EWR 22 (2023), Nr. 4 (Oktober)

Ricarda Biemüller
Das hinzutretende Dritte
Ãœber das Somatische in der Bildungstheorie Theodor W. Adornos
Bielefeld: transcript Verlag 2022
(314 S.; ISBN 978-3-8376-6315-0; 55,00 EUR)
Das hinzutretende Dritte Wer an dieser Stelle eine Rezension zu einer Monografie oder einem Sammelband verfasst, kann auf eine ganze Reihe von Richtlinien und Hinweisen zurückgreifen: Das Anliegen der Studie soll ebenso dargestellt werden wie die Vorgehensweise. Beurteilt werden soll unter anderen, ob sie den eigenen Ansprüchen nachkommt, wie sie sich zu vergleichbaren oder konkurrierenden Ansätzen verhält. Schließlich hat eine „kritische Einschätzung“ zu erfolgen, „welche die Aspekte der sachlichen Kohärenz, der abwägenden Kontrastierung zu konkurrierenden Herangehensweisen und der Adressatenspezifik berücksichtigt“. [1]

Es sagt bereits viel über die vorliegende Monografie, dass sie es dem Rezensenten zuweilen schwer macht, diesen Hinweisen nachzukommen. Vor allem: Wie zu einer kritischen Einschätzung kommen, welche die „Adressatenspezifik berücksichtigt“? Anders gefragt: An wen richtet sich ein aus einer Dissertation hervorgegangenes Buch mit dem Titel „Das hinzutretende Dritte. Über das Somatische in der Bildungstheorie Theodor W. Adornos“ überhaupt? Fündig wird man weder auf der Homepage des Verlags noch auf dem Buchrücken, wie es sonst oft der Fall ist. Auch im Buch finden sich keine expliziten Hinweise.

Aber genau das passt dann doch zu einer Studie, die Adornos Schriften nicht nur zum Gegenstand macht, sondern auch die Vollzugsform seines Schreibens selbst aufgreift und schreibend mitvollzieht (27). In seiner späten Monografie über Gustav Mahler (auf die sich Ricarda Biemüller nicht eingehend bezieht, die mir ihre Studie aber trotzdem aufgeschlossen hat), liest Adorno Mahlers Symphonik als „eine Schrift, welche die eigene Deutung vorschreibt.“ Und er fügt hinzu: „Die Kurven solcher Nötigung sind betrachtend nachzuzeichnen, anstatt daß über die Musik von einem ihr äußerlichen, vermeintlich fixen Standpunkt aus räsoniert würde“ [2]. Damit beschreibt Adorno sehr genau, wie sich Biemüller Adornos Schriften nähert. Sie nimmt „keinen vermeintlich fixen Standpunkt“ ein, sondern bleibt ihrem Erkenntnisgegenstand immer dicht auf den Fersen, mischt sich in ihn hinein, um dann auf diese Weise über ihn hinaus zu gelangen. Ergebnis ist dieses zugleich sperrige und faszinierende Buch, das nicht auf ein bestimmtes Publikum zugeschnitten ist, sich vielleicht aber gerade deshalb an alle richtet (oder, unter anderen materiellen Bedingungen, sich an alle richten könnte, s.u.).

Wer es aufschlägt und die Danksagung nicht überspringt, wird zunächst auf Zeilen aus Tocotronics „In höchsten Höhen“ stoßen. Das Lied findet sich auf dem siebten Studioalbum der Hamburger Band, das den Titel „Pure Vernunft darf niemals siegen“ trägt. Im Blick zurück wird sich das Zitat als sehr treffend erwiesen haben für eine Studie, die dem Somatischen eine buchstäblich gewichtige Bedeutung zuweist, ohne es einfach als das ganz Andere der Vernunft zu verstehen, sondern als etwas, das Freiheitsspielräume eröffnen, den Weltlauf durchbrechen kann, zugleich aber selbst sozial vermittelt ist und in dieser Vermitteltheit wiederum eingeholt werden muss. Auch das rein Somatische gibt es nicht – und es wäre auch nicht genug. Bildung, heißt es im letzten Kapitel, sei „immer beides“, „begriffliche Erfahrung kultureller und wissenschaftlicher Sachverhältnisse“ und „mimetische Verhaltensweise, die sich in die Gegenstände versenkt“ (244).

In der folgenden Einleitung wird schnell fündig, wer nach Ziel und Absicht der Studie sucht. Kurz und bündig heißt es dort, es handele „sich um eine bildungstheoretische Deutung des Werks Theodor W. Adornos am Leitfaden des Somatischen.“ (11) Das trifft es sehr genau, und tatsächlich zieht Biemüller nicht nur die Texte Adornos heran, die explizit von Bildung handeln bzw. in denen der Bildungsbegriff eine prominente Rolle spielt. Das in meinen Augen Besondere ist dabei, dass die ‚anderen‘, also nicht explizit um Bildung kreisenden Schriften Adornos nicht lediglich dazu dienen, den Kontext seiner „Theorie der Halbbildung“ oder der Abhandlung über die „Erziehung nach Ausschwitz“ zu erhellen, sondern sie werden Elemente von Konstellationen, die als Ganze bildungstheoretisch fruchtbar gemacht werden sollen, um begreiflich zu machen, wie Bildung als „Form der vermittelten Erfahrung“ (33) gefasst werden kann.

Im ersten der vier Hauptteile („Über die Frage nach dem Zugang: Deutung, Naturgeschichte und Begriff“) werden eine ganze Reihe dieser Elemente vorgestellt, die sich später in den „Konstellationen somatischer Bildung“ wiederfinden. Leser:innen erfahren etwas über Adornos Fassung von Philosophie als Deutung und über deren Zusammenhang mit der „Vermittlungsfigur der Naturgeschichte“ (30), der es als Untersuchungsperspektive darum zu tun ist, Geschichte in ihrer Naturhaftigkeit zu analysieren und die Natur in ihrer Geschichtlichkeit. Es geht um Adornos immanente Kritik an Hegel und die Frage, „ob und wie dialektisches Denken ohne System möglich ist“ (30), mithin um die „Verschiebung der dialektischen Denkform hin zur negativ-dialektischen Erfahrung unter der Bedingung der Negativität von Begriff und Sache“ (30) – und um die Frage, wie ein „nicht instrumentelle[r] Zugang zur Sprache“ (98) zu denken ist.

Der im ersten Kapitel entfaltete Begriff der Naturgeschichte wird dann im zweiten wieder aufgegriffen – und bildet nun den „Leitfaden“ (116) für eine Erschließung von Bildung an der Schwelle von Naturbeherrschung und Naturverfallenheit. Sie beginnt mit einigen Verschiebungen, die Adorno gegenüber Hegels Verständnis von Entfremdung, Entäußerung, Geschichte und Bildung vornimmt, nimmt dann den Weg über eine „Reformulierung von Bildung unter dem Aspekt der Melancholie“ (119), um schließlich von da aus die „Theorie der Halbildung“ noch einmal anders in den Blick zu bekommen. Gelesen wird sie zudem zusammen mit den Thesen zur Kulturindustrie: Während Kunstwerke Entfremdungserfahrungen noch einmal verfremden, auf diese Weise anders erfahrbar und somit – geistig, begrifflich – bearbeitbar machen können, vermag es die Entfremdung in der Sphäre der Kulturindustrie nicht mehr auf diese Weise eingeholt, nicht mehr begriffen zu werden (155).

Demgegenüber werden im dritten Kapitel Möglichkeiten von Erfahrung und Erkenntnis sondiert, die an der Notwendigkeit begrifflichen Urteilens festhalten, aber zugleich die Körperlichkeit, Zeitlichkeit und Gewordenheit des Erkenntnissubjekts in Rechnung stellen. Während im zweiten Kapitel mitverfolgt wurde, wie Adorno mit Hegel über Hegel hinaus geht, werden nun die Verschiebungen sichtbar, die Adorno gegenüber Kant vornimmt. Wieder aufgenommen wird auch der Faden der „Bildung im Medium der Melancholie“ (126), die hier auf eine erhellende Weise mit Adornos Verständnis von ästhetischer Erfahrung in Beziehung gesetzt wird. Das melancholische Bewusstsein entäußert sich an die Sache, versenkt sich in das Objekt, wird ihrer Vergänglichkeit gewahr, damit aber auch ihrer Gewordenheit. Durch das zumindest zeitweilige Aussetzen des Selbstbehauptungsanspruchs hindurch, in der selbstvergessenen Hingabe an das Objekt, brechen plötzlich andere Möglichkeiten durch. Was geworden ist, kann auch anders werden. Bei Adornos Mahler stand hierfür die in sich gebrochene „Idee des Durchbruchs“ ein: „[D]as Bild, das dem Durchbruch sich entgegenstreckt, bleibt versehrt, weil er in der Welt ausblieb wie der Messias.“ [3] Deshalb gelingt es nicht, „In höchsten Höhen“ zu verweilen.

Bildung muss sich ihres realen „Misslingen[s]“ [4] gewahr werden, es in sich aufnehmen. Auch um dieses Problem werden schließlich die abschließenden „Konstellationen somatischer Bildung“ kreisen. Das Somatische, das sich nie ganz verdrängen, nie ganz abspalten lässt, das sich immer wieder aufdrängt, bedarf „der Vermittlung des Besonderen, in subjektiver und objektiver Hinsicht, mit dem Allgemeinen durch seine Verobjektivierung.“ (285) Dass diese Verobjektivierung – hier: das vorliegende Buch – mit der anderen Person noch eines weiteren Dritten bedarf, „ein Drittes, das es ermöglicht – aufgelöst in dem Dazwischen von Impulsen, Empfindungen, Gedanken – ganz bei der Sache und dennoch auf dem Weg der begrifflichen Vermittlung sein zu können“ (288), ist eine wichtige Pointe, die abschließend auf die kollektive Dimension von Bildungsprozessen verweist. Um eine andere Hamburger Band zu zitieren: Niemand schafft das allein.

Das Buch ist für alle, die sich auf einen manchmal sperrigen, manchmal leichtfüßigen, auf jeden Fall von Anfang bis Ende dichten und streng durchkomponierten Text einlassen möchten, der erst einmal nicht mehr will, als Adornos Verständnis von Bildung durch sein ganzes Werk hindurch mitzuvollziehen und auf diese Weise aufzuschließen. Was man als Leser:in dann damit anstellt (sich noch einmal oder zum ersten Mal in Adorno selbst versenken, mit anderen Lesarten abgleichen, Verbindungen knüpfen, mit oder an Adorno Kritik üben, Tocotronic hören usw.), ist eine Entscheidung, die einem das Buch nicht abnimmt.

Naheliegend ist zudem wohl die Frage, was die Lektüre voraussetzt. Auch hier nur meine – in diesem Fall: etwas zwiegespaltene – Antwort: Auf der einen Seite dürfte es hilfreich sein, das eine oder andere von Adorno, Hegel oder Kant gelesen zu haben. Gerade dann, wenn man Ricarda Biemüllers Lektüre von Adornos Kant- und Hegellektüre überprüfen, sie also mit der eigenen Deutung abgleichen möchte. Auch die Einordnung in den Forschungsstand nimmt die Studie einem nicht ab (wofür nachvollziehbare Gründe angeführt werden, 28, FN 18). Auf der anderen Seite findet sich aber (fast) alles, was man zum Mitvollzug benötigt, in dem Buch selbst. Statt Hegel- und Kant-Gesamtausgabe braucht es dann eben Marker, Stift, Papier, Konzentration, Geduld und – Zeit. Dass gerade Zeit ungerecht verteilt ist, wäre dabei auch ein Gegenstand bildungstheoretischer und materialistischer Kritik, die von Ricarda Biemüllers Studie ihren Ausgang nehmen könnte. Aber das wäre ein anderes Buch. Erst einmal lohnt es sich, dieses zu lesen.

[1] https://www.klinkhardt.de/ewr/richtlinien/
[2] Adorno, T.W. (2003). Die musikalischen Monographien. Versuch über Wagner. Mahler. Eine musikalische Physiognomik. Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs (S. 152). Suhrkamp.
[3] Ebd., S. 153 und 154.
[4] Ebd., S. 154.
Christian Grabau (Hagen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Grabau: Rezension von: Biemüller, Ricarda: Das hinzutretende Dritte, Ãœber das Somatische in der Bildungstheorie Theodor W. Adornos. Bielefeld: transcript Verlag . In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383766315.html