EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)

Jochen Kade
Individualität, Solidarität, Schicksal
Selbstbildung zwischen 1984 und 2009
Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2022
(312 S.; ISBN 978-3-95832-304-9; 44,90 EUR)
Individualität, Solidarität, Schicksal Mit der Monographie Individualität, Solidarität, Schicksal. Selbstbildung zwischen 1984 und 2009 bringt Jochen Kade ein groß angelegtes Forschungsprojekt zum Abschluss. Kade, der durch seine Studien zum „Umgang mit Wissen“, zur „pädagogischen Kommunikation“ sowie zur „Entgrenzung des Pädagogischen“ maßgeblich zu Theorie und Empirie der Erwachsenenbildung beigetragen hat, führt in dieser neuen Publikation Ergebnisse bildungsbiographischer Forschung aus mehreren Jahrzehnten zusammen. Dabei geht es ihm um nicht weniger als um die Rekonstruktion des historischen Wandels des „gesellschaftlichen Curriculums von Selbstbildung“ (14), wie er sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zugetragen habe. Mit diesem Wandel – so Kades zentrale These – korrespondiert nicht nur der Wandel einzelner Individualitätsformen, sondern der Individualitätsform an sich. Habe in den 1970er- und 1980er-Jahren im Zuge gesellschaftlicher Emanzipationsschübe eine „auf individuelle Besonderheiten hin zentrierte Individualität“ (269) im Fokus von Selbstbildung gestanden, habe sich diese ab den 1980er- und insbesondere in den 1990er- und 2000er-Jahren zu einer „sozialgeöffneten Individualität“ (19) transformiert, die zunehmend auch Bezüge zu Solidarität und Schicksal als Referenzen von Selbstbildung aufweise.

Diese These entfaltet Kade auf Basis eines anspruchsvollen Forschungsdesigns, das auf eine empirisch gehaltvolle Theoriebildung ausgerichtet ist. Er verknüpft bildungstheoretische Überlegungen zum Diskurs der Selbstbildung mit einem systemtheoretisch geprägten Ansatz erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. Anders als in stärker phänomenologisch ausgerichteten Zugängen der Biographieforschung macht Kade damit den Gegenstand der Biographieforschung weniger an biographischen Prozessstrukturen fest, sondern untersucht Biographien „als operativ erzeugte Beobachtungen“ (29), in denen sich das erzählende Subjekt selbst konstruiert. Die Nähe von „Biographie“ und „Bildung“ wird hieran besonders deutlich, denn Kade begreift Selbstbildung im Anschluss an Heinz-Elmar Tenorth als Selbstkonstruktion des Individuums, die immer auch Aneignung von Welt bedeute. Folglich stellen biographische Erzählungen ein „Medium der Selbstbildung“ (29) dar, in denen „der Einzelne seinen Lebenslauf aus seiner individuellen Perspektive [erzählt] und […] sein Verhältnis zur Welt“ (29) hervorbringt. Dem Umstand, dass sich Biographien über Prozesse der Biographisierung fortlaufend verändern und aktualisieren, trägt Kade mit dem eigens entwickelten Konzept der „seriellen Bildungsgestalt“ (32) Rechnung, demzufolge es sich bei einer biographischen Erzählung immer um eine „gegenwartsgebundene Momentaufnahme“ (33) von Selbstbildung handle; sie stehe im Kontext von früheren und späteren biographisch artikulierten Bildungsgestalten. Hieraus folgert Kade, dass der historische Wandel von Selbstbildungskonstellationen über einen Vergleich solcher zu verschiedenen Zeitpunkten erhobenen Bildungsgestalten rekonstruiert werden könne.

Methodisch arbeitet Kade daher mit einem qualitativen „Längsschnittdesign“ (15). 1984 hat er 85 „biographisch fokussierte Interviewgespräche“ (17) geführt, wobei er seine Interviewpartner:innen auf Grundlage der Zuordnung zu unterschiedlichen Generationen (Vorkriegs- und Kriegsgeneration; Nachkriegsgeneration; Babyboomer) auswählt. 50 von ihnen wurden 2009 erneut befragt. Elf dieser „Doppel-Interviews“ (18) – also insgesamt 22 Interviews – bilden die Grundlage der Monographie.

Ehe Kade die empirische Analyse dieses umfangreichen biographischen Materials vorlegt, bestimmt er die titelgebenden Begriffe Individualität und Solidarität bildungstheoretisch und soziologisch näher. Bei diesen handle es sich um die „normativen und inhaltlichen Referenzen“ (37) von Selbstbildung. Individualität differenziert er dabei in „Emanzipation“ und „Karriere“ (40) weiter aus, wobei Emanzipation seit den 1980er-Jahren von Karriere als dominantem Bezugspunkt von Individualität abgelöst worden sei. Im Zentrum von Emanzipation stehe die „Befreiung von in [der Vergangenheit] getroffenen, in der Gegenwart fortwirkenden, zukunftsbedeutsamen Festlegungen“ (43). Karriere hingegen bestimme „Individualität wesensmäßig zukunftsbezogen“ (43), in ihr gehe es um die auf Entscheidungsfreiheit basierende Gestaltung zukünftiger Individualität. Solidarität schließlich fasst Kade als „andere Seite von Individualität“ (46), sie werde in pluralisierten Gesellschaften zu deren Voraussetzung.

Diese begrifflichen Bestimmungen leiten nun Kades empirische Analyse, den zweiten Teil der Studie. Nach einer knappen Vorstellung der elf Fälle (I) finden sich hier vier Unterkapitel (II-V). Sie alle fokussieren die Zeitdimension von Selbstbildung unter Bezug auf so unterschiedliche Kontexte wie „Zeitgeschichte, Generation, Lebensalter und Lebensspanne“ (22). Für die Lektüre der Kapitel erweisen sich die einführenden Hinweise des Autors als hilfreich, demzufolge jedes Kapitel als eigene kleine Studie betrachtet werden kann. Dennoch erfordern die Kapitel eine konzentrierte Lektüre, was nicht nur auf den hohen Abstraktionsgrad der Analysen, sondern auch auf darstellungsbezogene Entscheidungen des Autors zurückgeführt werden kann. So arbeitet Kade im empirischen Hauptteil fast durchgehend mit „formalen Codierung[en]“ (287) für die pseudonymisierten Fälle. Das mag aus einer bestimmten biographietheoretischen Perspektive vertretbar sein, stellt die Leser:innen allerdings fortlaufend vor die Aufgabe, Code in Pseudonym zu übersetzen. Auf Redundanzen, die durch die wiederholte Analyse ein- und desselben Materials entstehen, weist der Autor bereits vorab hin.

Trotz der komplexen Anlage gelingt es Kade, jede seiner Teilstudien unter Bezug auf die von ihm jeweils zentral gesetzten Kontexte zu bündeln. Im Hinblick auf den zeitgeschichtlichen Kontext, den er im ersten dieser empirischen Unterkapitel (II) analysiert, kann er etwa herausarbeiten, wie sich „Emanzipation“ und „Karriere“ durch die zeitgeschichtlichen Kontexte vermittelt in den erhobenen Bildungsgestalten niederschlagen. Bereits hier treten generationale Unterschiede hervor, die Kade in den anderen Unterkapiteln (III-V) heranzieht, um seine Thesen zu organisieren. Dabei fokussiert er durchgehend die Nachkriegsgeneration und nutzt die Fälle aus der Vorkriegs-, Kriegs- und Babyboomer-Generation zur Kontrastierung.

Dass die Selbstbildungsgestalten einem historischen Wandel unterliegen, wird im Besonderen in der „methodologisch zentrale[n]“ (22) Teilstudie V deutlich, in der Kade sowohl inter- als auch intraindividuelle Vergleiche von Selbstbildung über die Lebensspanne vorlegt. Dazu stellt er die 1984 und 2009 erhobenen bildungsbiographischen Erzählungen als Bildungsgestalten I und II einander gegenüber. Über dieses Verfahren kann er zeigen, wie für die Nachkriegsgeneration in den Bildungsgestalten von 1984 „forcierte emanzipative Neuanfänge“ (193) dominierten, wohingegen 2009 eine „sozial ausgleichende Individualität“ (193) überwiege. So arbeitet er beispielsweise für den Fall „Elisabeth Ersfeld“ heraus, wie für ihre Bildungsgestalt zum Zeitpunkt des ersten Interviews im Jahr 1984 die Emanzipation von ihrer religiös geprägten Herkunft überwiege, wohingegen im Jahr 2009 ihre biographische Erzählung um berufliche Kompromissbildungen kreist. Für die Vorkriegsgeneration vergleicht er auf „nachgeholte Emanzipation“ (192) ausgerichtete Bildungsgestalten I mit auf „Erfahrungen sozialer (Re-)Integration“ (175) bezogene Bildungsgestalten II. Für die Babyboomer-Generation unterscheidet er Bildungestalten I als „selbstbewusste Anspruchsindividualität“ (217) von Bildungsgestalten II, die die individuelle Karriere als Referenz von Individualität durch soziale Einbindungen relativierten.

Diese Befunde bilden dann die Grundlage von Kades übergeordneter These, die er im dritten Teil der Monographie neben einer Untersuchung der narrativen Form der Bildungsgestalten und Überlegungen zu einem Ethos der Selbstbildung verdichtet: „Die Analysen verdeutlichen, wie sich zwischen 1984 und 2009 (…) die Individualitätsform selbst von einer auf individuelle Besonderheit hin zentrierten Individualität zu einer sozial geöffneten verschiebt“ (269). Diese These rückt Kade in den Kontext anderer Zeitdiagnosen, allen voran Andreas Reckwitz‘ soziologischem Bestseller Die Gesellschaft der Singularitäten [1]. Dieser Bezug wirft allerdings Fragen auf: Während Reckwitz bekanntlich die „neue Mittelklasse“ als Trägerin des Wandels der Subjektform ab den 1980er-Jahren identifiziert, scheint Kade das Argument zu vertreten, dass sich der Wandel der Individualitätsform gesamtgesellschaftlich vollzogen habe. Sein Sample bezieht sich jedoch auf „im weitesten Sinne, lern- und bildungsinteressierte Erwachsene“ (17), die – und hier im Besonderen die Angehörigen der sogenannten „Nachkriegsgeneration“ – von den Emanzipationsschüben nach 1968 erfasst worden seien. Zu fragen ist also, ob jenseits des breiten, durchaus mit sozialen Aufstiegen verbundenen mittelständischen Spektrums, das Kade mit seiner Studie abdeckt, sich nicht auch noch soziale Gruppen und Milieus mit anderen Selbstbildungskonstellationen finden lassen. Andernfalls steht eine Analyse des Wandels von Selbstbildung in der Gefahr eines (bildungs-)bürgerlichen Bias, der durch die normativen Referenzen Emanzipation und Karriere mitunter ohnehin angelegt ist. Aus Perspektive erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung wäre zudem eine stärkere Anbindung an Diskurse zu Biographisierung oder Biographizität wünschenswert, da Kades Studie auch Fragen offen lässt: Wie gelingt es den Subjekten, ihre biographischen Erfahrungen über die Lebensspanne fortwährend in neuen Bildungsgestalten zu reorganisieren und im Lichte sich wandelnder gesellschaftlicher Anforderungen (neu) auszudeuten? Oder um es in Kades Worten auszudrücken: Wie sind die empirisch feststellbaren „Bildungskorrekturen“ (226) überhaupt möglich? Wie steht es um die Normativität des „gesellschaftlich entwickelte[n] Curriculums von Selbstbildungsgestalten“ (225)?

Für weiterführende Forschung scheint hier der Bezug auf schon vorliegende Forschungsarbeiten sozial- und erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung angeraten. Anschlüsse zu Literatur, die Selbstbildungskonstellationen auf Grundlage biographischer Prozesse analysiert sowie auf Veränderungen im spätmodernen Lebenslaufregime bezieht oder den Wandel der Subjektform aus biographietheoretischer Perspektive diskutiert [2], stellt Kade in seiner ambitionierten Zeitdiagnose nämlich nur selten her. Für eine bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung enthält sie allerdings eine Reihe von Anregungen – darunter die empirisch anschlussfähige Heuristik der „Bildungsgestalt“ –, die zu einer stärker systemtheoretischen Öffnung bildungsbiographischer Forschungsarbeiten beitragen könnte. Entsprechend lässt sich gerade für eine Leser:innenschaft, die an einer innovativen Verknüpfung von Bildungstheorie und Bildungsforschung mit gesellschaftsdiagnostischem Anspruch interessiert ist, eine Empfehlung aussprechen.

[1] Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp.
[2] Alheit, P. (2013). Subjektfigurationen in der Moderne: Zum Wandel autobiografischer Formate. In C. Heinze & A. Hornung (Hrsg.), Medialisierungsformen des (Auto-)Biografischen (S. 33–54). UVK Verlag.

Amos Christopher Postner (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Amos Christopher Postner: Rezension von: Jochen, Kade,: Individualität, Solidarität, Schicksal, Selbstbildung zwischen 1984 und 2009. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978395832304.html