EWR 15 (2016), Nr. 2 (März/April)

Maria Fürstaller / Wilfried Datler / Michael Wininger (Hrsg.)
Psychoanalytische Pädagogik: Selbstverständnis und Geschichte
Schriftenreihe der DGfE-Kommission, Band 5
Opladen: Barbara Budrich 2015
(253 S.; ISBN 978-3-8474-0192-6; 36,70 EUR)
Psychoanalytische Pädagogik: Selbstverständnis und Geschichte Alle drei Herausgeber befassen sich in ihrer akademischen Forschungsarbeit mit Fragen, die sich auf der Schnittstelle zwischen Psychoanalyse und Pädagogik bewegen. Es kann daher nicht verwundern, dass sie sich mit ihren Arbeitsschwerpunkten in der DGfE-Kommission „Psychoanalytische Pädagogik“ entsprechend engagieren. In deren Schriftenreihe ist das vorliegende Buch jüngst erschienen.

Günther Bittner vertritt die These, dass in der Psychoanalytischen Pädagogik zu viel Gewicht auf „Rahmen, Setting, Übertragung und Gegenübertragung“ (36) gelegt wird. Bittner möchte stattdessen die Psychoanalyse als „eine Art des Ich-Seins“ (37) verstehen. Ein aussichtsvoller Ansatz, weil die Psychoanalytische Pädagogik damit für Fragen der Allgemeinen Pädagogik noch offener wird. Ergänzend dazu fragt Volker Fröhlich, was an der psychoanalytischen Pädagogik das Pädagogische ist. Er möchte zeigen, dass psychoanalytisches Vorgehen in pädagogischen Kontexten „nicht ein Monopol eines „richtigen“ oder gelingenden pädagogischen Handelns beanspruchen“ (44) kann. Er warnt davor, dass „die Psychoanalyse ein Wissen, eine Methode, eine Technik zur Verfügung“ (46) stellt, mit deren Hilfe sich pädagogische Probleme lösen lassen, die mit herkömmlichen Mitteln nicht zu bewältigen sind. „Es gibt keine Methode, die das Wagnis der pädagogischen Situation vorweg abnehmen könnte“ (46). Rolf Göppel stellt daran anknüpfend die Frage, „was es denn bedeutet, ein Psychoanalytischer Pädagoge bzw. eine Psychoanalytische Pädagogin zu sein, und worin die spezifischen Leistungen von Psychoanalytischer Pädagogik liegen könnten“ (53). Er entwickelt Kriterien, mit deren Hilfe der Psychoanalytische Pädagoge definiert werden könnte. Indem er die „Subjekt-“, „Beziehungs-“ und „Entwicklungsorientierung“ in den Blick nimmt (62f), denkt er die psychoanalytische Pädagogik von ihren Kernelementen her und berührt zugleich Fragen der Allgemeinen Pädagogik.

Johannes Gstach beschäftigt sich mit einem Kernstück der Psychoanalytischen Pädagogik: dem Unbewussten. Allerdings geht es ihm nicht um das Freud´sche Unbewusste; seine „Herangehensweise besteht in einer ideengeschichtlichen Erläuterung jener vor Freud existierenden Denkströmung“ (73). Der Autor lädt dazu ein, die wichtigsten Stationen „der seit der Antike entstandenen Seelenvorstellungen“ (ebd.) kennenzulernen. Ein Ansatz, der auch für die pädagogische Anthropologie interessant sein könnte. Barbara Neudecker spürt mit ihrer Beschäftigung mit dem Briefwechsel zwischen Anna Freud und August Aichhorn sowie zwischen August Aichhorn und Robert Eissler während der Herrschaft des Nationalsozialismus dem emotionalen Teil der Anfänge der Psychoanalytischen Pädagogik nach. Diese Briefe berichten aus „der Gründerzeit der Psychoanalyse und der Psychoanalytischen Pädagogik, vom Verlust der ersten Heimat der Psychoanalyse, vom Verlust von Menschen, Beziehungen und Loyalitäten“ (103). Ein Thema, dass sicherlich auch für die Biographieforschung von Interesse ist. Josef Christian Aigner vertritt die These, dass viele Erwachsene heute Persönlichkeitszüge aufweisen, die an Aichhorns Verwahrlosungsbegriff erinnern (110ff). Er plädiert dafür, nicht nur „strauchelnde Jugendliche“, sondern auch „strauchelnde Erwachsene“ (119) in den Blick zu nehmen. Ein lohnender Ansatz, der zugleich eine Kooperation zwischen kritischer Gesellschaftstheorie, Psychoanalytischer und Allgemeiner Pädagogik erforderlich macht. Heiner und Annedore Hirblinger beschäftigen sich mit dem „Junktim zwischen Heilen, Bilden und Forschen“ (125) sowie mit der Frage, wie über diese Begriffe im jeweiligen Praxisfeld immer neu nachgedacht werden muss. Es geht ihnen um den Umgang mit Deutungsmustern im wissenschaftlichen Diskurs und das Diskursproblem „jenseits des therapeutisch-klinischen Feldes“ (135), womit zugleich grundlegenden Fragen der pädagogischen Praxis Raum gegeben wird. Valentin Rumpf forciert einen „postmodernen Bildungsbegriff“ als „Ankerpunkt für die systematische Ausgestaltung des Selbstverständnisses der Psychoanalytischen Pädagogik“ (142). Dieser Ansatz hat seinen Reiz, da er nach der „transdisziplinaren Verortung“ der Psychoanalytischen Pädagogik im Spannungsfeld von Psychoanalyse und Bildungswissenschaft (143) fragt und zugleich die relationalen Weiterentwicklungen in der psychoanalytischen Theoriebildung in den Blick nimmt.

David Zimmermann beschäftigt sich mit psychosozial schwer beeinträchtigten Schülern. Diese Gruppe, so seine These, wird heute zunehmend in Begriffen der Traumapädagogik diskutiert. Indem er „psychoanalytisches Fallverstehen als Methode der Traumapädagogik im schulischen Kontext vorstellt“ (163), verbindet er die Traumapädagogik mit der Psychoanalyse. Ein lohnender Ansatz, der beiden Seiten neue Erkenntnisse verspricht. Jean-Marie Weber diskutiert Lacans Gedanken zur Subjektivierung. Dabei geht es nicht nur um das komplexe Verhältnis von Sprache, Begehren und Wissen, sondern auch darum, wie Schüler und Lehrer in ihrer „Subjektgenese“ (175) unterstützt werden können. Webers Gedanken kulminieren in einer „Ethik des Begehrens“ (190), ohne die kein psychoanalytischer Forscher seiner Ansicht nach auskommt. Wilfried Datler berichtet von einem Forschungsprojekt, das die Lebensqualität an Demenz leidender und im Pflegeheim wohnender Menschen untersucht. Im Zentrum steht die Qualität der „Beziehungserfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen“ (194) sowie das Travistock-Kozept als Untersuchungsmethode. Dieses Vorgehen wurde zuerst in der psychoanalytischen Säuglingsbeobachtung angewendet, um zur „Ausbildung von differenzierten Vorstellungen über die Erlebniswelt von Babys und Kleinkindern“ (196) zu gelangen. Daran anknüpfend analysiert Hendrik Trescher unter Anwendung der Objektiven Hermeneutik verschiedene Beobachtungsprotokolle der Studie mit dem Ergebnis, dass die Pflegebedürftigen zuweilen Demütigungen ausgesetzt sind. Er plädiert für eine „theoriegeleitete Dekonstruktion des Demenzbegriffs“ (231) unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Geschlechterforschung und Sonderpädagogik. Die psychoanalytisch orientierte Einzelfallanalyse mit dem methodischen Rüstzeug des Tavistock-Konzepts ist das Thema von Kathrin Trunkenpolz. Es geht ihr nicht nur um die „Beziehungs- und Organisationsdynamik“ (236) im Pflegeheim, sondern auch darum, wie Abwehrmechanismen wertschätzende Beziehungen verhindern. Durch ihre Analyse könnte der soziale Umgang mit Demenzerkrankten verbessert werden.

Fazit: Die Autoren zeigen, dass die Psychoanalytische Pädagogik mit der Lehre vom Unbewussten, der Trieb-Abwehr-Konflikt-Orientierung und den Gedanken zur psychosexuellen Entwicklung des Menschen eine direkte Beziehung zur Allgemeinen Pädagogik unterhält – sei es im Hinblick auf den Erziehungsbegriff, die Pathologisierung von Erziehung oder den Bildungsbegriff. Auch werden Konflikte zwischen beiden Fachrichtungen deutlich, wie sich etwa an der Orientierung an den Technologien der Psychoanalyse zeigt. Die Verfasser setzen sich kritisch mit dem Selbstverständnis und der Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik auseinander, entwickeln frische Gedanken und stellen neue Forschungsprojekte vor. Die Allgemeine Pädagogik, verstanden als Subdisziplin, der es um die Entwicklung grundlegender Gedanken zur Erziehung und die Klärung pädagogischer Grundbegriffe geht, sollte auf diese spezifische Perspektive nicht verzichten. Anderenfalls bliebe eine psychoanalytische Deutung der seelischen Beschaffenheit des Menschen unberücksichtigt. Es gibt schließlich kaum eine andere Theorie, die eine solche Außenwirkung hinsichtlich der Vorstellung von Entwicklung und Erziehung erreicht hat wie die der Psychoanalyse. Inwiefern die psychoanalytische Theoriebildung in den Normalbetrieb der (Allgemeinen) Erziehungswissenschaft zu integrieren ist, das ist nach wie vor eine offene Frage. Insofern handelt es sich um ein lesenswertes Buch für alle daran Interessierten.
Manfred Böge (Kiel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Manfred Böge: Rezension von: Fürstaller, Maria / Datler, Wilfried / Wininger, Michael (Hg.): Psychoanalytische Pädagogik: Selbstverständnis und Geschichte, Schriftenreihe der DGfE-Kommission, Band 5. Opladen: Barbara Budrich 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384740192.html