EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)

Judith Elisabeth KĂŒper
Das Antworten verantworten
Zur (Re-)Konzeptualisierung praktischer pÀdagogischer Reflexion anhand von UnterrichtsnachgesprÀchen im Kontext der zweiten Phase der Lehrer:innenbildung
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2022
(265 S.; ISBN 978-3-7815-2535-1; 44,00 EUR)
Das Antworten verantworten Wie kann eine reflexive Distanzierung von sich selbst und der eigenen Praxis gelingen? Was braucht es, um die eigene subjektive Perspektive zu irritieren? Inwiefern gelingt die kritische Reflexion einer Praxis, in die das Reflexionssubjekt selbst involviert ist? Fragen wie diese tauchen mit Bezug zu Lehrer:innenbildung und Professionalisierung immer wieder auf. Beim Lesen der Dissertationsstudie von Judith KĂŒper wird allerdings deutlich, dass diese Fragen einer Reflexion, die sich auf praktische Unterrichtserfahrungen richtet, nicht gerecht werden und es durchaus ein anderes Fragen beziehungsweise eine andere Gegenstandsbestimmung braucht, um dazu Antworten zu erhalten.

Die vorliegende „(Re)Konzeptualisierung“ des PhĂ€nomens „praktischer pĂ€dagogischer Reflexion“ geht von der theoretischen wie empirischen Beobachtung aus, dass ein Sprechen ĂŒber eigene Unterrichtserfahrungen mit dem im Diskurs vorherrschenden Reflexionsideal nicht in Einklang zu bringen ist. An diese Erkenntnis anknĂŒpfend stellt die Autorin auf der Grundlage empirischen Materials und theoretischer Analysen ein Theoretisierungsangebot zur Diskussion, das praktische pĂ€dagogische Reflexion als „VerhĂ€ltnissetzung eines verantwortlichen Reflexionssubjektes zum eigenen pĂ€dagogischen Handeln“ (210) fasst. Auf diese Weise eröffnet Judith KĂŒper spannende theoretische und durchaus neue Perspektiven auf das Feld pĂ€dagogischer Reflexion, das zwar traditionell und grundlegend mit der Lehrer:innenbildung und Lehrer:innentĂ€tigkeit verbunden ist, aber kaum systematisch hinsichtlich der theoretischen und empirischen Erschließung bearbeitet wurde. Insbesondere zeichnet sich ihre Herangehensweise durch einen erziehungstheoretischen Fokus aus, der bislang verdeckte WidersprĂŒche zwischen dem Reflexionsideal und der ethischen Konstitution pĂ€dagogischer Handlungssituationen bearbeitet.

HierfĂŒr nĂ€hert sie sich einleitend ihrem Vorhaben, sogenannte Praxisreflexion als theoriefĂ€higes PhĂ€nomen und einen fĂŒr diese Praxis adĂ€quaten Reflexionsbegriff zu erschließen. Die Autorin bestimmt ihren Ausgangspunkt zum einen mit der Diskrepanz von Reflexionsideal und empirischen Befunden sowie zum anderen mit dem Fehlen erziehungstheoretischer BegrĂŒndungen der ReflexionsbedĂŒrftigkeit pĂ€dagogischen Handelns.

Im darauffolgenden ersten Teil entwirft Judith KĂŒper das fĂŒr ihre Analyse grundlegende Problem und ihre Forschungsfrage: So wird in einer beeindruckend umfassenden und breiten Analyse des Diskurs- und Forschungsstandes die Diskrepanz zwischen einer Reflexionsnorm der distanzierten Objektivierung und der im Ausbildungskontext aufzufindenden Reflexionspraxis herausgestellt. Zugleich macht die Autorin WidersprĂŒche zwischen diesem Reflexionsideal und der BegrĂŒndung einer ReflexionsbedĂŒrftigkeit pĂ€dagogischen Handelns deutlich. Abschließend formuliert Judith KĂŒper einen Antwortversuch auf diese Probleme und fragt nach „Ansatzpunkten fĂŒr eine (Re-)Konzeptualisierung praktischer pĂ€dagogischer Reflexion“ (77).

Der zweite Teil schließt eine „theoretisch-empirische Studie“ an. Darunter versteht die Autorin ein dialogisches BezugsverhĂ€ltnis zwischen Theorie und Empirie, „in der die jeweiligen Gehalte sich wechselseitig beleuchten, begrenzen und in den Blick holen“ (83). Entlang dieser PrĂ€misse wird zunĂ€chst eine gesprĂ€chsanalytische Auswertung von UnterrichtsnachgesprĂ€chen im Referendariat vorgestellt. Mit Blick auf fĂŒnf unterschiedliche FĂ€lle werden verschiedene Modi des reflektierenden Sprechens herausgearbeitet. Im Ergebnis dieser empirischen Analyse zeigt sich im Material die Besonderheit der Einnahme einer Handelndenperspektive, in der sich die Reflexionssubjekte sowohl erzĂ€hlend als auch argumentierend zu den zurĂŒckliegenden Erfahrungen ins VerhĂ€ltnis setzen. Darauf aufbauend abstrahiert Judith KĂŒper die duale Systematik zweier zentraler Modi: das „horizontgebundenen Argumentierens und engagierten ErzĂ€hlens“ (142). Diese werden abschließend in zwei „Theoretisierungsschneisen“ entlang alteritĂ€tstheoretischer und traditionstheoretischer BezĂŒge diskutiert. Auf diese Weise macht die Autorin anhand ihrer empirischen Ergebnisse deutlich, dass ein theoretischer Zugang zu pĂ€dagogischer Reflexion nicht im Ideal einer objektivierenden Distanzierung zu finden ist. Stattdessen liest sie die pĂ€dagogische Reflexion als Teil einer Praxistradition sowie als Antwort auf pĂ€dagogische Verantwortungserfahrungen. FĂŒr beide Lesarten ist eine involvierte Handelndenperspektive konstitutiv. Dabei besticht dieser Abschnitt aus Leserperspektive mit prĂ€zisen wie auch ausfĂŒhrlich begrĂŒndeten theoretischen und theorievergleichenden Analysen sowie schlĂŒssigen Relationierungen zum Reflexionsdiskurs.

Der dritte und letzte Teil der Arbeit fasst den theoretischen Ertrag der Studie zusammen. Die vorherigen Befunde werden in fĂŒnf Dimensionen praktischer pĂ€dagogischer Reflexion ĂŒberfĂŒhrt und noch einmal mit Blick auf den vorherrschenden Diskurs in der Lehrer:innenbildung reflektiert. Insbesondere zeigen sich AnschlĂŒsse an eine Forschendenperspektive sowie an eine strukturtheoretische Perspektive auf Reflexion aber auch eine „differente Problemmarkierung“ (236) dazu, wie die Angemessenheit pĂ€dagogischen Handelns reflexiv beantwortet wird. So lĂ€sst sich entlang KĂŒpers theoretischer Rahmung die Verantwortung fĂŒr pĂ€dagogisches Handeln nicht in einer distanzierten PrĂŒfung eigener Praxis verorten, sondern in der Anerkennung der Erfahrung eines Angesprochenseins, das der Ungewissheit pĂ€dagogischen Handelns gerecht wird. Damit fĂŒllt sich zugleich eine „ethische Leerstelle im dominanten Reflexionsdiskurs“ (240).

Insgesamt prĂ€sentiert Judith KĂŒper eine sehr genaue und ĂŒberzeugende Analyse der Frage, inwiefern sich ein Sprechen ĂŒber eigenen Unterricht und Unterrichtspraxis theoretisch und begrifflich als Reflexion fassen lĂ€sst. Auch wenn es angesichts der KomplexitĂ€t der Arbeit, ihrer zugrundgelegten Breite der Referenzen und der Menge an Anmerkungen sowie einigen Redundanzen manchmal nicht ganz leichtfĂ€llt, am Text zu bleiben, besticht die Arbeit gerade dadurch, dass dieses Feld in solch einer Akribie bearbeitet wurde. Vor allem bereichert sie den vorherrschenden Reflexionsdiskurs durch ihre neue Perspektive. WĂ€hrend aktuell immer wieder auf die Problematik eines Sich-Selbst-in-den-Blick-nehmens hingewiesen wird, bestimmt Judith KĂŒper das Geschehen (traditionstheoretisch) vom Kontext, in den das Reflexionssubjekt eingebunden ist, und (alteritĂ€tstheoretisch) vom anderen aus. Auf diese Weise bietet sie nicht nur eine Alternative zu den im Diskurs unerreichbaren Idealen eines souverĂ€nen Beobachtendensubjektes und der Norm einer objektiven Distanzierung an, sondern auch die Möglichkeit, aus der immerwĂ€hrenden und unlösbaren Theorie-Praxis-Problematik auszusteigen.
Angela Bauer (Bayreuth)
Zur Zitierweise der Rezension:
Angela Bauer: Rezension von: KĂŒper, Judith Elisabeth: Das Antworten verantworten, Zur (Re-)Konzeptualisierung praktischer pĂ€dagogischer Reflexion anhand von UnterrichtsnachgesprĂ€chen im Kontext der zweiten Phase der Lehrer:innenbildung. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152535.html