EWR 18 (2019), Nr. 4 (Juli/August)

Markus Rieger-Ladich / Anne Rohstock / Karin Amos (Hrsg.)
Erinnern, Umschreiben, Vergessen
Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis
Weilerswirst: VelbrĂĽck 2019
(324 S.; ISBN 978-3-95832-068-0; 39,90 EUR)
Erinnern, Umschreiben, Vergessen Wie kommt die Erziehungswissenschaft zu ihrem Wissen? Welche Traditionen formen die Disziplin und was gerät im Laufe der Geschichte in Vergessenheit? Dass die Erziehungswissenschaft ihre Gegenstände unter dem Eindruck zeithistorischer Ereignisse neu bestimmt, darauf hat bereits 1983 Klaus Mollenhauer mit seinem Buch „Vergessene Zusammenhänge“ aufmerksam gemacht. Seit damals hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass nicht nur wissenschaftliche Gegenstände, sondern auch Disziplinen geschichtlich sind. Wenn man also die erziehungswissenschaftliche Wissensproduktion verstehen will, muss die Disziplin ihre eigenen Praktiken zum Gegenstand der Forschung machen. Einen theoretischen Rahmen dafür bietet die Historische Epistemologie. Sie verfolgt, indem sie politische, soziale und wissenschaftliche Aspekte aufeinander bezieht, mehrere Ziele: Sie zeigt, welche Akteur_innen durch welche Praktiken einen bestimmten Wissenskanon herstellen, aufrechterhalten und transformieren. Ihre Analyse lässt aber auch andere Traditionen, andere Methoden und anders Wissen sichtbar werden. Damit ist neben der historischen Vergewisserung auch eine Veränderung der Geschichtsschreibung der Erziehungswissenschaft möglich.

Das ist das Programm des Bandes „Erinnern, Umschreiben, Vergessen. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis“ von Markus Rieger-Ladich, Anne Rohstock und Karin Amos. Indem sie den Blick auf Praktiken des Erinnerns, Umschreibens und Vergessens lenken, werden jene machtförmigen disziplinären Praktiken zum Gegenstand des Forschungsinteresses, die die Erziehungswissenschaft und ihr Wissen konstituieren. Der Sammelband präsentiert in einem ersten Teil vier einführende Texte, und im zweiten Teil illustrieren acht disziplinhistorische Fallstudien, wie eine Geschichte erziehungswissenschaftlichen Wissens durchgeführt werden könnte.

Eng verknüpft mit der Frage des disziplinären Gedächtnisses sind Archive, denen sich Markus Rieger-Ladich im ersten Beitrag widmet. Unter Bezugnahme auf Ludwik Fleck und die von ihm geprägten Begriffe des Denkstils und -kollektivs versteht er Wissenschaft als soziale Praxis, in der Kämpfe um „richtiges“ Wissen und Deutungshoheit der Realität ausgetragen werden. Er fragt nach den Verlierern der Disziplingeschichtsschreibung und plädiert für komplexe Archive, die nicht exkludieren und dem erziehungswissenschaftlichen Diskurs durch das Wahrnehmen alternativer Narrative Pluralität und Diversität verleihen. Allerdings unterliegen auch Hegemonieansprüche einem Wandel, und ein Mainstream kann auch von ehemals ausgegrenzten Perspektiven und Akteur_innen bestimmt werden.

Historische Diskontinuitäten problematisiert Sebastian Engelmanns Beitrag zur Konstruktion von Klassikern der Pädagogik. Heute, so seine Ausgangsthese, vernachlässigen erziehungswissenschaftliche Studienprogramme die Geschichte der Disziplin und somit ihre Klassiker (und Klassikerinnen?) immer mehr (65). Machtkritik legitimiere diese Ausklammerung. Dennoch erzeuge die Erziehungswissenschaft über verschiedene Rechtfertigungsmodi ihre Klassiker und produziere damit nicht nur Wissenstraditionen, sondern auch Abwesenheiten, weil sie „für dominante Positionen nicht anschlussfähig oder gar unbequem sind“ (87). Um neue Erkenntnisse zur Disziplingeschichte zu generieren, schlägt Engelmann in seinem inspirierenden Text vor, unterschiedliche disziplinäre Diskurse zu verknüpfen. Nicht nur Klassiker, sondern auch verfestigte Geschichtsbilder formieren trotz aller „Versuche der Dekomposition“ (54) eine Disziplin, wie Jürgen Oelkers am Beispiel der Historiografie der Reformpädagogik zeigt.

Welche Rolle spielt in erziehungswissenschaftlichen Forschungen das Faktum der Unbestimmtheit des Menschen, der pädagogische Absichten eigensinnig verarbeitet? Wie geht die Disziplin mit der Offenheit der Zukunft, auf die Erziehung und Bildung vorbereiten sollen, um? Das sind Fragen, die Karin Amos und Laura Böckmann im Text „Relationalität, Kollektivität, Wissenschaft“ stellen.
Der Umgang mit Kontingenz und Ungewissheit präge das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft und sei ein Grund für den Widerstreit zwischen empirischer Wissenschaft und Philosophie. Die Disziplin müsse sich die Frage stellen, „ob dominante Stränge der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft nicht dabei sind, einem totalen Zugriff innerhalb einer zunehmend hierarchischen, totalitären Gesellschaft das Wort zu reden – in der das Subjekt als theoretisch nie vollständig erfassbares nicht mehr vorkommt“ (117).

Den zweiten Teil des Sammelbandes eröffnet Anne Rostock mit der Rekonstruktion des Zusammenhangs von Wissenschaft und Politik in der Nachkriegszeit. Während die Verstrickungen von Vertretern der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik in den Nationalsozialismus im Gedächtnis der Disziplin dokumentiert seien, sei wenig über die Vergangenheit von eher empirisch ausgerichteten Bildungsforschern wie Friedrich Edding und seiner Gedankenwelt bekannt. Wie die Disziplin mit der Geschichte ihrer Vertreter_innen umgeht, thematisiert auch Micha Brumlik in seinem Beitrag „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ am Beispiel eines Forschungspreises der DGfE, der nach Heinrich Roth benannt werden sollte. Während die Rücknahme der Benennung des Preises nach Roth später vom Vorstand der DGfE und anderen Wissenschafter_innen unterstützt wurde, äußerte Jörg Schlömerkemper Einwände gegen die Umbenennung des Preises. Diese kritisiert Brumlik als fehlgeleiteten Historismus.

Das Thema des Beitrags von Dirk Braunstein und Fabian Link sind die Reeducation-Konzepte des Instituts fĂĽr Sozialforschung in den 1950er Jahren. Sie beschreiben darin die Absichten Horkheimers und Adornos, durch soziologisch-philosophische Lehre, empirische Sozialforschung und Ă–ffentlichkeitsarbeit einen Demokratisierungsprozess in Deutschland in Gang zu setzen, der eine Wiederholung von Ausschwitz verhindern sollte. Ihre AusfĂĽhrungen zeigen, wie sich ĂĽber die Zeit eine gewisse ErnĂĽchterung gegenĂĽber der Soziologie als Demokratisierungswissenschaft einstellte.

Wie sich eine Disziplin formiert und entwickelt, hängt wesentlich damit zusammen, wie sie Wissen tradiert. Wie etabliert sich ein Kanon an Wissensbeständen und wie beeinflusst dies Wissensproduktionen? Was passiert eigentlich genau, wenn etwas tradiert wird? Mit solchen Fragen befassen sich Carsten Bünger und Sabrina Schenk, indem sie Tradierung mit Bildungstheorien bei Günther Buck und Heinz-Joachim Heydorn verbinden. Deren Motive „Belehrung“ und „Neufassung“ lesen Bünger und Schenk als zwei Chiffren des Übersetzens und sie schlussfolgern, dass vor einem bildungstheoretischen Hintergrund Tradieren „als ein systematisch unendlicher Prozess zu verstehen“ (250) sei.
Meike Sophia Baader thematisiert in ihrem Beitrag „Blinde Flecken der Disziplin und ihrer Geschichte“ pädosexuelle Diskurspositionen zwischen den 1960er und den 1990er Jahren. Damals dominierte als Reaktion auf eine körperfeindliche Erziehung in der Nachkriegszeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft eine Befreiungs- und Enttabuisierungsrhetorik. Erst das kritische Engagement der Frauenbewegung in den 1980er Jahren hat zu einem Bruch im Diskurs über Pädophilie geführt. Mit dem Feminismus aus einer wissensgeschichtlichen Perspektive beschäftigen sich Rita Casale und Jeanette Windheuser. Unter Bezugnahme auf die Konzepte der Menschenrechte, des Postkolonialismus und des Humankapitals rekonstruieren sie die Geschichte des Feminismus und seiner Institutionalisierung nach 1945.

Morvarid Dehnavi, Julia Kurig, Andrea Wienhaus und Carola Groppe untersuchen in ihrem Beitrag die Kategorie des Sozialen in den Disziplinen Erziehungswissenschaft, Germanistik und Geschichtswissenschaften in den 1960er und 1970er Jahren. Zur Beschreibung der Transformation wissenschaftlichen Wissens verwenden sie die Theorie der Pfadabhängigkeit und begreifen „einen Wissenspfad als weitgehend routinisierten Weg zur Bearbeitung und Lösung von Aufgaben“ (212). Markante Unterschiede zeigen sich in der Konstruktion des Sozialen. Während sich in der Germanistik eine Pfadpluralisierung zeigt und in der der Geschichtswissenschaft zeitweise ein hegemonialer Wissenspfad auszumachen ist, lassen sich in der Erziehungswissenschaft die kritische und die empirische Erziehungswissenschaft als „neue“ Pfade beobachten. Beide stellen sich gegen die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und konkurrieren zugleich in der Konstruktion des Sozialen.

Schließlich erinnert Heinz-Elmar Tenorth an die Funktion des Vergessens im erziehungswissenschaftlichen Arbeiten: „Regeln und Praktiken der wissenschaftlichen Kommunikation“ erzeugen „Erinnern und Vergessen, Anschluss und Ausschluss zugleich“ (309).

„Erinnern, Vergessen, Umschreiben. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis“ gibt durch die verschiedenen Zugänge und Themen einen bemerkenswerten Einblick in die Arbeit einer Disziplin, die sich kritisch mit ihrem Selbstverständnis auseinandersetzt und die die Konstruktionsweise ihrer Geschichte durch eine Spurensuche nach Vergessenem, Verborgenem und Ausgeschlossenem hinterfragt. Die vielseitigen Beiträge machen zudem deutlich, dass eine Disziplingeschichtsschreibung immer auch mit einem methodischen Vergessen operiert. Jede Denktradition produziert als ihre Kehrseite Verwerfungen und Ausschlüsse. Das gilt nicht nur für Theorien und Gegenstände, sondern auch für Methodologien und deren Einflüsse auf die Wissensproduktion, auf die man aus wissensgeschichtlicher Perspektive in weiteren Schriften eingehen müsste. Wissensgeschichtliche Zugänge, wie sie die Autor_innen des Sammelbandes wählen, könnten schließlich den Weg bereiten, um eine Form der Disziplingeschichtsschreibung voranzutreiben, die die zentralen Konzepte des „Pädagogischen Jahrhunderts“ einer radikalen Kritik unterzieht. Dekoloniale Optionen, die im Anschluss an Walter Mignolos „Epistemischen Ungehorsam“ die westliche Moderne und ihre epistemologischen Implikationen grundsätzlich in Frage stellen, können dafür einen Anstoß geben.
Tanja Obex (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tanja Obex: Rezension von: Rieger-Ladich, Markus / Rohstock, Anne / Amos, Karin (Hg.): Erinnern, Umschreiben, Vergessen, Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis. Weilerswirst: VelbrĂĽck 2019. In: EWR 18 (2019), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978395832068.html