EWR 19 (2020), Nr. 1 (Januar / Februar)

Markus Rieger-Ladich
Bildungstheorien zur Einführung
Hamburg: Junius Verlag 2019
(230 S.; ISBN 978-3-96060-304-7; 14,90 EUR)
Bildungstheorien zur Einführung Der in der prominenten Reihe „zur Einführung“ des Junius-Verlags erschienene Band widmet sich dem Themengebiet der Bildungstheorien. Dabei zeigt Markus Rieger-Ladich, dass es gar nicht so einfach ist, den Gegenstand des Buches genau zu bestimmen. Dies lässt sich laut der Einleitung darauf zurückführen, dass zwar in unterschiedlichsten Zusammenhängen öffentlich über Bildung geredet wird, es mitunter aber weitgehend unklar bleibt, was im jeweiligen Fall unter Bildung zu verstehen ist. Dies erklärt auch die zahllosen vergangenen und gegenwärtigen Versuche, „das näher zu bestimmen, was wir Bildung nennen“ (12). Bildungstheorien klären demnach, so lässt sich schließen, von was die Rede ist, wenn über Bildung geredet wird.

Kompliziert wird die Sache nun aber aus zwei Gründen, wie man ebenfalls der Einleitung entnehmen kann. Denn neben der Auseinandersetzung mit öffentlichen Debatten über Bildung reicht es zum einen nicht, sich an einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin zu orientieren, um die Bedeutung von Bildung zu klären. Dies liegt daran, so Rieger-Ladich, dass neben der Erziehungswissenschaft auch etliche andere Disziplinen – genannt werden Philosophie, Geschichtswissenschaft, Theologie, Soziologie und Germanistik – wichtige Beiträge zur Bestimmung des Bildungsbegriffs geliefert haben. Zum anderen müsse man bedenken, dass mitunter auch Beiträge zu beachten sind, die zwar den Bildungsbegriff nicht verwenden, aber dennoch den Gegenstand verhandeln, „den wir mit dieser deutschen Wortprägung bezeichnen“ (21). Entsprechend überschreitet Rieger-Ladich bei seiner Auswahl an Bildungstheorien, mit der „etwas von dem Facettenreichtum des Bildungsdiskurses“ (ebd.) eingefangen werden soll, sowohl nationalsprachliche als auch disziplinäre Grenzen.

Gerahmt von einer ausführlichen Einleitung (Kapitel 1) und einem ebenso gehaltvollen Schluss (Kapitel 9) werden in insgesamt sieben Kapiteln ausgewählte Bildungstheorien präsentiert. Die Theorien sowie die Kapitel sind dabei weitgehend chronologisch angeordnet und umfassen einen Zeitraum, der von der griechischen Antike bis in die Gegenwart reicht. Dabei liegt der Schwerpunkt eindeutig auf dem 20. Jahrhundert, da sich nur zwei Kapitel mit wesentlich früher entstandenen Bildungstheorien auseinandersetzen.
Begonnen wird im zweiten Kapitel mit Platon und seinem Höhlengleichnis, gefolgt von einer Auseinandersetzung mit Meister Eckhart, dem „Begründer der Rede von Bildung“ (36). Ebenso werden in diesem Kapitel Pico della Mirandola und sein Werk „Von der Würde des Menschen“ sowie Michel de Montaigne und seine „Essais“ in bildungstheoretischer Hinsicht behandelt.

Vom Ausgang der Renaissance bei Montaigne gehen die Überlegungen mit dem dritten Kapitel weiter zum Neuhumanismus und den „(vermeintlichen) Begründern der Bildungstheorie“ (46), Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher. Um den vielfach vorherrschenden Verklärungen dieser Bildungstheoretiker entgegenzutreten, betont Rieger-Ladich, dass beide „Teil eines weitgespannten, polyphonen intellektuellen Netzwerks“ (48) und keine einsamen Meisterdenker waren. Interessant ist diese kritische Vorüberlegung insofern, als Humboldt vor allem die Bildung des Individuums im Blick hatte, während für Schleiermacher bestimmte Formen der Geselligkeit Bildungsmöglichkeiten eröffneten. Als Prototyp bildender Geselligkeit gilt die sich damals entwickelnde Salonkultur, gerade weil hier unterschiedliche Erfahrungswelten auf anregende Art und Weise aufeinandertreffen konnten.

Das vierte Kapitel widmet sich John Dewey, der als Kritiker neuhumanistischer Bildungsideen und als Vertreter einer sowohl pragmatischen als auch demokratischen Pädagogik vorgestellt wird. Da Deweys pädagogische Überlegungen auf die Weiterentwicklung der realen Gesellschaft zielen, seien sie gerade im deutschsprachigen Raum vielfach mit der Hoffnung rezipiert worden, sich vom Neuhumanismus zu lösen und einen Neuanfang für eine andere Form von Bildungstheorie zu finden. Jedoch unterstreicht Rieger-Ladich die mangelhafte Auseinandersetzung Deweys mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit. So habe Dewey zwar die Idee einer großen demokratischen Gemeinschaft eindrucksvoll vertreten, über den realen Rassismus gegenüber Afroamerikanern in den USA erstaunlicherweise jedoch kein Wort verloren.

Nach Dewey widmet sich Rieger-Ladich nur noch solchen Bildungstheorien, die, im engeren oder weiteren Sinne, als ‚kritisch‘ bezeichnet werden können. Den Anfang machen dabei im fünften Kapitel unterschiedliche Entwürfe zu einer deutschsprachigen Kritischen Bildungstheorie. Dabei bezieht sich der Autor auf die beiden wohl prominentesten Vertreter der Kritischen Theorie, auf Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, sowie auf den Erziehungswissenschaftler Heinz-Joachim Heydorn.

Im sechsten Kapitel richtet sich der Blick auf kritische Theorien aus dem französisch- und englischsprachigen Raum. Mit Pierre Bourdieu und diversen Vertretern der Cultural Studies werden Theorien behandelt, die sich mit Bildungsinstitutionen und deren Beitrag zur Reproduktion sozialer Ungleichheit auseinandersetzen. Während mit Bourdieu gezeigt werden kann, wie die Bildung des Geschmacks mit Prozessen sozialer Distinktion zusammenhängt, verweisen die Cultural Studies auf widerständige kulturelle Praktiken und Bildungsprozesse, mit denen benachteiligte soziale Gruppen „um die Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten“ (130) ringen.
Auch im siebten Kapitel stehen Emanzipationsprozesse benachteiligter Gruppen im Zentrum. Jedoch zeigt sich in der Auseinandersetzung mit den Schriften von Jacques Rancière und Gayatri Chakravorty Spivak, dass derartige Emanzipations- bzw. Bildungsprozesse nicht stellvertretend von Lehrenden, Intellektuellen oder privilegierten sozialen Gruppen initiiert werden können, da sich so Formen der Bevormundung etablieren, die befreiende Bildungsdynamiken gerade verhindern. Während sich Rancière daher im Hinblick auf das „Proletariat und prekär Beschäftigte in den Ländern des globalen Nordens“ (156) dafür ausspricht, deren intellektuelle Ebenbürtigkeit anzuerkennen, betont Spivak, dass sich „die Kinder der armen Landbevölkerung im globalen Süden“ (ebd.) nur dann von (neo-)kolonialen Herrschaftsstrukturen befreien können, wenn nicht nur sie sich bilden, sondern parallel dazu auch die Privilegierten im globalen Norden von ihnen lernen.

Ihren Höhe- oder zumindest Endpunkt erreicht die Vorstellung ausgewählter Bildungstheorien im achten Kapitel mit Michael Foucault und Judith Butler, die „zu den wichtigsten Referenzen einer machtkritischen Bildungstheorie gezählt werden“ (158). Dabei ermöglicht es die Bezugnahme auf Foucault und Butler, Bildung als eine Form der Subjektivierung zu begreifen, die dann auch empirisch erforscht und nachgezeichnet werden kann. Während durch diese Reformulierung einerseits eine neue Perspektive auf das Phänomen Bildung gewonnen wird, erachtet es Rieger-Ladich andererseits als durchaus fragwürdig, ob hierbei nicht auch ein Verlust bilanziert werden sollte.

Im neunten Kapitel, dem Schluss, führt Rieger-Ladich noch drei Herausforderungen an, vor denen für ihn „Entwürfe zeitgenössischer Bildungstheorien stehen“ (181). Dabei geht es um das Verhältnis von Aktivität und Passivität, von Ereignis und Struktur sowie von Individualität und Kollektivität. Daran anschließend verweist er auf drei neue Forschungsstile, mit denen aktuelle „Vertreterinnen der Bildungstheorie“ (187) auf die zuvor behandelten Herausforderungen reagieren: die Praxeologische Bildungsforschung, die Transformatorische sowie die kulturwissenschaftlich inspirierte Bildungstheorie.

Dieses Schlusskapitel ist insofern für das Verständnis des Gegenstandes der gesamten Einführung wichtig, als nun explizit von Vertretern sowie von einem „Diskurs der Bildungstheorie“ (180), von einem disziplinären Gedächtnis und damit doch noch zumindest implizit auch von einer Disziplin namens Bildungstheorie die Rede ist. Zwar wird auch an dieser Stelle betont, dass sich der bildungstheoretische Diskurs durch Beiträge aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen nährt, doch scheint es eben Aufgabe einer disziplinär verfassten Bildungstheorie zu sein, diese zur Entwicklung zeit- bzw. kontextgemäßer Vorstellungen von Bildung in den Blick zu nehmen, zu analysieren, zu systematisieren, zu vergleichen, und schließlich natürlich auch zu diskutieren und zu kritisieren.

Das letzte Kapitel dieser Einführung legt damit den Schluss nahe, dass in diesem Band mit zwei unterschiedlichen Verständnissen von Bildungstheorie operiert wird. Denn als Bildungstheorien werden einerseits jene mehr oder weniger historischen Beiträge bezeichnet, die im Mittelpunkt stehen und in den Kapiteln zwei bis acht verhandelt werden. Als Bildungstheorien lassen sich andererseits auch die aktuellen bildungstheoretischen Konzepte bezeichnen, die erst im Schlusskapitel angesprochen werden. Da es sich bei der ersten Gruppe ‚nur‘ um die zentralen Referenzen und wichtigen Inspirationsquellen für die zweite Gruppe handelt, würde ich hinsichtlich der ersten Gruppe von Bildungstheorien im weiteren, bezüglich der zweiten Gruppe von Bildungstheorien im engeren Sinne sprechen. Diese Unterscheidung erscheint auch deshalb gerechtfertigt, da die Referenztheorien – zumindest jene, in denen der Bildungsbegriff gar keine Rolle spielt – eigentlich erst dadurch zu Bildungstheorien werden, dass man sie aus bildungstheoretischer Perspektive in den Blick nimmt.

Gegenstand dieses Junius-Bandes sind demnach in erster Linie Bildungstheorien im weiteren Sinne. Diese Fokussierung erscheint durchaus legitim, vor allem, da es sich ja um eine Einführung handelt, die so ein weites Publikum anspricht. Da es sich bei den behandelten Theorien und Werken sozusagen um transdisziplinäre Klassiker der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaft handelt, und die Ausführungen nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch sprachlich überaus überzeugen, kann dem Band geradezu ein allgemeinbildendes Potenzial zugesprochen werden.

Auch für Expertenkreise interessant dürfte an dem vorgelegten Konzept sein, dass hier kein spezifisches Bildungsverständnis zugrunde gelegt, vertreten oder favorisiert, sondern vielmehr von einer Pluralität an mitunter auch sehr heterogenen Bildungsbegriffen ausgegangen wird. Denn der Autor will hier nicht aufzeigen, was Bildung (eigentlich) bedeutet oder bedeuten sollte, sondern demonstriert vielmehr überzeugend, dass der Bildungsbegriff, vor allem in unterschiedlichen Kontexten, ganz unterschiedlich verstanden werden kann.

Wegweisend dürfte diese Einführung insofern sein, als hier (endlich) auch die Relevanz postkolonialer Theorie für ein zeitgemäßes Verständnis von Bildung deutlich wird. Zumindest für den deutschsprachigen Raum ist das eine nicht zu unterschätzende innovative Entwicklung, da sich dadurch eine Öffnung des Bildungsdiskurses in Richtung Globaler Süden andeutet.

Betrachtet man die Auswahl der präsentierten Bildungstheorien – von Platon bis Judith Butler – jedoch vor dem Hintergrund aktueller Debatten zur epistemischen Dekolonialisierung, so drängt sich dennoch die Frage auf, ob mit dieser nicht doch wieder ein epistemische Überlegenheit suggerierendes eurozentrisches Narrativ genährt wird. Denn wesentliche Beiträge zum Diskurs der Bildungstheorie wurden angesichts dieser Auswahl scheinbar lediglich im abendländisch-europäischen bzw. westlichen – seit einiger Zeit wohl sogar nur im anglo- und frankophonen – Raum hervorgebracht. Dies sagt zwar viel über den Stand der hiesigen bildungstheoretischen Diskussion aus, gibt aber auch Anlass zur kritischen Reflexion.

Rückschlüsse auf den aktuellen deutschsprachigen Bildungsdiskurs erscheinen insofern gerechtfertigt, als der Autor, wie er selbst mit Nachdruck in der Einleitung betont, kein neutraler und unbeteiligter Beobachter, sondern, wie man hinzufügen kann, ein in dieser Disziplin gut situierter Akteur ist. Und wenn auch für diesen gilt, dass wir es – wie er selbst im Hinblick auf etliche der von ihm behandelten Bildungstheoretiker unterstreicht – nicht mit einem ‚einsamen Meisterdenker‘, sondern mit dem Mitglied eines ‚Denkkollektivs‘ zu tun haben, so müsste die in dieser Einführung vertretene Sichtweise ebenfalls über den Autor hinausweisen, und zumindest über Positionierungen, Situierungen und Verflechtungen eines Teilbereichs der Disziplin Auskunft geben. Nicht nur aufgrund dieser Einsichten kann Markus Rieger-Ladichs Einführung in das Feld der Bildungstheorien sowohl Studierenden als auch Expertinnen unterschiedlichster Disziplinen empfohlen werden.
Phillip D. Th. Knobloch (Dortmund/Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Phillip D. Th. Knobloch: Rezension von: Rieger-Ladich, Markus: Bildungstheorien zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 1 (Veröffentlicht am 18.03.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978396060304.html