EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Christiane Schiersmann
Beraten im Kontext lebenslangen Lernens
Bielefeld: wbv 2021
(176 S.; ISBN 978-3-8252-5826-9; 19,90 EUR)
Beraten im Kontext lebenslangen Lernens Christiane Schiersmann thematisiert mit ihrer Publikation unter dem Titel „Beraten im Kontext lebenslangen Lernens“ Konzepte, die ein breites Spektrum an Zugängen zum Handlungs- und Forschungsfeld Beratung eröffnen. Beraten als professionelle Handlungsform ist Gegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, umfasst Beratungsanlässe über die gesamte Bildungs- und Berufsbiografie und orientiert sich an vielfältigen Zielgruppen. Diese thematische Breite eines Lehrbuchtitels kann vor allem für Studierende, die sich erstmalig mit diesem Themenfeld beschäftigen, zunächst irritierend wirken. Die Autorin konkretisiert den gewählten Titel jedoch gleich zu Beginn des Lehrbuchs als bildungs-, berufs- und beschäftigungsbezogene Beratung (3B-Beratung), womit sie sich von weiteren Beratungsangeboten wie z. B. Erziehungsberatung oder Organisationsberatung explizit abgrenzt. Der Titel und das dem Lehrbuch zugrundeliegende Beratungsverständnis orientieren sich damit an bildungspolitischen Definitionen der Europäischen Union und Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zu „lifelong guidance“. Im Unterschied zu den breit gefassten bildungspolitischen Konzepten erfolgt in dem Lehrbuch eine weitere Eingrenzung auf öffentliche Beratungsangebote für Erwachsene und hier schwerpunktmäßig auf die Weiterbildungsberatung.

Eine Übersicht zu den wichtigsten bildungspolitischen Begriffsdefinitionen bildet auch den Einstieg zum ersten der drei Teile des Buches. In diesem werden die Rahmenbedingungen und strukturellen Aspekte von Beratung differenziert erläutert. Der gewählte Zugang zeigt von Beginn an eine substanzielle Stärke des Lehrbuchs auf, welches die Angebote, Strukturen und Konzepte von bildungs-, berufs- und beschäftigungsbezogener Beratung in Beziehung zu aktuellen gesellschaftlichen und (bildungs-)politischen Rahmenbedingungen in Deutschland setzt. Die heterogene und auf den ersten Blick unübersichtliche Beratungslandschaft wird anhand biografisch aufgebauter Beratungsanlässe dargestellt. Damit einher geht jedoch im ersten Teil, dass Zugänge aus der Beratungsforschung, die diese Strukturen untersuchen und hinterfragen, nur am Rande (im sog. „Exkurs Wissenschaft“) erwähnt werden.

Der zweite Teil des Buches widmet sich umfassend dem Beratungsprozess. Im einleitenden Kapitel setzt sich die Autorin mit den Kennzeichen professioneller Beratung auseinander. Was unter Beratung im Allgemeinen und unter professioneller Beratung im Speziellen verstanden wird, ist sehr divers. Die Reduktion der zahlreichen Definitionen von professioneller Beratung auf die „Hilfe zur Selbsthilfe“ bringt die Quintessenz vieler Begriffsbestimmungen zwar gut auf den Punkt, die eine oder andere Definition aus der allgemeinen Fachliteratur von Beratung wäre für das Verständnis vieler Leser:innen dennoch aufschlussreich gewesen. Die Übersicht über verschiedene Beratungsformen in Abgrenzung von alltäglicher Beratung, die Darlegung von Beratung als phasenorientierten Lösungsprozess und die Vorstellung des von Christiane Schiersmann und Heinz-Ulrich Thiel entwickelten systemischen Kontextmodells zeigen die Komplexität von Beratungshandeln ausgezeichnet auf. Die Definition für professionelle Beratung für den Bereich Bildung, Beruf und Beschäftigung, den die Autorin ihren Ausführungen letztendlich zugrunde legt, ist umfassend, klar und kann als hilfreiche Orientierung sowohl für Lernende und Lehrende als auch für Akteur:innen von verschiedenen Ebenen dieses Berufsfeldes gesehen werden.

In den nachfolgenden Abschnitten ermöglicht die Autorin Einblicke in fünf Beratungsansätze, die den Anforderungen eines Lehrbuches entsprechend, kompakt und gut strukturiert beschrieben werden. (1) Die Genese verhaltensorientierter Ansätze sowie die theoretischen Grundlagen werden komprimiert dargelegt, ein Bezug zum Tätigkeitsfeld, um das es in diesem Werk geht, kann nur begrenzt hergestellt werden. Erstaunlich ist, dass in diesem Zusammenhang unerwähnt bleibt, welche Bedeutung der Ansatz des sozialen Lernens und das Konzept der Selbstwirksamkeit von Bandura für die Berufswahlforschung hatten. (2) Der nächste Abschnitt zum personenorientierten Beratungsansatz vermittelt von dessen Entstehungsgeschichte und Einordnung bis zur Gestaltung des Beratungsprozesses ein angemessenes Grundverständnis dieses beraterischen Zuganges. (3) Im Abschnitt zur systemischen Beratung werden die wichtigsten unterschiedlichen Entwicklungsstränge und deren Fokus überzeugend dargelegt. Theorieinteressierten Leser:innen wird Appetit auf intensivere Lektüre hinsichtlich der einzelnen Richtungen gemacht. (4) Im Abschnitt zum lösungsorientierten Beratungsansatz lässt die recht umfassende Darlegung des von Bamberger entwickelten Modells zur lösungsorientierten Beratung das Vorgehen nach diesem Ansatz greifbar werden, wo hingegen die Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen in Relation dazu etwas kurz geraten. (5) Als fünfter und letzter Ansatz in Teil zwei des Buches wird das integrative Heidelberger Prozessmodell für Beratung vorgestellt. Ausgehend von Argumenten, die für die Entwicklung einer allgemeinen Beratungstheorie sprechen, wird dieses von der Autorin und Heinz-Ulrich Thiel entwickelte Modell beschrieben. Die Konzeption dieses Beratungsansatzes kann als die konsequente Weiterentwicklung des Denkens und Arbeitens der Autorin über fast zwei Jahrzehnte gesehen werden. Die für dieses Verfahren zentralen Ansätze – das Phasenmodell des komplexen Problemlösens und die Theorie der Selbstorganisation – sowie Reflexion als Kern von Beratung werden komprimiert dargestellt. Die Beschreibung der acht Wirkprinzipien für die Gestaltung der Beratung vermittelt mit den zahlreichen Querverweisen zu anderen Kapiteln und den Literaturhinweisen eine Vielfalt an Anregungen für Beratende. Die Lektüre dieses Kapitels macht deutlich: Es handelt sich um einen anspruchsvollen Ansatz auf einem hohen Abstraktionsniveau.

Der dritte Teil des Buches zur Qualität von Beratung thematisiert die Professionalisierung von Beratung, die Professionalität von Beratenden und das Qualitätsmanagement in Beratungsorganisationen. Dabei wird die systemtheoretisch geprägte Perspektive aus dem ersten Teil wieder aufgegriffen, indem Professionalität und Qualität auf gesellschaftlicher, personeller und organisationaler Ebene dargestellt werden. Wie im gesamten Lehrbuch werden die grundlegenden Begriffe und Konzepte klar verständlich beschrieben und systematisch definiert. Hervorzuheben ist zudem die übersichtliche Beschreibung des aktuellen Stands der Professionalisierung anhand struktureller Kennzeichen wie Berufsverbänden und der Aus- und Weiterbildung. Die Professionalität von Beratenden wird über einen kompetenztheoretischen Zugang beschrieben und anhand eines Kompetenzprofils aufbauend auf dem systemischen Kontextmodell von Beratung konkretisiert. Mit dieser Fokussierung bleiben jedoch insbesondere differenztheoretische Zugänge unberücksichtigt, welche auch die Widersprüche und Spannungsfelder im Beratungsfeld deutlich machen würden. Abschließend werden auf organisationaler Ebene zwei ausgewählte Modelle des Qualitätsmanagements vorgestellt und anschaulich beschrieben. An dieser Stelle würde der Einbezug weiterer Literatur zu diesem Themenfeld zusätzliche Perspektiven eröffnen. Insgesamt ermöglicht die Lektüre des letzten Teils erneut einen systematischen und übersichtlichen Zugang zu dem weiten Begriffsfeld der Qualität. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen den Konzepten Professionalisierung, Professionalität und Qualität wird durch diese Darstellung jedoch außer Acht gelassen.

Zusammenfassend ein sehr empfehlenswertes Lehrbuch für Lernende und Lehrende der Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung, aber auch ein Fachbuch, das für Personen, die beispielsweise Konzepte für Aus- und Weiterbildungen im angesprochenen Tätigkeitsfeld erstellen oder mit Qualitätsmanagementkonzepten befasst oder in der Bildungspolitik tätig sind, einen sehr guten Überblick und viel Hintergrundwissen bietet. Sowohl das Lehrbuch insgesamt als auch die einzelnen Kapitel sind kompakt und klar strukturiert, der Inhalt ist didaktisch gut aufbereitet. Durch die Fallbeispiele, die den Auftakt zu den einzelnen Kapiteln bilden, gelingt es gut, für Leser:innen, die mit diesem Tätigkeitsfeld noch nicht vertraut sind, einen Praxisbezug herzustellen und beispielsweise anhand des dargelegten Beratungsanliegens den unterschiedlichen Beratungsansätzen entsprechend mögliche Interventionsformen herauszuarbeiten. Mit der kompakten Darstellung gehen jedoch auch Auslassungen und Fokussierungen einher, die zur Folge haben, dass alternative und gesellschaftskritische Ansätze kaum berücksichtigt werden.

Das Lehrbuch ist Ergebnis und Zusammenfassung des über viele Jahre erfolgten wissenschaftlichen, lehrenden und bildungspolitischen Engagements und des dadurch erworbenen Wissens der Autorin. Christiane Schiersmann hat Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung immer wieder neu gedacht, indem sie sich an den Veränderungen in der Arbeits- und Berufswelt sowie in der Gesellschaft orientiert und diese integriert hat. Viele Entwicklungen in diesem Bereich – Theoriebildung, Professionalisierung, Qualitätsansprüche etc. – hat sie vorangetrieben. Beratungshandeln nicht nur als Beratungsprozess zwischen Beratenden und Ratsuchenden wahrzunehmen, sondern eingebettet und beeinflusst vom organisationalen und gesellschaftlichen Kontext, und auf diesen verschiedenen Ebenen auch zu reflektieren, ist ihr Ansatz, und dieser zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch.
Birgit Schmidtke / Marika Hammerer (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Birgit Schmidtke / Marika Hammerer: Rezension von: Schiersmann, Christiane: Beraten im Kontext lebenslangen Lernens. Bielefeld: wbv 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382525826.html