Judith Haase setzt sich in ihrer 2021 publizierten Dissertationsstudie mit der Frage auseinander, mit welchen Vorstellungen von Kindern und Kindheit und damit auch von KindeswohlgefĂ€hrdungen FachkrĂ€fte in KinderschutzfĂ€llen agieren. Mit ihrer Arbeit möchte sie Impulse zur QualitĂ€tssteigerung von KinderschutzbemĂŒhungen beisteuern â vor allem durch eine Sensibilisierung fĂŒr die stĂ€rkere Beachtung des eigenstĂ€ndigen Erlebens und der umfassenden BedĂŒrfnisse von Kindern.
Ihre Untersuchung platziert Haase in einem von ihr spezifisch abgesteckten Forschungsfeld. Dieses umschlieĂt WissensbestĂ€nde zu den Vorstellungen von Kindern und Kindheit im Kinderschutz und den damit verbundenen Rahmenbedingungen. Die darin enthaltenen deutsch- und englischsprachigen Publikationen sortiert sie anhand der Pole als âabwesendâ und âunsichtbarâ adressierter Kinder einerseits versus Attribuierungen von Kindern als âaktivâ und âkonstruktiv-kompetentâ (28) andererseits. Auch wenn nicht klar ist, inwiefern dieses Sortierschema ihrer Auseinandersetzung mit den Forschungsarbeiten oder/und ihrem theoretischen Rahmen entspringt, liefert es eine hervorragend differenzierte Systematisierung der Randstellung von Kindern in KinderschutzaktivitĂ€ten.
Haase verweist mit ihrer Sortierung darauf, dass Kinder in KinderschutzablĂ€ufen nur selten als âkompetent und fĂ€higâ (43) behandelt werden. Die rare Adressierung von Kindern als âAktiveâ, denen die Möglichkeit eingerĂ€umt wird, auf die Ausgestaltung der KinderschutzmaĂnahmen einzuwirken, kontrastiert Haase mit verschiedenen Marginalisierungsformen, die sie dem Forschungsstand entnimmt: ausbleibende Beachtung der Erlebnisse und Anliegen von Kindern (âdie Unsichtbarenâ), Adressierung nur als verletzliche, passive FĂŒrsorgeempfĂ€nger:innen ohne eigene HandlungsfĂ€higkeit (âdie Bedrohtenâ), Einbindung primĂ€r als reine Informationslieferant:innen (âdie Funktionalisiertenâ) und Fokussierung auf die Probleme, welche die Kinder (vermeintlich) erzeugen und weniger darauf, welche sie haben (âdie Deviantenâ). Diese Adressierungen von Kindern sieht Haase als gerahmt durch verschiedene Kontextaspekte von KinderschutzablĂ€ufen: Konzentration auf das elterliche Problemverhalten und weniger auf âdie von den Kindern gezeigten Problemeâ (45); Wiedererstarken kontrollierender Zugangsweisen zu den Eltern und damit Bedeutungsverluste unterstĂŒtzender Perspektiven; hohe Fallbelastungen der FachkrĂ€fte sowie Reibungsschwierigkeiten und -verluste im Zuge der MultiprofessionalitĂ€t von KinderschutzbemĂŒhungen. Haase kommt zu dem Schluss, dass im gegenwĂ€rtigen Forschungsstand zwar deutlich wird, âwie Professionelle im Kinderschutz [âŠ] an Kinder herantreten, welche Bilder von Kindheit, Elternschaft und GefĂ€hrdung sie herstellenâ; allerdings mangele es an Wissen darĂŒber, âauf welche subjektiven Konstruktionslogiken sie im Blick auf die Kinder zurĂŒckgreifenâ (52). Paradoxerweise ist es gerade Haases elaborierte Skizzierung dieses Forschungsstandes zu den âKindkonstruktionen im Kinderschutzâ (28), die auch den anders gelagerten Eindruck plausibel werden lĂ€sst: nĂ€mlich, dass der empirische Kenntnisstand zu KindheitsbezĂŒgen im Kinderschutz einen doch recht deutlichen Lageeinblick ermöglicht.
Vor dem so abgesteckten Hintergrund entwickelt Haase ihren theoretischen und methodischen Zugang. Ihr Theorierahmen steht auf dem Boden des Sozialkonstruktivismus und ist im VulnerabilitÀtskonzept verankert. Damit bildet Haase die Spannung ab zwischen Elternrechten, staatlichem WÀchteramt und Kinderrechten bzw. greift sie Kindheitsvorstellungen zwischen Entwicklungsbedarf, gegenwÀrtiger Handlungskompetenz und Verletzbarkeit auf.
Vergleichbar zur Forschungsstandaufarbeitung wird allerdings auch beim theoretischen Rahmen der Entstehungshintergrund nicht ganz klar. Zwar zeigt sich eine unverkennbare Verbindung zwischen ihren Untersuchungsbefunden und dem Theoriekonstrukt, das Haase als âein Ergebnis des Forschungsprozessesâ (77) versteht; das VerhĂ€ltnis der deduktiv aus theoretischen Ăberlegungen und induktiv aus der Materialarbeit abgeleiteten Anteile dieses Rahmens wird allerdings nicht systematisch ausgeleuchtet.
Methodisch nĂ€hert sich Haase ihrer Forschungsfrage mittels eines in der Grounded-Theory-Methodologie (GTM) eingewobenen mixed-methods-Ansatzes. Mit Blick auf den Zeitraum von 1984 bis 2014 wertet sie knapp 5.000 Diagnoseakten einer multiprofessionell ausgerichteten âSpezialeinrichtung fĂŒr die Erstellung von qualifizierten Kinderschutzdiagnostikenâ (89) aus. Die univariat-statistische Aktenanalyse dient als erster Zugriff auf das Untersuchungsmaterial. Damit kann Haase zeigen, dass die Diagnosestellung in Kinderschutzverfahren von gesamtgesellschaftlichen und fachspezifischen âKonjunkturenâ (147) abhĂ€ngt und maĂgeblich auf Informationen der Kinder angewiesen ist. Was als interventionsnotwendiges Problem gilt, wird von âdeutungsmĂ€chtige[n] erwachsene[n] Akteur*innenâ (148) festgelegt. Diese richten ihr Augenmerk auf Kinder im Zuge von ihnen vermuteter BeeintrĂ€chtigungen, nicht aber hinsichtlich âihre[r] WĂŒnsche oder Interesse[n]â (148).
Den Kern der Materialarbeit bilden die âvertiefenden Aktenanalysenâ (110) zu 28 KinderschutzfĂ€llen aus den Jahren 2010 bis 2014, die Haase mittels der Kodierschritte der GTM rekonstruktiv analysiert. Sie kommt zum Ergebnis, dass es bei Kinderschutzdiagnostiken primĂ€r darum geht, âdas Kind zum Sprechen [zu] bringenâ (162). Dem seien Prozesse vorgeschaltet, die darauf zielen, âdas Kind zum Fall [zu] machenâ (151), wĂ€hrend nachgelagert âdas Kind beurteil[t]â (206) werde. Quer dazu beobachtet sie in die Ablaufroutinen eingelassene BemĂŒhungen, âdas Kind in den Fokus [zu] rĂŒckenâ (223). Diese Kategorien fĂŒhrt Haase in der umfassenden Kategorie âdas Kind als Kronzeugeâ (227) zusammen. Mit dieser âMetapherâ (227) spitzt sie ihre Beobachtung zu, dass in Kinderschutzverfahren Kindern eine Rolle zukommt, die vergleichbar zu der juristischer Kronzeug:innen ausfĂ€llt: Nah am âTatgeschehenâ von auĂen schwer zugĂ€nglicher Kreise sollen sie auf Basis ihrer Einblicke in von ihnen durchlittenen Situationen mit aussagekrĂ€ftigen und belastbaren Informationen zur âAufklĂ€rung der Sachverhalteâ (228) beitragen, wofĂŒr sie mittels âUnterstĂŒtzungs- und SchutzmaĂnahmenâ (228) aufgefangen werden. Dass Kronzeug:innen juristisch meist als â(Mit-)TĂ€terâ (228) betrachtet werden, fĂŒhrt Haase zwar an und weist dies fĂŒr ihre Verwendung dieser Metapher zurĂŒck; die Frage, ob der ansonsten Ă€uĂerst ĂŒberzeugende Vergleich nicht doch schief ist, erscheint damit allerdings nicht gĂ€nzlich vom Tisch gerĂ€umt.
Der Mehrwert der Studie von Judith Haase liegt weniger darin, Befunde zu produzieren, die im Fachdiskurs bislang unbekannt waren. Der Gewinn entsteht vielmehr dadurch, dass sie die vom Grunde her bekannte Marginalisierung von Kindern â auch in Kinderschutzverfahren â durch ihr methodisch bestechendes Vorgehen als empirisch gesicherten Wissensbestand untermauert und in seinen Ziselierungen verdeutlicht. Sie zeigt unmissverstĂ€ndlich auf, dass die Belange, Stimmen und Interessen von Kindern auch dort keinesfalls zwangslĂ€ufig im Vordergrund sind, wo es sich um institutionalisierte Prozesse zur Sicherung ihres Wohls handelt â auch nicht an den Stellen dieser Prozesse, an denen sie explizit âins Zentrum [gestellt]â (234) werden.
Besonders eindrĂŒcklich ist der von Judith Haase durchgĂ€ngig und elegant ausgefĂŒhrte BrĂŒckenschlag zwischen der an generationaler Ordnung interessierten (âneuenâ) Kindheitsforschung und der auf die Lage von Adressat:innen bzw. Nutzer:innen blickenden sozialpĂ€dagogischen Hilfeforschung. Sie kann damit Kinder in Kinderschutzverfahren als zweifach Marginalisierte charakterisieren: als Erwachsenen generational untergeordnete Kinder und als âLaienâ (237), die in Hilfeprozessen der Macht Professioneller unterstehen. Durch diese Brillen betrachtet werden somit zum einen die Schutz- und Beteiligungsrechte von Kindern durch Erwachsene gegeneinander ausgespielt. Zum anderen ist in den standardisierten DiagnoseablĂ€ufen keine systematische Gelegenheitsstruktur installiert, um die âspeziellen Sorgen und WĂŒnscheâ dieser spezifischen Adressat:innengruppe aufzugreifen bzw. âindividuelle Anpassungen des Verfahrensâ (239) vorzunehmen.
Es bleibt zu hoffen, dass die von Haase ausblickend aufgeworfenen Fragen in dem von ihr interdisziplinĂ€r abgesteckten Feld einer âsozialpĂ€dagogischen Kindheitsforschungâ (261) tatsĂ€chlich verfolgt werden: so die Frage nach den âKonstruktionen im Blick auf die Eltern oder die involvierten externen Fachpersonenâ (263). Vor dem Hintergrund teilweise stigmatisierender Elternbilder bzw. klischeehafter Vorstellungen jeweils âandererâ Professionsgruppen in multiprofessionellen Hilfeprozessen erscheint dies als hochgradig relevant.
EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)
Das Kind als Kronzeuge
Professionelle Konstruktionen des Kinderschutzkindes
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021
(282 S.; ISBN â978-3-7799-6544-2; 39,95 EUR)
Maksim HĂŒbenthal (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Maksim HĂŒbenthal: Rezension von: Haase, Judith: Das Kind als Kronzeuge, Professionelle Konstruktionen des Kinderschutzkindes. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/%E2%80%8E978377996544.html
Maksim HĂŒbenthal: Rezension von: Haase, Judith: Das Kind als Kronzeuge, Professionelle Konstruktionen des Kinderschutzkindes. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/%E2%80%8E978377996544.html