EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)

Torben Pauls
Bildung und Praxis
Studien zur hermeneutischen Bildungstheorie GĂĽnther Bucks
WĂĽrzburg: Ergon 2009
(146 S.; ISBN 978-3-8991-3723-1; 24,00 EUR)
Bildung und Praxis Der 1983 verstorbene Stuttgarter Pädagoge und Philosoph Günther Buck kann als „Klassiker“ der Pädagogik im Hinblick auf eine hermeneutische Theorie des Lernens gelten, die die Bedeutung der Erfahrung sowie darin die Rolle der Negativität in den Mittelpunkt stellt. Die Auseinandersetzung mit Buck hat sich bisher jedoch auf einzelne Aspekte seines Werkes konzentriert. Torben Pauls legt nun mit der erweiterten Fassung seiner Magisterarbeit die bislang erste Monographie zum Werk von Günther Buck vor. Der Fokus seiner systematischen Analyse liegt dabei auf dem Verhältnis von Bildung und Geschichtlichkeit (Kap. 2), Bildung und Hermeneutik (Kap. 3) sowie Bildung und Praxis (Kap. 4).

Im ersten Kapitel weist Torben Pauls anhand der Berliner „Ruck“-Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog von 1997 auf das Problem der Reduktion von Bildung auf ein funktionales Mittel für gesellschaftliche Praxis hin. Er kritisiert daran den Verlust der ethischen Dimension eines solchen Bildungsverständnisses, die in der Tradition des Bildungsdenkens in unterschiedlichen Formen der Reflexion auf gesellschaftliche Praxis eingeholt worden war (10). Als ein möglicher und aktueller Ausgangspunkt für eine solche Reflexion wird Bucks Bildungstheorie gesehen, deren philosophisch-hermeneutische Grundierung ein spezifisches Reflexionsverhältnis zur gesellschaftlichen Praxis ausbuchstabiert.

Pauls stellt die Geschichtlichkeit als das zentrale Motiv und den Kohärenz verbürgenden „roten Faden“ (13) im Werk Günther Bucks in den Mittelpunkt seines zweiten Kapitels. Geschichtliche Offenheit und die Unbestimmtheit der menschlichen Natur gelten bei Buck als die Grundaxiome neuzeitlicher Anthropologie und gleichzeitig auch als die unhintergehbare Voraussetzung der neuzeitlichen Bildungsphilosophie und Pädagogik. Buck grenze deshalb die Analyse der Selbstentfremdung durch Rousseau als die „Entdeckung der Historizität der menschlichen Existenz“ (36) von der vormodernen objektiven Teleologie des Comenius ab (31) und stelle die Gegenwartserfahrung der entfremdeten Lebenspraxis an den Anfang seines weiteren Nachdenkens über Pädagogik und Bildung (41ff).

Wie der Autor im dritten Kapitel in enger Anlehnung an die Argumentation Bucks zeigt, verbindet dieser Bildung und Geschichtlichkeit im Rahmen der philosophischen Hermeneutik Gadamers. Diese „ist eine Theorie des Verstehens als hermeneutische Erfahrung“ und soll nicht als methodische Anleitung, sondern primär als eine selbstreflexive „Aufklärung über die Bedingungen der geschichtlichen Erfahrung selbst“ (55ff) gelten. Der Gedanke der Geschichtlichkeit scheint sich dabei für Torben Pauls vor allem in der Aufnahme der Motive der „Unabgeschlossenheit und in der prinzipiellen Offenheit“ (22) von Erfahrungsprozessen zu zeigen, ihrer „Bedingtheit und Endlichkeit“ (91) sowie ihrer prinzipiellen Situativität und ihrem Vollzugscharakter (92), d.h. auch: ihrer „Standpunktgebundenheit“ (62). Diese Aspekte kommen bei Pauls in der hermeneutischen Erfahrung zusammen, die Buck aus dem Lernbegriff entwickelt habe (67) und in deren negativem Moment für Buck die bildende Qualität der Selbsterfahrung begründet liege (83ff). Auf diese selbstaufklärende, bildende, lebenspraktische Dimension der hermeneutischen Erfahrung ziele auch Bucks Konzept der Handlungshermeneutik (87). Sie richte sich auf die Explikation von im Vollzug von Handlungen implizit bleibendem Sinn: „Der Prozess der Bildung ist ein Prozess der Aufklärung der Voraussetzungen von Praxis. Bildung hat damit selbst seine eminent praktische Bedeutung beibehalten“ (92).

Im vierten Kapitel wird die Frage nach der Neubestimmung des Verhältnisses von Bildung und Praxis nach dem Verlust der objektiven Teleologie gestellt, d.h. die Frage nach der Begründungs- und Orientierungsfunktion der Handlungshermeneutik. Auch hier bleibt der Autor mit seiner Rekonstruktion nah am Rekonstruierten: Die Frage wird mit dem Hinweis auf die Struktur der praktischen Erkenntnis beantwortet, in der die „Struktur der Aneignung und Einübung von Praxis“ und die „reflexive Selbstverständigung des Handelnden über diese Praxis“ (93) zusammenfallen. Mit Gadamer und gegen Habermas gelte Buck die Reflexivität nicht als „transzendierende Kraft“ (102) zur Aufklärung von Realitätszwängen, die einen Bruch mit der eingespielten Lebenspraxis voraussetzen würden. Vielmehr bleibe Reflexivität eingebunden in das tragende Einverständnis jeden Gesprächs und in die Kontinuität des Verstehenshorizontes, d.h. in den Traditionszusammenhang des Überlieferungsgeschehens. Gerade hieraus begründe die Handlungshermeneutik ihre praktische Verbindlichkeit: „Handlungsorientierung wird gewonnen durch Orientierung an geschichtlichen Beispielen“ (114). Es sei denn auch diese Beschreibung der praktischen Erkenntnis von geschichtlichen Handlungsbeispielen, die von Buck bildungsphilosophisch gewendet werde: In der Auseinandersetzung mit anderen geschichtlichen Selbstverhältnissen, in der Bearbeitung der lebensgeschichtlich kontingenten Identitäten liege die Möglichkeit des Identitätsgewinns (126ff). Deshalb könne von Buck „im Anschluss an Herbart und Hegel das Sich-Allgemein-Machen bildungsphilosophisch als Aufgabe von Bildung bezeichnet“ (123) werden.

Im abschließenden Ausblick wird im fünften Kapitel auf vier Seiten umrissen, welche möglichen Kritikpunkte sich an Bucks Ansatz im Rahmen einer weiteren Auseinandersetzung zwischen der philosophischen Hermeneutik Gadamers und differenztheoretischen Ansätzen (bspw. von Derrida und Foucault) ergeben könnten. Dabei zeichnet sich in der Kürze der Darstellung eine kaum zu vermittelnde und für die Position Bucks wenig fruchtbare Opposition dieser Ansätze ab. Darüber hinaus wird der mögliche Ertrag des Buckschen Bildungsbegriffs für eine qualitative empirische Bildungsforschung angedeutet. Diese Perspektive bleibt jedoch aufgrund der knappen Ausführungen recht vage.

Der Arbeit Pauls’ kommt das Verdienst zu, erstmals eine systematische Darstellung von zentralen Motiven ausgewählter Werke Günther Bucks in den Mittelpunkt gerückt zu haben. Es ist dabei nicht das Anliegen dieser Arbeit, diese Motive (Bildung, Geschichtlichkeit, Hermeneutik, Praxis) im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion zu kontextualisieren oder Bucks Ansatz innerhalb der von diesem referierten Wissenschaftstraditionen zu situieren. Die systematische Rekonstruktion bleibt stattdessen recht nah an den von Buck selbst aufgeworfenen Problemen und an dessen Begrifflichkeiten. Auch erfolgt die Referenz auf Bezugsautoren vornehmlich in illustrativer Absicht. So geraten allerdings die dem Ansatz Bucks immanente Probleme, wie z.B. die Frage nach dem Festhalten an einem Resttelos angesichts des Zerfalls sinngarantierender Teleologien, kaum in den Blick. Die enge Anlehnung an die Diktion Bucks mag zudem das Einlesen erschweren, wenn das Thema der Arbeit von anderen Lesegewohnheiten und Denktraditionen her erschlossen werden soll. Gleichwohl ist die flüssig geschriebene Arbeit als Beitrag zur Bedeutung der philosophischen Hermeneutik im Rahmen bildungstheoretischen Nachdenkens zu empfehlen.
Sabrina Schenk (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabrina Schenk: Rezension von: Pauls, Torben: Bildung und Praxis, Studien zur hermeneutischen Bildungstheorie GĂĽnther Bucks. WĂĽrzburg: Ergon 2009. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978389913723.html