorin dieser (möglichen) Entwicklung.

Im Rahmen ihrer Studie hat RĂŒbben teilnarrative Interviews mit insgesamt vierzehn Gymnasiallehrer:innen aus Nordrhein-Westfalen gefĂŒhrt, die bereits ĂŒber eine mindestens fĂŒnfjĂ€hrige Berufserfahrung verfĂŒgten (das Referendariat nicht miteingeschlossen), sich also in der mittleren Berufsphase befanden. Nach der Definition von Hericks [2] hatten sie damit (zumindest potentiell) die Entwicklungsaufgabe des Berufseinstiegs bewĂ€ltigt und eine erste berufliche IdentitĂ€t entwickelt. DarĂŒber hinaus waren alle Interviewpartner:innen seit mindestens einem Jahr im inklusiven Unterricht tĂ€tig und hatten nicht nur zielgleich, sondern auch zieldifferent unterrichtet. RĂŒbben betrachtet dies als Voraussetzung dafĂŒr, dass ĂŒberhaupt von einer persönlichen Entwicklung im Kontext der Schulreform Inklusion gesprochen werden könne (vgl. 10f). Im Rahmen ihrer Datenauswertung arbeitete RĂŒbben dann mit der biographischen Narrationsanalyse (in Anlehnung an Lucius-Hoene und Deppermann). Diese hat sie durch Elemente der Dokumentarischen Methode ergĂ€nzt. So spricht sie z.B. von ‚positiven‘ und ‚negativen Gegenhorizonten‘. Indem sie jedoch nach der IdentitĂ€t von Lehrpersonen fragt und nicht etwa nach deren ‚handlungsleitenden Orientierungsrahmen‘ oder auch Habitus, nimmt sie Abstand davon, erzĂ€hlenden Passagen die hervorgehobene Bedeutung einzurĂ€umen, wie es zumindest eine eher strenge Umsetzung der Dokumentarischen Methode impliziert.

Ausgehend von den Interviews rekonstruiert RĂŒbben insgesamt drei Typen von IdentitĂ€tskonstruktionen als berufsbiografische „BewĂ€ltigungsformen“ der Schulreform Inklusion (70, 77). Das ProfessionalitĂ€ts-, Institutions- und ProfessionalisierungsverstĂ€ndnis der interviewten Lehrer:innen betrachtet sie als zentrale Teilelemente. Als EckfĂ€lle profiliert sie drei gymnasiale Lehrer:innentypen: Neben einem stark leistungs- und sachorientierten Lehrer:innentypus (auf der Ebene des ProfessionsverstĂ€ndnisses), wie er fĂŒr den gymnasialen Kontext allgemein als charakteristisch gilt (Eckfall A), rekonstruiert RĂŒbben einen eher pĂ€dagogisch und auf Beziehungen orientierten Typus (Eckfall B), und zudem einen primĂ€r schulentwicklerisch orientierten Typus, der sich von den gymnasialen Anforderungen nach Leistungs- und Sachorientierung weitestgehend distanziert (Eckfall C). Stattdessen stellt fĂŒr diesen Typus der Abbau sozialer Ungleichheit eine wichtige Zielsetzung dar. Dem zweiten, primĂ€r pĂ€dagogisch und auf Beziehungen orientierten Typus ordnet RĂŒbben insgesamt zwölf FĂ€lle (als unterschiedliche Modifikationsformen) zu, den beiden anderen nur jeweils einen. Anders als in diesem Zusammenhang möglicherweise erwartet, charakterisiert RĂŒbben die von ihr ausgehend von den retrospektiven Interviews herausgearbeitete Entwicklung durchgĂ€ngig als eine Stabilisierung des eigenen professionellen VerstĂ€ndnisses und nicht etwa als durch die neuen Erfahrungen ausgelöste Transformation.

Bei der großen Gruppe der schĂŒler:innen- und beziehungsbezogenen Lehrer:innen (Eckfall B) rekonstruiert RĂŒbben ein berufsbiografisches Selbstkonzept, das in einer primĂ€ren Ausrichtung auf die persönlich nahe und vertrauensvolle Beziehungsgestaltung und eine pĂ€dagogisch-psychologische UnterstĂŒtzung der SchĂŒler:innen bestehe. Beides sei auch fĂŒr das ProfessionalisierungsverstĂ€ndnis der LehrkrĂ€fte zentral. Im Rahmen eines eher ‚familiaristischen‘ VerstĂ€ndnisses von Schule und einem eher elternĂ€hnlichen SelbstverstĂ€ndnis, fĂŒhlen sich diese Lehrer:innen fĂŒr die Förderung aller SchĂŒler:innen verantwortlich. Sie akzeptieren dabei zwar Selektion als förderlich (da so jede:r auf seine Weise gefördert werden könne), weisen aber kein spezifisches (bildungspolitisches) Commitment zur Schulform und Institution Gymnasium auf. Die mit der Schulreform Inklusion intendierte Transformation des Schulsystems können sie darum gut mit ihrer beruflichen IdentitĂ€t vereinbaren. RĂŒbben spricht daher von einer „pragmatisch-stabilisierenden IdentitĂ€tsentwicklung" (165-193).

Anders ist es bei Eckfall A, bei dem RĂŒbben eine fachwissenschaftliche und deutlich fachleistungsbezogene berufliche IdentitĂ€t des Interviewpartners rekonstruiert, die mit einem starken Commitment gegenĂŒber dem Gymnasium korrespondiere. Dieser Interviewpartner, der dem verbreiteten Klischees eines fĂŒr das Gymnasium typischen Lehrerhabitus entspricht, entwickelte sich vom Skeptiker zum Opponenten. Bei ihm bedeutet die von RĂŒbben konstatierte ‚StabilitĂ€t‘, dass er diesen typisch gymnasialen Habitus beibehĂ€lt. RĂŒbben konstatiert hier eine „opponierend-stabilisierende IdentitĂ€tsentwicklung" (125-165).

Eckfall C schließlich identifiziere sich selbst eher als Gesamtschullehrer und stehe der Selektionsfunktion des Schulsystems ausgesprochen kritisch gegenĂŒber. Der Auftrag, schulische Inklusion umzusetzen, komme seinem auf Weiterentwicklung von Schule und auf Bildungsgerechtigkeit ausgerichteten ProfessionsverstĂ€ndnis sogar stark entgegen. Die VerĂ€nderung der gymnasialen Strukturen werden bei ihm zu einer Quelle der Selbstzufriedenheit und des Wohlbefindens und verbessern sogar das bisherige PassungsverhĂ€ltnis. RĂŒbben charakterisiert seine IdentitĂ€tsentwicklung als „advokatorisch-stabilisierend" (193-234).

Eine solche qualitative Studie kann selbstverstĂ€ndlich keine reprĂ€sentative Abbildung der Grundgesamtheit leisten. Weiterhin ist die Vorselektion der interviewten Lehrer:innen im Blick zu behalten. Diese haben sich sowohl freiwillig fĂŒr die Übernahme inklusiven Unterrichts als auch fĂŒr die Interviewteilnahme bereit erklĂ€rt.

Es handelt sich zudem um eine sehr spezielle und tendenziell eher kleine Gruppe von Gymnasiallehrer:innen: Inklusion – und insbesondere zieldifferente Inklusion – wird an Gymnasien eher selten umgesetzt. FĂŒr die bearbeitete Fragestellung ist diese Fokussierung des Personenkreises jedoch durchaus angemessen: Schließlich geht es hier um die Frage, wie sich die Erfahrung, inklusiven und zudem zieldifferenten Unterricht selbst durchzufĂŒhren, auf die IdentitĂ€tsentwicklung gymnasialer LehrkrĂ€fte auswirkt.

Transformationen der beruflichen IdentitĂ€t von Lehrpersonen stellen sich im Rahmen der Umsetzung von Inklusion, so RĂŒbbens Ergebnis, offenbar nicht so automatisch ein, wie oftmals angenommen. Eher im Gegenteil stellte RĂŒbben fest, dass die persönlichen Erfahrungen mit schulischer Inklusion jeweils zu einer Stabilisierung des eigenen professionellen SelbstverstĂ€ndnisses fĂŒhre. Mit Blick auf die Diskussion um eine Professionalisierung von LehrkrĂ€ften fĂŒr (schulische) Inklusion wĂ€re eine Vertiefung der Auseinandersetzung des unterschiedlichen PassungsverhĂ€ltnisses variierender Lehrer:innentypen (gerade an Gymnasien) im Kontext von Inklusion und den sich daraus ergebenden jeweiligen EinschrĂ€nkungen und Potentialen, spezifischen Rekontextualisierungen und möglichen Transformationen sicherlich gewinnbringend.

Insgesamt handelt es sich bei RĂŒbbens Dissertation um eine lohnenswerte, ĂŒbersichtliche, gut nachvollziehbare und sehr gut lesbare LektĂŒre und um einen interessanten Diskussionsbeitrag in der Debatte um die Professionalisierung fĂŒr schulische Inklusion. Dies gilt neben dem hier dargestellten empirischen Teil ihrer Arbeit auch fĂŒr die theoretische EinfĂŒhrung, in der sich RĂŒbben der Schulreform Inklusion (insbesondere in Nordrhein-Westfalen), den Konzepten von IdentitĂ€t (generell) sowie beruflicher IdentitĂ€t – gerade in Relation zum Konzept Habitus – sowie der Relevanz von bildungspolitischen Ereignissen fĂŒr die berufliche IdentitĂ€t widmet.

[1] Gehde, H., Köhler, S.-M., & Heinrich, M. (2016). Gymnasialer Lehrerhabitus unter Transformationsdruck: Rekonstruktionen zur Inklusion. MV-Verlag.
[2] Hericks, U. (2006). Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe: Rekonstruktion von Berufseingangsphasen von Lehrer:innen und Lehrern. Wiesbaden: Springer VS.
Meike Penkwitt (Aachen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Meike Penkwitt: Rezension von: RĂŒbben, Ricarda Katrin: Inklusion als berufsbiografisch bedeutsames Ereignis?, IdentitĂ€tsentwicklung bei erfahrenen LehrkrĂ€ften. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152457.html