Über Nietzsches Bildungsphilosophie nachzudenken und ein neu erschienenes Werk zu rezensieren, das verlangt eine generelle Vorbemerkung: Wer Nietzsche liest, wird immer begeistert davon sein, wieviel wir von diesem Autor lernen können. Wenn PädagogInnen Nietzsche lesen, sind sie früher oder später sicher, dass ihre SchülerInnen mit Nietzsche in Kontakt kommen müssen: um etwas von einer inneren Freiheit zu ahnen, die sie sich zwar selbst erkämpfen müssen, die ihnen aber Nietzsche zeigen kann. Taugt Nietzsche also als Pädagoge? Man ist versucht zu sagen: Ja und Nein. Ja: Nietzsches ganzes denkerisches Programm hat erzieherischen Anspruch und hat eine nicht zu überschätzende Wirkung. Andererseits nein, Nietzsche ist kein Pädagoge. Er lässt sich nicht als Teil eines staatlichen Erziehungsprogramms vereinnahmen. Er richtet sich direkt an seine Zuhörerinnen. Er fordert sie auf, sich selbst in einer denkbar radikalen Weise zu überwinden. Und das heißt zugleich: die eigene Sozialisation zu überwinden, also die restriktive Normalität, die wir alle vorfinden und die wir uns angeeignet haben. Und zu dieser gehört auch der jeweils herrschende Bildungsbegriff. Uns scheint daher: Nietzsche als Pädagogen zu lesen, ist das Zeichen für einen scharfen Geist, aber nur bis zu einem gewissen Grade. Wir können Nietzsche nicht in Kompetenzen übersetzen, ohne sein Denken dabei zu töten.
Wie gehen Mark E. Jonas und Douglas W. Yacek in ihrer Darstellung von Nietzsches Bildungsphilosophie mit dieser Ausgangslage um? Die Autoren schreiben weniger für den bildungsphilosophischen Theoriediskurs und eher orientiert an der Praxis, also bezogen auf die tatsächlichen Praktiken, Ziele und Herausforderungen der konkreten Bildungsarbeit. Das erschwert die Einordnung des Buchs im bildungsphilosophischen Diskurs. Jonas/Yacek lieben Nietzsche, sie lieben die Arbeit mit Studierenden und SchülerInnen und wollen zeigen, wie Nietzsches Denken diese Arbeit verbessern kann. Dazu räumen sie auf mit dem Vorurteil, Nietzsche sei faschistisch und antidemokratisch, er sei elitär und mitleidslos (1ff., 99ff.). Vier Themen werden in je einem fachphilosophischen und in je einem auf Bildung bezogenen Kapitel rekonstruiert, aufgearbeitet und für die Praxis im Klassenzimmer zugänglich gemacht: Erstens (Kap. 1 und 2) „Perspektivismus“. Dieser steht für ein Programm des Abschieds von jedem „big picture“. Und er steht für Toleranz und perspektivische Empathie. Zweitens (Kap. 3 und 4) „Selbstüberwindung“. Diese steht für ein Programm der Entwicklung jenseits von Anpassung, für das Hervorbringen von etwas ganz Eigenem. Und sie steht für den Abschied von der Kuschelpädagogik, für die Bereitschaft, am Lernen auch zu leiden. Drittens (Kap. 5 und 6) „Rangordnung“. Diese steht für ein Programm des höheren Menschen, der in jeder und jedem von uns steckt. Und sie steht für eine neue pädagogische Kultur des Wetteiferns diesseits der agonalen Competitiveness. Viertens (Kap. 7 und 8) „Großzügigkeit und Dankbarkeit“. Diese stehen für ein Programm der Überwindung des Ressentiments und der Entwicklung eigener menschlicher Größe. All das wird in der Auseinandersetzung mit Nietzsches Texten und mit zahlreicher Sekundärliteratur gewonnen. Es wird immer wieder auf die Arbeit im Klassenzimmer bezogen und in Teilzusammenfassungen vergegenwärtigt, schließlich in einem letzten Kapitel zusammengeführt. Die 22-zeilige Übersicht, welche die vier Themen zum Schluss auf einen Blick formelhaft zeigt, lässt uns spontan überlegen, ob wir sie nicht als Slide für die nächste Lehrerfortbildung verwenden sollen. Als LeserInnen und RezensentInnen sehen wir, dass diese didaktische Elementarisierung eigentlich etwas Gutes ist – und dass dabei dennoch etwas fehlt.
Was so gut ist und was dennoch fehlt, das lässt sich am Beispiel „Selbstüberwindung“ (insb. Kap. 4) darstellen. Jonas/Yacek bringen Nietzsche hier in Stellung in der Bildungsdebatte über das richtige Maß an streng fordernder versus empathischer Lehrkraft (92ff.). Mit Nietzsche müsse man, so Jonas/Yacek, dafür argumentieren, dass Bildung auch den Umgang mit Widerständen meine. Studien hätten gezeigt, dass Lehrkräfte ihre SchülerInnen zu schnell bemitleiden (95). Das Moment des Leidens sei notwendig, ja konstitutiv für den Schaffensprozess und die Selbstüberwindung. Wirklich selbständig mit einem Problem umgehen zu können, das setze für SchülerInnen die Erfahrung von überwundenen Widerständen und überwundenem Leiden voraus. Eine mitleidende Lehrkraft, die Hindernisse aus dem Weg räume, schaffe nicht die Bedingungen für Autonomie. Und Autonomie ist mehr als Selbständigkeit: Die SchülerInnen müssen, so Jonas/Yacek folgerichtig, sich immer im Möglichkeitshorizont des Über-sich-Hinauswachsens verstehen lernen (91). Willensschwache Konformisten seien das Ziel einer von Nietzsche kritisierten formalen höheren Bildung, wie er sie selbst genossen habe (90f.). Das Ziel einer Bildung in Nietzsches Sinn seien Menschen, die gelernt haben, sich selbst zu bestimmen. Die Lerngegenstände und die Lernkultur müssten daher, anders als an Universitäten und Schulen damals wie heute üblich, diesem Ziel dienen: einer Bildung als Selbstüberwindung, einer Bildung als wirklich unabhängiges, schöpferisches und neues Denken und als lebendige Lust an eigenen Zielen. „This means that the teacher’s role is to find ways of developing a culture of self-mastery and the desirability of suffering in the classroom” (96).
Dies alles ist richtig und Jonas/Yacek verankern im Geiste Nietzsches auf die am Beispiel Selbstüberwindung geschilderte Weise weitreichende, komplexe und mitunter provozierende Bildungsziele in philosophischer Tiefe: Autonomie und Emanzipation (Kap. 3 und 4), Empathiefähigkeit und Toleranz (Kap.1 und 2), Mut zum eigenen Urteil und Lust am Besserwerden (Kap. 5 und 6), schließlich die Überwindung des Ressentiments und der eigenen Enge als wirkliche Großzügigkeit, Großherzigkeit und Dankbarkeit (Kap. 7 und 8). Viele dieser Ziele sind bekannt, aber finden sich in unseren Praktiken im Bildungskontext nur in verflachter Form, etwa die Toleranz („relativistic conversations“, 55). Jonas/Yacek möchten sie durch Nietzsches Perspektivismus wieder radikaler denken und praktizieren und plädieren für eine „pedagogy of perspectival empathy“ (54). Andere Ziele, wie die Selbstüberwindung als Teil eines durch Leid hindurchgehenden Schaffensprozesses (Kap. 3 und 4), sind unkonventionell. Das gilt wohl auch für die Selbstüberwindung im Sinne des immer wieder zu erringenden Sieges über die eigene Kleinheit, die „Befreiung“ von Neid und Missgunst und die „Befreiung“ zu einer liebenden Dankbarkeit und Souveränität (Kap. 7 und 8). Jonas/Yacek sprechen hier von „cultivating a disposition of gratitude” (157).
Dies alles sind Stärken des Buchs. Doch bei der Lektüre ergab sich für uns der Eindruck, dass Jonas/Yacek Nietzsche allzu bruchlos ins Klassenzimmer hinein verlängern möchten. Und dass sie dabei die Radikalität der Forderungen Nietzsches unterschätzen. Die Autoren, so unser Eindruck, verschweigen, wie wenig unsere Praktiken im Bildungskontext und wie wenig wir jeweils selbst dem entsprechen, was wir eigentlich tun und sein könnten. Und uns schien, dass die Reflexion dieses zentralen Anliegens Nietzsches, dieser Kluft und dieser Vision, was noch alles möglich sein sollte, dem Buch fehlt. Erneut das Beispiel der Selbstüberwindung: Im Zarathustra heißt es: „Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein wollen und der Schmerz der Gebärerin. Wahrlich durch hundert Seelen ging ich meinen Weg und durch hundert Wiegen und Geburtswehen“ [1]. Nietzsche spricht hier, wie an vielen anderen Stellen, von einer andauernden schmerzhaften Transformation im Schaffensprozess, die man nicht einfach „machen“ kann. Doch Jonas/Yacek möchten, dass Studierende und Lernende „become stronger, more disciplined and more powerful“ (96).
Lehrkräfte bekommen den Rat: „They must practice amor fati […] in front of students, so students can then see that overcoming oneself includes overcoming their circumstances just as they are, not how they wish they would be“ (97). Nietzsche für die Arbeit im Klassenzimmer zu übersetzen, das ist typisch für Jonas/Yacek, aber ist es auch immer die angemessene Rezeption Nietzsches? Müssen wir uns, so fragt man sich bei der Lektüre des Buchs, nicht erst einmal durch Nietzsches Radikalität die Augen dafür öffnen lassen, wie sehr wir als AkteurInnen im Bildungssystem und auch als Schaffende laufend scheitern? Taugt Nietzsche also als Pädagoge?
Wir meinen, ja: SchülerInnen und Studierende sollen unbedingt mit Nietzsche in Kontakt kommen. Und auch nein: nicht lediglich als Missing Link zu besserem Unterricht und zu besserer Bildung. Sondern immer auch als Fingerzeig in eine Wahrheit, die uns in ihrer Fremdheit wie von ferne bekannt vorkommt, die uns aber vor allem zeigt, wie weit wir von ihr entfernt sind. Nietzsche pädagogisch zu lesen, das ist auch anders möglich. Christian Niemeyer etwa versucht, Nietzsche gegen die Linie einer, „bagatellisierenden und um die Systematik seines Denkens bringenden Lesart“ zu verteidigen [2], indem er z.B. Martha Nussbaum ein verkürztes Verständnis von Nietzsches Lebenskunst vorwirft oder empfiehlt, die Provokation des Übermenschen nicht vorschnell einzuebnen und diese gegen den Transhumanismus zu verteidigen. Niemeyer warnt vor der Gefahr, „am Ende den Geistesheroen Nietzsche nur noch als Steinbruch verfügbar zu haben“. Jonas/Yacek entgehen dieser Gefahr nicht. Andererseits haben sie den Mut, Nietzsches Denken auf die sehr konkreten und praktischen Fragen des Alltags im Bildungssystem zu beziehen.
[1] Nietzsche, Friedrich (1988): Zarathustra II, Auf den glückseligen Inseln, KSA 4. Berlin: DeGruyter, S. 111.
[2] Niemeyer, Christian (2016): Nietzsche als Erzieher. Pädagogische Lektüren und Relektüren. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, hier S. 247, S. 228/232ff., S. 241ff. und S. 213 (in der Reihenfolge der Nennung).
EWR 18 (2019), Nr. 2 (März/April)
Nietzsche’s Philosophy of Education
Rethinking Ethics, Equality and the Good Life in a Democratic Age
London: Routledge 2019
(195 S.; ISBN 978-1138544512; 124,27 EUR)
Philipp Thomas, Jelena Dojčinović (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Thomas, Jelena Dojčinović: Rezension von: Jonas, Mark E. / Yacek, Douglas W.: Nietzsche’s Philosophy of Education, Rethinking Ethics, Equality and the Good Life in a Democratic Age. London: Routledge 2019. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/1138544512.html
Philipp Thomas, Jelena Dojčinović: Rezension von: Jonas, Mark E. / Yacek, Douglas W.: Nietzsche’s Philosophy of Education, Rethinking Ethics, Equality and the Good Life in a Democratic Age. London: Routledge 2019. In: EWR 18 (2019), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.05.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/1138544512.html