EWR 13 (2014), Nr. 4 (Juli/August)

Herrmann Korte / Hans-Joachim Jakob / Bastian Dewenter (Hrsg.)
„Das böse Tier Theaterpublikum“
Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Eine Dokumentation
Heidelberg: Winter Universitätsverlag 2014
(243 S.; ISBN 978-3-8253-6280-5; 35,00 EUR)
„Das böse Tier Theaterpublikum“ Im Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte schreibt Hans-Jörg Grell über die Institutionalisierung und Reform des deutschsprachigen Theaterwesens im 18. Jahrhundert, dass dort, wo Theater gespielt wurde und es aufklärerische Ideen und Ideale unters Volk bringen wollte, es sich solcher Stücke bediente, die bürgerliche Tugenden propagierten, um das Publikum zu bilden und zu erziehen [1].

Grell rekonstruiert diesen wirkungsästhetischen und pädagogischen Anspruch – wie das auch schon in vielen geläufigen literaturhistorischen Darstellungen geschehen ist – anhand der Trias der kanonischen Theatertheoretiker: Gottsched – Lessing – Goethe. Zu leicht könnte sich bei einer derartigen ‚Gipfelwanderung‘ die Vorstellung einschleichen, es handle sich bei der Institutionalisierung des deutschsprachigen Theaters um das Projekt einer kleinen Bildungselite. Ein Blick in die zahlreichen Theaterjournale dieser Zeit eröffnet aber ein differenzierteres Bild und ermöglicht, einen Eindruck von der Beteiligung des Theaterpublikums an den Institutionalisierungsprozessen und den Debatten um die Reformierung des Theaterwesens zu gewinnen. Einen solchen Erkenntnisgewinn verspricht der Band von Hermann Korte, Hans-Joachim Jakob und Bastian Dewenter. Er macht die Debatten um das Theaterpublikum, wie sie in den deutschsprachigen Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts stattgefunden haben, dem Interessierten zugänglich und erschließt damit die diskursive Konstruktion der Theaterzuschauerinnen und -zuschauer, den „Normierungsdiskurs“ (53) und den „theaterpädagogischen Rahmen des Reformprogramms“ (33) der sowohl Schauspieler als auch Zuschauer betraf.

Obgleich es sich bei diesem Band um einen theaterwissenschaftlichen Beitrag zur historischen Theaterpublikumsforschung handelt – er ist der zweite Band aus der Reihe „Proszenium. Beiträge zur historischen Theaterpublikumsforschung“ –, machen die Autoren aber an vielen Stellen deutlich, dass die Debatten um das Theaterpublikum im 18. und frühen 19. Jahrhundert auch pädagogische Fragestellungen beinhalten. Korte schreibt beispielsweise, dass Idealvorstellungen vom Publikum geradezu mit „nationalpädagogischem Pathos“ (17) vorgetragen wurden, Anekdoten über vorbildliches oder undiszipliniertes Zuschauerverhalten einen „didaktischen Hintersinn“ (20) oder eine „theaterdidaktische Substruktur“ (33) aufwiesen und die zeitgenössischen Autoren nicht müde wurden, sich in ihren Beiträgen des bekannten „Bildungstopos“ (29) zu bedienen. Den Einschätzungen, die das Theater als „Schule des guten Geschmacks“ (34) oder als „Schule der Sitten“ (37) bezeichneten, standen aber auch solche gegenüber, die die Unterhaltung im Theater, die Unterbrechung des Alltags sowie die Intensität der kollektiven Rezeption in der Vordergrund rückten und den „Konnex von Theater, Bildsamkeit und ästhetischer Urteilskraft“ (21) unberücksichtigt ließen.

Der Band teilt sich in einen analytischen und einen dokumentarischen Teil. Im ersten Teil stellt Korte vier Themenkreise vor, die in den entsprechenden Theater- und Literaturzeitschriften diskutiert wurden. Der Beitrag von Hans-Joachim Jakob ist eine Einführung in die quellenbasierte Arbeit der historischen Theaterpublikumsforschung und ihrer Probleme. Der zweite Teil enthält eine exemplarische Auswahl von transkribierten und kommentierten Quellentexten.

Trotz der sogenannten „Entdeckung des Zuschauers“ (Fischer-Lichte) in der Theaterwissenschaft bleiben Arbeiten zur historischen Theaterpublikumsforschung, so Korte, eher seltene Ausnahmen, obwohl inzwischen eine ganze Reihe von unterschiedlichen Quellen zugänglich gemacht wurde. Jakob weist darauf hin, dass viele zeitgenössische Theater-, Literatur- und Kulturzeitschriften bereits digitalisiert vorliegen, 150 überlieferte Theaterjournale im Theaterperiodika-Repertorium verzeichnet sind und auch Beiträge der Anstands- und Konversationsliteratur, Ego-Dokumente sowie auch Theaterromane des 18. und 19. Jahrhunderts – die trotz ihrer Fiktionalität aus diskursanalytischer Perspektive eine Relevanz haben – als Quellen ausgewertet werden können.

Korte und Jakob machen aber deutlich, dass der Begriff des Theaterpublikums weder eine homogene soziale Gruppe beschreibt noch kategorial einheitlich bestimmt werden kann. Jakob empfiehlt daher zwischen einer faktischen, einer empirischen und einer normativen Dimension in den Darstellungen des Theaterpublikums zu unterscheiden. Während in einigen Quellen das Verhalten der Zuschauer vor (und auf) der Bühne direkt beschrieben werde, lasse sich aus Abonnement-, Karten- und Spielplanstatistiken indirekt ein empirisches Bild des Theaterpublikums rekonstruieren. Davon zu unterscheiden sei der oft normative Diskurs über das Theaterpublikum, in dem Verhaltensideale diskutiert werden und der sich in den Dienst des „ästhetisch-erzieherischen Domestizierungsprogramm[s] des Theaterbetriebs“ (37) stelle.

Die von den Herausgebern ausgewählten Quellentexte zeigen aber, dass diese Dimensionen oft zusammenfallen: In den Texten zum Themenkreis „Die Macht des Parterres“ wird eine Zuschauergruppe, die bereits aufgrund ihrer Nähe zum Bühnenbereich privilegiert erschien – das Parterre –, als ästhetische und sittliche Kontroll- und Vorbildfunktion installiert und kritisiert. Wie weit die Realität der kollektiven Rezeption aber von den Verhaltensidealen dieser sozialen Gruppe und den Forderungen der kulturellen Eliten entfernt gewesen ist, deuten die Quellentexte der zweiten Gruppe „Das undisziplinierte Publikum“ an: Lärm und Gelächter im Theater wurden als wesentliche Hindernisse eines angemessenen Kunstgenusses erachtet. Es ist daher naheliegend, dass in etlichen Beiträgen laut über „Strategien der Disziplinierung“ nachgedacht wurde, die bis zu theaterpolizeilichen und juristischen Überlegungen reichten. Zuletzt versammeln die Herausgeber auch solche Quellentexte, die zeigen, dass gerade das Ritual des Beifallgebens „eines der sensibelsten, machtvollsten und zugleich willkürlichsten Instrumente “ (48) der Zuschauerkunst gewesen ist, das es zu ‚veredeln‘ galt.

Umsichtig an der Zusammenstellung des Korpus ist, dass die Herausgeber auch solche Quellentexte in ihre Darstellung aufgenommen haben, in denen einerseits ausländische Korrespondenten (z. B.: Louis-Sébastian Mercier) über deutsche Bühnen, andererseits deutschsprachige Korrespondenten von ausländischen Bühnen berichten. Hieran schließt sich die Frage an, wie sich im englischsprachigen oder französischsprachigen Zeitschriftenwesen die Berichterstattung über einheimisches und ausländisches Theater gestaltet hat. Denn anders als in Deutschland bestand hier bereits eine anhaltende Tradition stehender Theater. Interessant wäre zu erfahren, ob hier die Debatten über das Verhalten des Theaterpublikums ähnlich pädagogisch ausgerichtet waren.

Für die Historische Bildungsforschung ist der von Korte, Jakob und Dewenter sorgfältig zusammengestellte und auskunftsreich kommentierte Dokumentationsband von Bedeutung, weil er Anreize setzt und Möglichkeiten bietet, bildungshistorische Beiträge zu einer Geschichte der ästhetischen Erziehung und Bildung nachzuliefern, die weniger eine medienunspezifische Theoriegeschichte der ästhetischen Erziehung und Bildung fortsetzen, sondern die Rezeptionspraktiken, die diskursive Konstruktion von Zuschauer-, Künstler- und Vermittlerrollen sowie die hiermit verbundenen Machtpraktiken der Disziplinierung von Beifalls- und Missfallensbekundungen sowie der Konsolidierung von Geschmacksurteilen als Formen ästhetischer Erziehung und Bildung im Theater thematisieren.

[1] Grell, H.-J.: Theater. In: Hammerstein, N. / Herrmann, U. (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. München: Beck 2005, 521–532. 522.
Tim Zumhof (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tim Zumhof: Rezension von: Korte, Herrmann / Jakob, Hans-Joachim / Dewenter, Bastian (Hg.): „Das böse Tier Theaterpublikum“, Zuschauerinnen und Zuschauer in Theater- und Literaturjournalen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Eine Dokumentation. Heidelberg: Winter Universitätsverlag 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382536280.html