EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Gertrud Beck / Heike Deckert-Peaceman / Gerold Scholz (Hrsg.)
Zur Frage nach der Perspektive des Kindes
Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2022
(276 S.; ISBN 978-3-8474-2577-9; 39,90 EUR)
Zur Frage nach der Perspektive des Kindes In der interdisziplinĂ€r operierenden Neueren Kindheitsforschung wird seit LĂ€ngerem der Frage nachgegangen, inwieweit man die Perspektive des Kindes einnehmen bzw. rekonstruieren kann. Die Neuere Kindheitsforschung wurde in den 1980er Jahren in Kritik am pĂ€dagogischen und adultistischen Denken der Ă€lteren Sozialisationsforschung begrĂŒndet. Ein Kritikpunkt liegt darin, dass Kinder in entwicklungspsychologischen und pĂ€dagogischen Untersuchungen lange Zeit nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft beschrieben worden sind. Sie galten als zu Entwickelnde und nicht als Seiende. V.a. in soziologischen Studien spielten Kinder so gut wie keine Rolle oder wurden, wenn ĂŒberhaupt, als egoistische und asoziale Wesen [1], Barbaren [2], defizitbestimmte Sozialisationsobjekte, zukĂŒnftige Erwachsene [3] oder Akteure, die fĂŒr das soziale Leben noch nicht reif sind, betrachtet. Sie wurden als Menschen markiert, die ĂŒber die primĂ€re und sekundĂ€re Sozialisation erst noch zu nĂŒtzlichen Mitgliedern der Gesellschaft werden mĂŒssen und damit wĂ€hrend ihrer Kindheit noch keine vollwertigen Gesellschaftsmitglieder sind [4].

Der 2022 erschienene Sammelband „Zur Frage der Perspektive des Kindes“ von Gertrud Beck, Heike Deckert-Peaceman und Gerold Scholz schließt an neuere Strömungen in der Kindheitsforschung an. GegenĂŒber einer v.a. soziologisch orientierten Kindheitsforschung wird in diesem Band eher pĂ€dagogisch-phĂ€nomenologisch und entwicklungspsychologisch argumentiert.

Ziel des Bandes ist es, den Eigenwert und die Eigenwelt der Kinder in einem erziehungswissenschaftlich orientierten Argumentationsgang zu beleuchten und das Handeln und Denken von Kindern, eingebettet in pĂ€dagogische Kontexte und Beziehungsstrukturen, zu erforschen. Thematisiert wird also, wie Kinder aktiv ihre Welt gestalten, wie sie sie – in ihrer Andersartigkeit und Fremdheit gegenĂŒber den sie betreuenden, erziehenden, unterrichtenden und sozialisierenden Erwachsenen – sehen und wie sie sie als selbsttĂ€tige Subjekte – eingebunden in eine generationale, soziale und strukturale Ordnung – leben.

Der Band versammelt insgesamt 14 BeitrĂ€ge von Erziehungswissenschaftler:innen, GrundschulpĂ€dagog:innen und Kulturantropolog:innen aus dem Feld der deutschsprachigen Kindheitsforschung. Den BeitrĂ€gen vorangestellt ist jeweils ein Foto von Gesine Kulcke, das der Bebilderung des jeweiligen Artikels dienen soll. Gerahmt und begleitet werden die BeitrĂ€ge von AuszĂŒgen einschlĂ€giger Quellen, angefangen bei Wilhelm von Humboldt (1836) bis GĂŒnter Mey (2001). Gertrud Beck erklĂ€rt in ihrem das Buch eröffnenden Beitrag, dass sie auf diese „Textsplitter“ (7) im Laufe ihrer eigenen wissenschaftlichen Laufbahn gestoßen sei und sie aus ihrer „eigenen Bibliothek“ (8) stammen. Warum rahmend keine aktuelleren AuszĂŒge aus einschlĂ€gigen Quellen aufgefĂŒhrt werden, wird nicht exemplifiziert. Dahingegen markieren die Herausgeber:innen in ihrer gemeinsam geschriebenen Einleitung den Beweggrund fĂŒr die Publikation des Bandes: Es ist der aufgrund Mangels an (passenden) Einreichungen nur selten vergebene „Studienpreis Kindheitsforschung“ der Martha-Muchow-Stiftung (in der alle drei Herausgeber:innen Vorstandsmitglieder sind bzw. bis zu ihrem Ruhestand waren).

Die Martha-Muchow-Stiftung ist eine Institution, die in Erinnerung an die PĂ€dagogin und Psychologin Martha Muchow „die Perspektiven und Handlungsprozesse von Kindern bei ihrer Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Welt sichtbar und verstehbar zu machen versucht“ [5] und hierbei, neben dem Studienpreis, auch Stipendien fĂŒr Forschungsvorhaben sowie VeröffentlichungszuschĂŒsse finanziert. Ziel der Stiftung ist es, wie in der Einleitung und damit auch der Anlage des Buches nachzulesen ist, eine erziehungswissenschaftlich begrĂŒndete Kindheitsforschung zu fördern. Mehr oder weniger legen die Herausgeber:innen mit dem Band nun eine Perspektivierung vor, wie sie erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung im Sinne Martha Muchows verstehen und fĂŒr förderfĂ€hig erachten. Hierbei lassen sie neben den von ihnen selbst geschriebenen BeitrĂ€gen in neun weiteren BeitrĂ€gen verschiedene Autor:innen mit ihren empirischen und theoretischen Überlegungen zu Wort kommen. In einem Satz zusammengefasst ist die erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung im Sinne des Bandes eine, die sich an die kritische Erziehungswissenschaft anlehnt (Heike Deckert-Peaceman), lebensweltlich und generational orientiert ist (Ulrich Wehner), sich dabei den Methoden der Ethnographie (Swaantje Brill, Teresa Erlenkötter, Alexandra FlĂŒgel), der Analyse materialer Produkte von Kindern (Gesine Kulcke) und Kinderfragen (Markus Rautenberg) widmet; hierbei nicht nur die Freizeit von Kindern, sondern auch pĂ€dagogisch betreute Orte untersucht (Heide Kallert), damit auch Erziehungs- und SozialisationsverhĂ€ltnisse in Familien (Klaudia Schultheis) und Schulen (Gertrut Beck, Gerold Scholz) in den Blick nimmt, neuere gesellschaftliche Entwicklungen, wie die Auswirkung von ‚unbegleiteten minderjĂ€hrigen FlĂŒchtlingen‘ integriert (Laura K. Otto) und darĂŒber hinaus i.S. einer stĂ€rker theoretisch begrĂŒndeten Kindheitsforschung (Gerd SchĂ€fer) argumentiert.

Von der theoretischen Verortung sticht v.a. der Text von Gerd SchĂ€fer hervor, der zur Analyse (frĂŒh-)kindlicher Bildungsprozesse eine relational subjektorientierte Position statt einer – wie bisher eher fokussierten – (relational) sozialwissenschaftlichen vorschlĂ€gt. (Alltags-)Philosophische und die Naturwissenschaft integrierende Aspekte, kognitionswissenschaftliche, auf Sprache und Welterfahrung angelegte entwicklungspsychologische Gesichtspunkte sollten ihm zufolge bei der Analyse kindlichen Seins mehr Beachtung finden. Von Seiten method(olog)ischer Gesichtspunkte ĂŒberzeugt v.a. der Beitrag von Klaudia Schultheis, die den Schwerpunkt der Analyse auf pĂ€dagogische Momente in materiell-diskursiven Praktiken legt und hierbei auch die „leiblichen und biographischen Voraussetzungen, kulturellen Bedeutungen, Zeit- und Raumaspekte sowie Auswirkungen organisatorisch-institutioneller Bedingungen“ (176) in den Blick nimmt, um in einer erweiterten Perspektive auf das pĂ€dagogische Geschehen eine variationsreiche Situationsdefinition aller am dynamischen Geschehen Beteiligten zu zeigen und darĂŒber auf die Vielfalt an Bedingungen und Auswirkungen pĂ€dagogischer Situationen aufmerksam zu machen.

Im Buch werden stĂ€rker als in vielen anderen BeitrĂ€gen der Neueren Kindheitsforschung ErziehungsverhĂ€ltnisse und das Werden von Kindern in den Fokus gerĂŒckt. Damit ist das Buch ein Versuch, die Kindheitsforschung in der theoretischen und empirischen Tradition der Erziehungswissenschaften zu verorten. Kritisiert werden kann, dass im Band neuere Strömungen der Kindheitsforschung weniger thematisiert werden. Nur unzureichend wird z.B. der Ansatz von Doris BĂŒhler-Niederberger aufgegriffen, die zum Ende ihres einschlĂ€gigen Werkes „Lebensphase Kindheit. Theoretische AnsĂ€tze, Akteure und HandlungsrĂ€ume“ [6] die Perspektive des Kindes als sozialer Akteur eng mit dem Konzept der generationalen Ordnung und damit auch einer – im Band thematisierten – sozialisatorischen Orientierung innerhalb verschiedener Gesellschaftsformen verbindet. BĂŒhler-Niederberger machte schon weit vor Erscheinen des Bandes darauf aufmerksam, dass sich die soziologisch orientierte Neuere Kindheitsforschung seit den 1980er Jahren weiterentwickelt hat. Auch einschlĂ€gige Erziehungswissenschaftler:innen des Diskurses, die sich um eine Perspektive von Kindern bemĂŒhen und diese theoretisieren, kommen nicht zu Wort. Zu nennen seien z.B. Meike Sophia Baader mit ihrer historisch begrĂŒndeten Perspektive, Florian Eßer mit seinem relationalen Ansatz oder Tanja Betz mit ihrer ungleichheitsbezogene Kindheitsforschung, um nur einige zu nennen. Entsprechend schließt der Band eine LĂŒcke, der v.a. an der PhĂ€nomenologie orientierten, erziehungswissenschaftlich begrĂŒndeten Kindheitsforschung. Bei Interesse an diesem Schwerpunkt lohnt sich die LektĂŒre des Buches.

[1] Durkheim, E. (2012). Erziehung, ihre Natur und ihre Rolle. In U. Bauer, U.H. Bittlingmayer & A. Scherr (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie (S. 69-83). VS Verlag.
[2] Parsons, T. (1991). The social system. Routledge.
[3] Schweizer, H. (2007). Soziologie der Kindheit. Verletzlicher Eigen-Sinn. VS Verlag.
[4] Durkheim, E. (2012). Erziehung, ihre Natur und ihre Rolle. In U. Bauer, U.H. Bittlingmayer & A. Scherr (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie (S. 69-83). VS Verlag.
[5] Martha Muchow Stiftung: http://martha-muchow-stiftung.de/ [abgerufen: 20.02.2023]
[6] BĂŒhler-Niederberger, D. (2011). Lebensphase Kindheit. Theoretische AnsĂ€tze, Akteure und HandlungsrĂ€ume. Juventa.
Irene Leser (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Irene Leser: Rezension von: Beck, Gertrud / Deckert-Peaceman, Heike / Scholz, Gerold (Hg.): Zur Frage nach der Perspektive des Kindes. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384742577.html