EWR 12 (2013), Nr. 3 (Mai/Juni)

Karlheinz Jetter
Leben und Arbeiten mit behinderten und gefährdeten Säuglingen und Kleinkindern
Mit Beiträgen von Franziska Grob, Wolfgang Praschak, Manfred Pretis, Franz Schönberger und Jan Weisser
Neu herausgegeben von Franziska Grob / Wolfgang Praschak / Jan Weisser
Berlin: epubli (acta empirica – nomade zwei) 2013
(208 S.; ISBN 978-3-8442-4115-0; 25,00 EUR)
Leben und Arbeiten mit behinderten und gefährdeten Säuglingen und Kleinkindern Als zweiter Band der Schriftenreihe zur Kooperativen Pädagogik ist das vorliegende Werk erstmals 1984 veröffentlicht worden. Die historischen Texte von Karlheinz Jetter und Franz Schönberger werden in der Neuauflage durch Hinführungen von Franziska Grob und Wolfgang Praschak sowie durch ein Nachwort von Manfred Pretis gerahmt. Das Herausgeberteam möchte mit der Frage, was vom „Aufbruch, von der radikalen praxisbezogenen Suche nach den Bedingungen einer humanen Gesellschaft für alle geblieben [ist]“ (VII), einen Diskurs über den Stand und die Zukunft der Frühförderung anregen.

Die Beiträge von Franziska Grob und Wolfgang Praschak führen aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven in das Werk von Karlheinz Jetter ein. Beiden ist gemeinsam, dass sie die große Bedeutung der theoretischen und praktischen Arbeit von Karlheinz Jetter (und auch Franz Schönberger, der mit einem Text zum Bewegungshandeln beiträgt) für eine Weiterentwicklung der Frühförderung betonen, die sich in der Überwindung einer einseitig medizinisch-therapeutischen Engführung zugunsten der Anerkennung der kindlichen Autonomie, der Bedeutung der Familie und der interdisziplinären Zusammenarbeit von Fachdisziplinen für die Entwicklung des Kindes äußerte. Die Einführungsbeiträge aus unterschiedlichen Perspektiven münden damit in der gemeinsamen und schlüssigen Kontextualisierung: Franziska Grob und Wolfgang Praschak decken mit dem Verweis auf die historischen Texte kritische Fragen auf, die im aktuellen Diskurs um Inklusion in frühpädagogischen Settings und im Sozialraum entstehen.

Das Buch setzt sich aus 10 Kapiteln zusammen. In Kapitel eins formuliert Jetter Frühförderung als Aufgabe einer humanen Gesellschaft. Seine Kritik an der Fokussierung gesellschaftlich verwertbarer Kompetenzen von Kindern (Lesen, Schreiben, Rechnen) und der Standardisierung von Fördermaßnahmen ist aus heutiger Perspektive der bildungspolitischen Konsequenzen nach dem „PISA-Schock“ ebenso aktuell wie die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung im Kontext gesellschaftlicher Teilhabe, wie sie im Zuge der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention mit neuer Dynamik fokussiert wird. Bei der Förderung von Kindern mit Behinderung verweist der Autor auf die hohe Bedeutung der Kooperation mit der Familie und die Abstimmung von Förderangeboten hin und legt damit zentrale konzeptionelle Grundlagen, die sich aktuell in den etablierten Arbeitsprinzipien der Frühförderung (Familienorientierung, Ganzheitlichkeit, Vernetzung, Interdisziplinarität) widerspiegeln.

In Kapitel zwei entwickelt Karlheinz Jetter die theoretischen Grundlagen seiner Arbeit, indem er Annahmen über die Entwicklung von Kindern mit dem kindlichen Handeln in sozialen Kontexten verknüpft. So stellt er in diesem Zusammenhang fest, dass nicht das „bloße Hantieren mit ausgewählten Gegenständen“ (37) zur Verbesserung von Fähigkeiten führt, sondern vielmehr die Anstrengungen des Kindes in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt als mitmenschliche Leistung verstanden werden müssen. Das Handeln des Säuglings als soziale Grundqualität rückt damit in den Fokus der professionellen Reflexion.

Die folgenden Kapitel befassen sich mit dem „geschädigte(n) menschliche(n) Organismus“ (3), dem „Aufbau der kindlichen Persönlichkeit“ (4) und der „Entwicklung des sensumotorischen Handelns“ (5). Karlheinz Jetter gelingt es dabei, entwicklungspsychologische Annahmen schlüssig in einen sozialisationstheoretischen und erziehungswissenschaftlichen Zusammenhang zu setzen. So markiert er mit der illustrativen Darstellung der „Kreishandlungen“ (100) Prozesse kindlicher Exploration, mimetischen Lernens (107) und der (sprachlichen) Rückversicherung bei Erwachsenen, wie sie auch in aktuellen Positionen zur Selbstbildung von Kindern innerhalb der Frühpädagogik diskutiert werden. Die theoretischen Überlegungen münden in schlüssig abgeleiteten Konsequenzen für die Diagnostik und Förderung von Kindern und Säuglingen mit einer Behinderung.

Kapitel 6 („Aspekte der Förderung behinderter und gefährdeter Säuglinge und Kleinkinder“) bietet den Leserinnen und Lesern keine operationalisierten Lern- oder Förderziele sondern reflektiert zunächst die individuelle Bedeutung von Zielsetzungen für das Kind und seine Familie. Damit spricht sich Karlheinz Jetter eindeutig für einen partizipatorischen Prozess von Diagnostik und Förderung aus. Im Unterschied zu einer an der Entwicklungsnorm ausgerichteten Vorgehensweise plädiert Jetter für die Entwicklung einer gemeinsamen Idee, die sich an der Teilhabe des Kindes in menschlichem Zusammenleben orientiert. Die Altersnorm gilt in diesem Verständnis somit nicht mehr als ausschließlicher Maßstab, sondern vielmehr als Orientierung, um in Situationen offener und zielgeleiteter Kooperation (142) Anregungsbedingungen zu gestalten.

Das hier vorgestellte Werk überrascht durch seine Aktualität und überzeugt durch die pointierte Darstellung der kooperativen Pädagogik für die Theorie und Praxis der Frühförderung. Viele der von Jetter entwickelten Konsequenzen für die Frühförderung und -diagnostik von Kindern und Säuglingen mit einer Behinderung erscheinen auch aus heutiger Sicht fachlich innovativ, anschlussfähig und modern. Der historische Text, der vom Herausgeberteam bewusst auch in seiner sprachlichen Ursprungsfassung belassen wurde, weist auf der anderen Seite aber auch auf Weiterentwicklungen in der Frühförderung und in der Auseinandersetzung mit dem Behinderungsbegriff seit der ersten Auflage hin. So dürfte die Zusammenführung der durch Jetter geprägten Vorschläge zur Frühförderung mit den aktuellen Erkenntnissen der Spracherwerbs- und Interaktionsforschung eine stärker theoriegeleitete Konzeptionalisierung von Sprachfördermaßnahmen im frühen Kindesalter anstoßen. Karlheinz Jetter selbst hätte in Kenntnis der neueren Spracherwerbsforschung eine zum Teil funktional ausgerichtete Fokussierung mundmotorischer Fähigkeiten mit der Schaffung bedeutungsvoller Sprachanlässe in dyadischer und polyadischer Interaktion ergänzt.

Im Zusammenhang mit den jüngeren Diskussionen innerhalb einer inklusiven Frühpädagogik macht das Werk auf die auch in inklusiven Bildungskontexten beständige Bedeutung der Frühförderung aufmerksam. Im Nachwort wird von Manfred Pretis auf die Gefahr hingewiesen, dass der Begriff Frühförderung zunehmend als frühe Förderung von Begabungen missverstanden wird. Andererseits zeigt er auf, dass gute Frühförderung auf eine schlüssige theoretische Fundierung angewiesen ist. In diesem Verständnis sind Jetters Gedanken ohne Zweifel von hohem Wert. Das Herausgeberteam trägt mit der Veröffentlichung dazu bei, dass ein ansonsten nicht mehr verfügbarer Text aus theoretischer und praktischer Perspektive neu diskutiert werden kann. Diese Auseinandersetzung lässt wertvolle Impulse für die Reflexion und Weiterentwicklung von Frühförderung erwarten.
Timm Albers (Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Timm Albers: Rezension von: Jetter, Karlheinz: Leben und Arbeiten mit behinderten und gefährdeten Säuglingen und Kleinkindern, Mit Beiträgen von Franziska Grob, Wolfgang Praschak, Manfred Pretis, Franz Schönberger und Jan Weisser Neu herausgegeben von Franziska Grob / Wolfgang Praschak / Jan Weisser. Berlin: epubli (acta empirica – nomade zwei) 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 3 (Veröffentlicht am 28.05.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384424115.html