EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)

Eva Matthes / Stefan T. Siegel / Thomas Heiland (Hrsg.)
Lehrvideos – das Bildungsmedium der Zukunft?
Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021
(271 S.; ISBN 978-3-7815-2465-1; 36,00 EUR)
Lehrvideos – das Bildungsmedium der Zukunft? ErklĂ€rvideos und YouTube haben in den letzten Jahren besonders bei Kindern und Jugendlichen an Bedeutung gewonnen, dies zeigen aktuelle reprĂ€sentative Studien wie ‚KIM‘, ‚JIM‘ oder ‚Jugend / YouTube / Kulturelle Bildung‘. Auch im schulischen Bereich wird ErklĂ€rvideos zumeist ein hohes Potenzial nachgesagt, aber es regen sich auch kritische Stimmen, die sich hĂ€ufig auf die (noch) nicht ausreichend belegte Lernwirksamkeit von ErklĂ€rvideos oder die kommerziellen Interessen von Videoportalen wie YouTube beziehen. In jedem Fall erreichen vereinzelte Lernvideos geradezu phĂ€nomenale Klickzahlen bis in den Millionenbereich, was ihre große PopularitĂ€t unterstreicht.

Die Herausgeber:innen des Sammelbandes gehen daher der Frage nach, ob es sich beim Lehrvideo um das Bildungsmedium der Zukunft handelt. Widmet man sich diesem Bildungsmedium im Detail, stellt man allerdings rasch fest, dass viele Fragen bezĂŒglich des Lehrvideos noch offen sind. Darunter findet sich auch die grundsĂ€tzliche Frage, wie sich ErklĂ€rvideos / Lernvideos / Lehrvideos unterscheiden bzw. definieren. Der Klappentext des Sammelbandes resĂŒmiert die bisher noch nicht hinreichend beantworteten Fragen: (1) Was genau sind Lehrvideos? (2) Was sollten wir ĂŒber die Anbietenden dieser Bildungsmedien wissen? (3) Was sind QualitĂ€tskriterien fĂŒr Lehrvideos? (4) Welche Chancen, Grenzen, Herausforderungen und Gefahren sind mit dem Einsatz von Lehrvideos verbunden? Der Band nimmt sich zum Ziel, einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen zu leisten. DafĂŒr werden drei Thementeile eröffnet.

Der erste Teil des Bandes widmet sich in vier BeitrĂ€gen grundlegenden Aspekten wie dem aktuellen Forschungsstand, quantitativen und qualitativen Forschungsergebnissen und curricularen Vorgaben hinsichtlich Lehrvideos. Der noch starke Forschungsbedarf wird hier deutlich (gemacht) und diverse Forschungsdesiderata werden benannt. Besonders ins Auge fĂ€llt in diesem Teil der Beitrag von Matthes und Lachner, die mittels qualitativer Videoanalyse sieben ausgewĂ€hlte Videos zu biologischen Themen des Lernvideoportals ‚simpleclub‘ untersuchten und zu dem sehr negativen Ergebnis kommen, dass mittels einiger der auf ‚simpleclub‘ bereitgestellten Videos Geschlechterstereotype verstĂ€rkt und Frauen zu Sexualobjekten degradiert werden sowie pornographische Darstellungen in den Videos zum Einsatz kommen. Im Netz stellen sie das Kategoriensystem ihrer Analyse sowie eine tabellarische ErgebnisĂŒbersicht zusĂ€tzlich bereit. Kritisch zu hinterfragen ist hier die ObjektivitĂ€t bezĂŒglich der Operationalisierung und der gewĂ€hlten Skalenniveaus. Gleichwohl wird deutlich, dass die analysierten Videos durchaus als problematisch zu bewerten sind und weitere Videoanalysen auf dieser (beliebten) Videoplattform (und sicherlich auch anderen) folgen sollten, da anders als bei Lehrwerken eine ĂŒbergeordnete Kontrollinstanz fehlt. Auch der Beitrag von Siegel, Streitberger und Heiland zur explorativen Analyse von ausgewĂ€hlten Lehrvideo-Anbietenden auf YouTube in diesem Teil lĂ€sst erfreulicherweise (Online-)Einblick in das genutzte Analyseinstrument zu. Auch hier wĂ€ren allerdings weitere Informationen z. B. in Form eines Codiermanuals wĂŒnschenswert gewesen. Nichtsdestotrotz ist diese transparente Art des Forschungsdatenmanagements als positiv und zeitgemĂ€ĂŸ hervorzuheben.

Der zweite Teil des Sammelbandes betrachtet in acht BeitrĂ€gen das Lehrvideo aus domĂ€nenspezifischer bzw. fachdidaktischer Perspektive. Positiv fĂ€llt auf, dass BeitrĂ€ge mit Bezug zu insgesamt sechs SchulfĂ€chern (und darunter nicht nur Naturwissenschaften) vorzufinden sind, allerdings wird, Ă€hnlich dem Sammelband von Dorgerloh und Wolf [1], die Perspektive der Fremdsprachendidaktik ausgeklammert. Insgesamt liegt der Schwerpunkt in diesem Teil auf der Analyse von ausgewĂ€hlten Einzelvideos hinsichtlich fachwissenschaftlicher, medien- und fachdidaktischer sowie sprachanalytischer QualitĂ€tskriterien. Die BeitrĂ€ge kommen zu beachtenswerten Ergebnissen, welche nicht selten Defizite der analysierten ErklĂ€rvideos ausweisen; interessanterweise auch im Vergleich zum interaktiven Schulunterricht. Hier stellt sich allerdings vereinzelt die Frage nach dem angelegten Maßstab, wenn es zum Beispiel heißt, dass „ErklĂ€rvideos jedoch nicht einen klassischen, von einer erfahrenen Lehrkraft durchgefĂŒhrten Unterricht ersetzen können“ (117). Sollen bzw. wollen sie das denn?

Was die Analyse von im Internet veröffentlichten Videos betrifft, erscheinen einige BeitrĂ€ge etwas defizitorientiert, dies bereits in der Auswahl des Analysematerials, eröffnen allerdings gute und vielfĂ€ltige ForschungsansĂ€tze fĂŒr grĂ¶ĂŸer angelegte, reprĂ€sentative Vorhaben, die hoffentlich folgen werden. Der Sammelband legt hier einen soliden Grundstein. Interessant wĂ€ren darĂŒber hinaus neben den theoretisch herausgearbeiteten StĂ€rken und SchwĂ€chen der analysierten Videos empirische Ergebnisse zur tatsĂ€chlichen Lernwirksamkeit ebenjener gewesen. Hier prĂ€sentiert lediglich der Beitrag von Wollmann im Rahmen eines Design-Based-Research-Projektes gewonnene Erkenntnisse.

Der dritte Teil widmet sich dem Lehrvideo in der Hochschullehre. Hier werden in sieben BeitrĂ€gen ĂŒberwiegend Lehrkonzepte prĂ€sentiert, in denen das Lehrvideo entweder als Vermittlungsmedium oder Analysegegenstand zum Einsatz kam. Dem potenziellen Kompetenzerwerb durch die Produktion von ErklĂ€rvideos durch Studierende gehen Kerscher, Dusanek und Brunold sowie Haltenberger, Asen-Molz und Böschl auf den Grund. Einen substanziellen Beitrag leisten besonders Siegel und Hensch, die die Ergebnisse eines systematischen Reviews aller im Band publizierten BeitrĂ€ge und darauf aufbauend einen Kriterienkatalog mit (medien )pĂ€dagogischen, filmanalytischen und rechtlichen QualitĂ€tskriterien von Lehrvideos prĂ€sentieren.

Fazit: Auf formaler Ebene hĂ€tte man sich etwas mehr Sorgfalt gewĂŒnscht. In rund einem Viertel der BeitrĂ€ge fehlen zitierte Quellen in der Bibliographie.
Es war, mit Blick auf den Inhalt, nicht das erklĂ€rte Ziel der Herausgeber:innen, mit dem vorgelegten Sammelband alle Aspekte des Bildungsmediums Lehrvideo vollumfĂ€nglich zu beleuchten. Von den vier im Klappentext gestellten Fragen konnten die letzten beiden am ausfĂŒhrlichsten beantwortet werden. Damit stellt sich abschließend die Frage aus dem Untertitel des Bandes: Ist das Lehrvideo das Bildungsmedium der Zukunft? Die Antwort bleibt der Sammelband schuldig. Weitere empirische Untersuchungen (insbesondere zur Lernwirksamkeit von Lehrvideos und bezogen auf die Perspektive der Nutzer:innen) mĂŒssen folgen. Ein wichtiges Bildungsmedium der Gegenwart ist das Lehrvideo jedenfalls, das zeigt der Band eindrĂŒcklich.

[1] Dorgerloh, S. & Wolf, K. D. (Hrsg.). (2020). Tutorials - Lernen mit ErklÀrvideos. Weinheim: Beltz.
Jennifer Wengler (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jennifer Wengler: Rezension von: Matthes, Eva / Siegel, Stefan T. / Heiland, Thomas (Hg.): Lehrvideos – das Bildungsmedium der Zukunft?, Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152465-1.html