EWR 18 (2019), Nr. 5 (November/Dezember)

İnci Dirim / Paul Mecheril u.a.
HeterogenitÀt, Sprache(n) und Bildung
Eine differenz- und diskriminierungstheoretische EinfĂŒhrung
Stuttgart / Bad Heilbrunn: UTB / Klinkhardt 2018
(302 Seiten; ISBN 978-3-8252-4443-9; 19,99 EUR)
HeterogenitĂ€t, Sprache(n) und Bildung Die Begriffe HeterogenitĂ€t, Vielfalt und PluralitĂ€t nehmen in der gegenwĂ€rtigen erziehungswissenschaftlichen Debatte einen prominenten Platz ein. In dem Band „HeterogenitĂ€t, Sprache(n), Bildung“ perspektivieren İnci Dirim, Paul Mecheril und weitere Autor*innen den Diskurs darĂŒber in einer subjektivierungs- und diskriminierungstheoretisch angelegten Auseinandersetzung. Das Autor*innenteam, zu dem neben İnci Dirim und Paul Mecheril auch Alisha Heinemann, Natascha Khakpour, Magdalena Knappik, Saphira Shure, Nadja Thoma, Oscar Thomas-Olalde und Andrea Johanna Vorrink gehören (13), entwickelt die Themen des Bandes in einem Dreischritt: Im ersten Teil geben die Autor*innen eine EinfĂŒhrung in die Entwicklung des erziehungswissenschaftlichen Diskurses zu und ĂŒber soziale HeterogenitĂ€t in einer machtkritischen Perspektive. Im zweiten Teil werden einzelne Differenzlinien – von den Autor*innen als „Differenzordnungen“ (93) benannt – thematisiert. Der Bezug der Erkenntnisse auf schulisches Lernen (fachlich und sozial) unter der Bedingung von gesellschaftlicher Differenzordnung steht im Mittelpunkt von Abschnitt drei. Ein besonderes Augenmerk legen die Autor*innen dabei auf das Spannungsfeld einer faktisch vorhandenen migrationsgesellschaftlichen Mehrsprachigkeit und der Vermittlungssprache Deutsch im bundesdeutschen und österreichischen Bildungssystem. Abschließend werden Bezugsnormen fĂŒr eine „differenzfreundliche“ und „diskriminierungskritische“ (259) Schule ausgefĂŒhrt.

Der Band ist in der utb-Reihe „Studientexte Bildungswissenschaft“ erschienen und adressiert zukĂŒnftige und praktizierende LehrkrĂ€fte sowie Studierende (weiterer) erziehungs- und sprachwissenschaftlicher Studienrichtungen (11). Die Autor*innen möchten – so das Anliegen des Buches – die Bildung eines selbstreflexiven Ansatzes unterstĂŒtzen, der „NormalitĂ€ten oder Fraglosigkeiten“ (12) zum Ausgangspunkt nimmt. Problematisiert werden soll beispielsweise die Unterscheidungspraxis zwischen SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern mit und ohne Migrationshintergrund; zwischen Kindern als MĂ€dchen oder Jungen; die Bedeutung der Vermittlungssprache Deutsch in einer mehrsprachigen Schulklasse (13). FĂŒr die Analyse solcher Unterscheidungspraxen schlagen die Autor*innen anknĂŒpfend an macht- und gesellschaftstheoretische AnsĂ€tze eine Perspektive vor, die Differenz als soziale Konstruktion versteht und die Folgen dieser Konstruktion fĂŒr gesellschaftliche Platzierungen diskutiert. Mit Bezug auf den schulischen Kontext sei dies in (mindestens) zweifacher Hinsicht bedeutsam: Zum einen, da pĂ€dagogisch Handelnde immer mit „den Unterschiedlichkeiten ihrer Adressat*innen konfrontiert“ seien; zum anderen, da „pĂ€dagogisches Handeln und (
) pĂ€dagogische Institutionen bedeutsame Instanzen der Konstruktion bzw. Relevantsetzung dieser Unterschiedlichkeiten“ seien (13).

Zu den einzelnen Teilen des Bandes: Im Mittelpunkt des ersten Teils stehen „HeterogenitĂ€tsdiskurse, SprachverhĂ€ltnisse und die Schule“ (17). Die Autor*innen verweisen auf gesellschaftliche und fachwissenschaftliche Entwicklungen, die zu einer „Konjunktur“ (27) des Begriffs ‚HeterogenitĂ€t‘ gefĂŒhrt haben und skizzieren idealtypische VerstĂ€ndnisse, die dahinter stehen (33-39). Aufschlussreich ist dabei nach Ansicht der Rezensentin eine Systematisierung verschiedener BegriffsverstĂ€ndnisse von ‚HeterogenitĂ€t‘. Diese reichten, so die Autor*innen, von einem individualisierenden Blick auf „Lerndifferenzen zwischen SchĂŒler*innen“ (35) ĂŒber die Thematisierung des Zusammenhangs von individuellen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Bedingungen bis hin zu einer Problematisierung dominanter NormalitĂ€tsvorstellungen. Diese Systematisierung bietet den Leser*innen die Möglichkeit, die Verwendung des HeterogenitĂ€tsbegriffs als ‚Container‘ fĂŒr die Beschreibung von jeglichen DifferenzverhĂ€ltnissen kritisch zu diskutieren oder in Frage zu stellen. FĂŒr das Nachdenken ĂŒber PluralitĂ€t und Vielfalt aus der dem Band zugrundeliegenden macht- und gesellschaftstheoretischen Perspektive schlagen die Autor*innen die SchlĂŒsselbegriffe „Differenzordnung und DiskriminierungsverhĂ€ltnisse“ vor (39). Das Begriffspaar wird anhand der Auseinandersetzung mit dem VerhĂ€ltnis zwischen Sprache und gesellschaftlicher Differenzordnung konkretisiert (51-62). Aufschlussreich ist in diesem Teilkapitel – neben dem grundlegenden Blick auf die Bedeutung von ‚Sprache(n)‘ in migrationsgesellschaftlichen Kontexten (51-57) – die Explizierung kolonialer Denkmuster in Bezug auf ‚afrikanische Sprachen‘ und deren Hineinwirken bis in das gegenwĂ€rtige deutsche Bildungssystem (57-62). Im dann folgenden Kapitel liegt der Schwerpunkt auf einer Betrachtung der Institution Schule, welche in einem Spannungsfeld zwischen der ErfĂŒllung gesellschaftlicher (Selektions-)Funktionen und der Verantwortung fĂŒr einzelne SchĂŒler*innen verortet wird. HeterogenitĂ€t, so die Autor*innen abschließend, werde als Perspektive aufgefasst, die nach MöglichkeitsrĂ€umen fĂŒr professionelles pĂ€dagogisches Handeln suche und gleichzeitig WidersprĂŒche offen lege (63-89).

Der zweite Teil bildet nach Ansicht der Rezensentin ein Alleinstellungsmerkmal dieses Bandes, denn er stellt mit ‚Sprache(n)‘ zwar eine Differenzkategorie rahmend in den Vordergrund, widmet aber auch den Kategorien Behinderung [1], Gender, Klasse, Migrationshintergrund und Religion jeweils ein Kapitel. Aufschlussreich ist hierbei zum einen die jeweilige historische Einordnung der Begriffe, zum anderen die Diskussion der Kategorien unter machtkritischer und dekonstruktivistischer Perspektive. Es werden auf diese Weise einerseits Überschneidungspunkte deutlich, wenn es um die Herstellung von gesellschaftlicher Differenz geht. Gleichzeitig treten unterschiedliche Bezugswissenschaften und Verwendungsweisen der Begriffe hervor. FĂŒr eine weitere Erhellung des Blicks auf das VerhĂ€ltnis der Differenzlinien untereinander wĂ€re ein zusammenfassendes Kapitel in diesem Abschnitt allerdings hilfreich gewesen. Auch kann ĂŒber die Auswahl der fĂŒnf besprochenen Differenzlinien diskutiert werden. FĂŒr den Kontext Schule und Bildung wĂ€re beispielsweise die Thematisierung von Adultismus ebenfalls interessant gewesen.

Teil drei enthĂ€lt zwei ZugĂ€nge zu schulischer Bildung, die unter Bezugnahme auf die Kategorie ‚Sprache(n)‘ Möglichkeiten fĂŒr eine „machtreflexiv(e)“ und „differenzfreundlich(e)“ (199) Schule ausloten. WĂ€hrend zunĂ€chst migrationsgesellschaftliche Mehrsprachigkeit im Mittelpunkt steht, werden danach AnsĂ€tze und Konzepte fĂŒr die Vermittlung der Zielsprache Deutsch besprochen. Diese beiden Aspekte werden auch in ihrem VerhĂ€ltnis zueinander diskutiert, indem auf die Bedeutung eines „diskriminierungskritische(n) professionelle(n) Handeln(s) in der monolingual deutschsprachigen Schule“ (245) hingewiesen wird. An diesen Gedanken knĂŒpft das abschließende Kapitel an, welches aus den Erkenntnissen des gesamten Bandes heraus ein VerstĂ€ndnis fĂŒr die „differenzfreundliche und diskriminierungskritische Schule“ (248) herausarbeitet, welches von AnsĂ€tzen, die die Chancengleichheit und soziale Anerkennung in den Mittelpunkt stellen, abgegrenzt wird.

Den anfangs explizierten Anspruch nach einer machtkritischen Perspektivierung von HeterogenitĂ€tsdiskursen löst der Band damit nach Ansicht der Rezensentin ein: Er enthĂ€lt einen ĂŒberaus reichhaltigen Überblick ĂŒber Diskurse und HandlungsansĂ€tze jĂŒngerer Zeit. Durch die Thematisierung mehrerer Differenzlinien regt der Band insbesondere dazu an, transdisziplinĂ€r ĂŒber DominanzverhĂ€ltnisse im Bildungssystem nachzudenken; dies könnte beispielsweise in der Diskussion um die ‚inklusive Schule‘ weiterfĂŒhrende Überlegungen ermöglichen.

DarĂŒber hinaus ist der Band aber auch als positionierte EinfĂŒhrung zu verstehen, die auf WidersprĂŒchlichkeiten und SpannungsverhĂ€ltnisse im Umgang mit Differenz und im Versuch ihrer Dekonstruktion hinweist. Beispielhaft deutlich wird dies in der Auseinandersetzung mit dem Anerkennungsbegriff am Ende des Buches (256-259). Die Autor*innen weisen in diesem Zusammenhang auf die Gefahr hin, durch die Anerkennung von Differenz diese gleichzeitig affirmativ zu reproduzieren. So könnte die Anerkennung der Differenzlinie ‚Behinderung‘ die machtvolle Unterscheidungspraxis zwischen ‚Behinderung‘ und ‚Nicht-Behinderung‘ erneut bestĂ€tigen (258). Wie anfangs beansprucht, fordert das Buch auf diese Weise dazu heraus, „NormalitĂ€ten oder Fraglosigkeiten“ (12), zu hinterfragen. Es lĂ€dt gleichzeitig ein, weiter an der intersektional gedachten ‚differenzfreundlichen‘ und ‚diskriminierungskritischen‘ Schule zu arbeiten.

Als ‚Studientext‘ ist er nach Ansicht der Rezensentin eine hervorragende Grundlage fĂŒr die Entwicklung einer eigenen, professionell-reflexiven Haltung (angehender) LehrkrĂ€fte. FĂŒr die reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung ist vermutlich eine Begleitung durch kommunikative Vermittlungsformate wie Seminare, Weiterbildungen oder hochschulische Lehrveranstaltungen nötig.

[1] Unter dem Begriff „Behinderung“ verstehen die Autor*innen nicht ein „medizinisch-körperliches Problem einzelner Menschen“, sondern im Sinne der konstruktivistischen Perspektive des Bandes eine „zeit- und kontextspezifische Konstruktion“ (96).
Friederike Dobutowitsch (LĂŒneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Friederike Dobutowitsch: Rezension von: Dirim, İnci / u.a., Paul Mecheril: HeterogenitĂ€t, Sprache(n) und Bildung, Eine differenz- und diskriminierungstheoretische EinfĂŒhrung. Stuttgart / Bad Heilbrunn: UTB / Klinkhardt 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 5 (Veröffentlicht am 18.12.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382524443.html